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# taz.de -- Voreingenommene Ermittlungen?: Bis aufs Messer
> Ein Neonazi, zwei Antifas, drei Schwerverletzte. Bald stehen die beiden
> Linken vor Gericht, dabei gibt es noch eine Version jenes Abends im April
> 2024.
Bild: Tatort Spielplatz: Hier in Berlin-Pankow fand die Polizei den blutenden N…
Am Ende ist da Blut, viel Blut. Eine Lache im Hausflur des graugetünchten
Mietshauses im Nordberliner Stadtteil Pankow. Eine Blutspur von rund 200
Metern, die sich bis auf die Straße zieht, über einen Spielplatz hinweg, um
eine weitere Ecke bis zu einer Brücke. Am 18. April 2024, ein Donnerstag,
kurz nach 20 Uhr, liegen dort zwei Schwerverletzte, beide Antifaschisten.
Auch sie umgibt eine Blutlache, sie haben tiefe, bis zu 15 Zentimeter lange
Messerstiche in der Brust, im Oberschenkel und am Handrücken. Ein weiterer
Schwerverletzter sitzt auf dem Spielplatz, ein Neonazi von der
Splitterpartei III. Weg. Auch er mit Verletzungen, darunter einer
klaffenden Schnittwunde am linken Unterschenkel.
An jenem Abend waren es alarmierte Polizisten, die den drei Verletzten
Druckverbände anlegten und sie so wohl vor dem Verbluten retteten. Alle
drei Männer mussten operiert werden. Polizisten fanden im Flur des Pankower
Mietshauses die Waffe, die das Blutbad verursachte: ein schwarzes
Klappmesser, blutverschmiert.
Sicherheitsbehörden und Medien ordneten die Auseinandersetzung schnell als
neuen Höhepunkt linksextremer Gewalt ein. Ein Angriff militanter
Antifaschisten auf einen Rechtsextremen. Eine Eskalation. Das
Boulevard-Blatt BZ schrieb, es seien drei Linke gewesen, die auf den
Neonazi „eingestochen“ haben sollen, einer sei flüchtig. Die Bild
spekulierte über einen Angriff der linken „Hammerbande“, weil nahe des
Tatorts auch ein Stoffbeutel mit einem Hammer gefunden worden sei. Als
„[1][Hammerbande]“ wird die frühere Antifa-Gruppe um die Leipzigerin Lina
E. bezeichnet, die mehrere schwere Angriffe auf Neonazis verübte, teils
auch mit Hämmern.
Und auch die Parteifreunde des Neonazis vom III. Weg reihten sich ein und
sprachen von „politischem Terror“. Dann hörte man lange nichts.
## Umsetzung einer rechten Strategie?
Am 8. Dezember wird nun aber vor dem Amtsgericht Tiergarten ein Prozess zu
der Attacke von Pankow beginnen. Und die Anklage schließt sich dem ersten
Eindruck der Medien und des Neonazis an: Sie richtet sich laut Gericht und
Staatsanwaltschaft ausschließlich gegen die beiden Antifaschisten.
Doch vieles spricht dafür, dass sich die Situation auch anders zugetragen
haben könnte, als es Boulevardmedien und Staatsanwaltschaft verbreiten. Die
taz hat die Ermittlungen nachvollzogen, mit Zeugen gesprochen und sich vor
Ort in der Nachbarschaft kundig gemacht. Demnach gibt es Hinweise darauf,
dass an jenem Abend der Neonazi das Messer geführt und zugestochen haben
könnte – und nicht die Antifaschisten.
Am Tatmesser gibt es nach taz-Informationen keine Fingerabdruckspuren, von
keinem der Beteiligten. Es waren die Anwälte der angeklagten
Antifaschisten, die auf eine Untersuchung des Messers in den Ermittlungen
drängten – um zu zeigen, dass es dem Neonazi gehört habe. Der wiederum war
am Tatabend den Antifaschisten noch bis auf einen Spielplatz
hinterhergejagt. Fragen der Ermittler, wem das Tatmesser gehörte und wer es
einsetzte, ließ er unbeantwortet. Seine Wohnung wurde bis heute, anders als
bei den Antifaschisten, nicht durchsucht. Nach Willen der Anklage soll er
straffrei bleiben, weil er in Notwehr gehandelt habe.
Dabei spricht einiges dafür, dass der Neonazi nicht unvorbereitet in diesen
Abend ging. Die schweren Stichverletzungen könnten auch Umsetzung einer
Strategie sein, welche die Neonaziszene seit einiger Zeit explizit ausgibt:
einen tödlichen Ausgang bei Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner
– unter Ausnutzung von Notwehrsituationen – herbeizuführen.
## Die Ermittlungsarbeit? „Ein Skandal“
Lukas Theune und Martina Arndt, die Anwält*innen der Antifaschisten,
sehen es genau so. „Die Ermittlungen wurden so voreingenommen und so zu
Lasten der Angeklagten geführt, wie ich es selten erlebt habe“, kritisiert
Theune. „Unsere Mandanten hatten nichts mit dem Messer zu tun.“ Die
Ermittlungsarbeit sei „ein Skandal“.
Die Berliner Staatsanwaltschaft sieht es anders. Sie wirft den beiden
Antifaschisten eine gemeinschaftliche, schwere Körperverletzung vor.
Zusammen mit einem geflüchteten und bis heute unbekannten Mittäter hätten
die beiden Männer, Anfang dreißig, politisch motiviert, den Neonazi an
besagtem 18. April 2024 im Flur seines Hauses aufgelauert, unvermittelt auf
den 24-Jährigen eingeprügelt und mit einem Messer auf ihn eingestochen.
Dann habe sich die Auseinandersetzung vor die Haustür verlagert, auf den
benachbarten Spielplatz. Selbst als der Neonazi schon am Boden lag, sei er
noch mit einer Glasflasche auf den Hinterkopf geschlagen und mit Reizgas
besprüht worden, so die Anklage.
Die Verletzungen der Antifaschisten – darunter ein potentiell
lebensgefährlicher Stich in die Brust und ein Schnitt in den Oberschenkel –
und wie es zu diesen kam, erwähnt die Anklage nach taz-Informationen
dagegen nicht. Als Opfer wird der Rechtsextremist geführt, der im Prozess
auch als Nebenkläger teilnehmen wird. Die Anklage hält fest: Sofern er es
war, der die beiden Antifaschisten so schwer verletzte, habe er dies aus
Notwehr getan – und bleibe damit straffrei.
Der Neonazi, ein Bauarbeiter, ist schon seit Jahren in der rechtsextremen
Szene aktiv. Fotos zeigen ihn zwischen 2019 und 2021 bei Aktionen der
„Jungen Nationalisten“, dem Jugendverband der NPD, die heute als „Heimat�…
firmiert. Später tauchte er bei Aufmärschen des III. Wegs auf, teils im
grünen Pullover der Partei – nicht nur in Berlin, sondern auch in Sachsen,
Thüringen, Bayern. Er zählt zu den Umtriebigsten der Partei. Bilder zeigen
ihn immer wieder bei Kampfsporttrainings, auch in öffentlichen Parks und
Sportanlagen, teils mit Jugendlichen.
## Es bleibt nicht beim Training
Das ist beim III. Weg Strategie. Die Partei zielt auf jugendlichen
Nachwuchs – und auf Drill mittels Kampfsport. Sie gehört zu den extremsten
in Deutschland, wurde 2013 von einstigen Kameradschaftlern gegründet, um
Verbote zu umgehen. Das Programm des III. Wegs lehnt sich an die NSDAP an.
Ein Leitbegriff ist dabei immer wieder: der politische Kampf. Die „deutsche
Kultur“ werde „auch mit der Faust“ verteidigt, eine eigene
Arbeitsgemeinschaft heißt „Körper und Geist“. Auf Zeltlagern veranstaltet
die Partei frühmorgendliche Appelle und Boxkämpfe. Vor allem der
Parteinachwuchs, die „Nationalrevolutionäre Jugend“ (NRJ), wird hier
gedrillt. Es sind diese Kreise, in denen sich der 24-Jährige aus Pankow
bewegt.
Und es bleibt nicht beim Training. Immer wieder fallen Mitglieder des III.
Wegs und der NRJ mit Gewalt auf der Straße auf. In Berlin attackierten
Parteianhänger im Juli 2024 am Bahnhof Ostkreuz junge Linke mit
Schlagstöcken, Holzknüppeln und Pfefferspray auf dem Weg zu einer Demo
gegen rechts. Zwei Opfer, 15 und 39 Jahre alt, mussten ins Krankenhaus.
Ende Mai dann versuchten laut Zeugen acht Vermummte mit Bezug zum III. Weg
in eine linke Kneipe mitten im Berliner Szenekiez Friedrichshain, in der
Rigaer Straße, einzudringen – bewaffnet mit Hämmern und Schlagstöcken. Und
im Juni überfielen Vermummte ein Vielfalts-Fest in Bad Freienwalde in
Brandenburg, hier wurden zwei Menschen verletzt. Der einzige Beschuldigte,
den die Staatsanwaltschaft bisher ermitteln konnte: ein Aktivist vom III.
Weg.
Auch der Verfassungsschutz in Brandenburg attestiert der Partei und ihrem
Nachwuchs in seinem Bericht für 2024: „Unter dem Vorwand der
Selbstverteidigung befürwortet die ‚NRJ‘ Gewalt gegen politische Gegner.“
Bundesweit falle vor allem die Parteijugend in Berlin und Brandenburg
„durch ihr aggressives Auftreten“ und „wiederholt provokative Aktionen
gegen (vermeintliche) politische Gegner“ auf. In mehreren Fällen sei sie
„an gewaltsamen Auseinandersetzungen“ beteiligt gewesen.
## Mehrfach tatverdächtig
Nach taz-Informationen war auch der 24-jährige Neonazi aus Pankow bereits
bei mehreren Vorfällen Tatverdächtiger. Er soll mit anderen vom III. Weg im
Juli 2023 Teilnehmende eines CSDs in Berlin bedroht haben, teils mit
Flaschen in den Händen, wie es auf dem antifaschistischen Recherche-Blog
„[2][Aus dem Weg]“ heißt. Fotos des Vorfalls lassen für Außenstehende ke…
eindeutige Identifizierung zu.
Ein Jahr später wurde ein öffentliches Kampftraining von ihm und
Parteifreunden in Berlin-Lichtenberg von der Polizei beendet –
beschlagnahmt wurde ein Springmesser. Und im Mai erwischte die Polizei den
24-Jährigen dann mit einem unerlaubten Tierabwehrspray. Einen Strafbefehl
von 40 Tagessätzen zu je 50 Euro bekam er dafür, also 2.000 Euro. Eine
Anfrage zu den Vorwürfen ließ sein Anwalt unbeantwortet.
Auch am Abend des 18. April 2024 kam der Mann offenbar vom Kampfsport. Nach
taz-Informationen trug er einen Rucksack, darin Boxhandschuhe und III.
Weg-Bekleidung. Wie die Antifaschisten auf ihn aufmerksam wurden, woher sie
seine Adresse kannten, ist ungeklärt. Schon länger aber veröffentlichten
antifaschistische Recherche-Blogs Fotos von Aktivitäten des III. Wegs, auch
von dem 24-Jährigen, der dort als „Kader“ der Szene bezeichnet wird. Die
beiden Antifaschisten werden von Behörden der linksradikalen Szene
zugerechnet. Einer soll an einer Besetzungsaktion beteiligt gewesen sein,
der andere Boxerfahrung haben. Klar ist nur – anhand der Blutspuren und
ihrer Verletzungen –, dass sie schließlich im Flur des Wohnhauses des
Neonazis standen.
Warum und was genau dort geschah, dazu schweigen die beiden Antifaschisten
bisher. Zeugen zu der Situation im Hausflur gibt es offenbar nicht. Deshalb
gibt es bisher nur eine Version der Vorgänge: die des Neonazis. Nach
taz-Informationen schilderte er den Ermittlern über eine schriftliche
Erklärung seines Anwalts den Tatverlauf – genau so, wie er nun in der
Anklage steht. Die Angreifer hätten sich in seinem Haus hinter einer Ecke
versteckt, es seien sogar vier bis sechs Personen gewesen. Dann sei alles
schnell gegangen. Ohne eine Äußerung seien sie auf ihn losgegangen, es habe
einen längeren Kampf gegeben, bis jemand „Abbruch“ gerufen und Pfefferspray
gesprüht habe. Dann habe sich der Kampf vor die Haustür und auf den
Spielplatz verlagert. Er habe versucht, einen Täter festzuhalten, habe aber
weiter Schläge und Tritte eingesteckt. Die Angreifer seien dann geflüchtet,
er habe sich auf eine Bank gesetzt. Alles sei sehr chaotisch gewesen.
## Wer führte das Messer?
Auf die explizite Frage der Ermittler aber, wer das Messer führte und wem
es gehörte, dazu sollen er und sein Anwalt nichts geantwortet haben.
Auch die Ermittlungen konnten das nicht klären. Zwar fanden sich an dem
Messer Blutspuren von allen drei Beteiligten. Wem die Tatwaffe aber
letztendlich gehörte, blieb offen. Erst nachdem die Verteidiger der
Antifaschisten mehrmals darauf gedrängt hätten, sei das Messer auf
Fingerabdrücke untersucht worden. Entsprechende Spuren konnten da aber
nicht mehr festgestellt werden.
Nach taz-Recherchen gibt es aber Zeugen, die zumindest das Ende der
Auseinandersetzung auf dem Spielplatz beobachteten. Ein Anwohner filmte
sogar das Geschehen von seinem Balkon aus. In dem kurzen Video ist zuerst
ein Gerangel zwischen dem Neonazi und drei schwarz Gekleideten zu sehen.
Dann rennen die Vermummten, teils humpelnd, davon – und der Neonazi
hinterher. Er verfolgt die Vermummten durch ein Zauntor bis auf einen
Spielplatz, wirft irgendwann seinen Rucksack ab, so, als würde er sie noch
schneller einholen wollen. Ein weiterer Zeuge habe einen Ausruf gehört:
„Ich werde dich töten.“ Unklar, von wem.
Der Anwalt des Neonazis, Matthias Bauerfeind, reagierte nicht auf Anfragen
der taz. Auch Bauerfeind ist indes kein Unbekannter: [3][Der Anwalt aus
Bayern ist selbst Teil des III. Wegs], stand dort auch schon hinterm
Rednerpult, war früher bei der NPD aktiv.
Für Lukas Theune, der einen der Angeklagten verteidigt, spreche nach
Aktenlagen dagegen viel dafür, dass es der Neonazi war, der das Messer
eingesetzt habe. „Es war wohl sein Messer. Es gibt daran keine
Fingerabdrücke unserer Mandanten.“ Warum aber waren die Angeklagten in dem
Hausflur? Das werde der Prozess klären müssen, sagte Theune der taz. „Aber
selbst wenn sie einem der gefährlichsten Neonazis von Berlin eine Ansage
hätten machen wollen, rechtfertigt das keinen lebensgefährlichen Angriff
mit einem Messer.“ Und die schwere Verletzung des Neonazis? Die, so Theune,
dürfte er sich selbst bei seinem Angriff zugefügt haben. Theune weist
darauf hin, dass die rechtsextreme Szene sich genau auf ein solches
Szenario wie in Pankow lange vorbereitet hatte. „Der eine Stich erfolgte
wie trainiert in den Oberschenkel, wo eine Hauptarterie verläuft. Unsere
Mandanten hätten sterben können.“
## Rechte Pläne, Linke zu töten
Ob sich der Neonazi auch selbst verletzt haben könnte, ist aus
medizinischer Sicht offen. Als übliches Tatmittel militanter
Antifaschist*innen galten Messer bisher jedenfalls nicht – anders als
bei Neonazis. Dafür setzten Autonome zuletzt aber durchaus Schlagstöcke
oder auch Hämmer ein. Ein Hammer soll in einem Beutel in der Nähe der
verletzten Antifaschisten gefunden worden sein.
Zwischenzeitlich rekonstruierten die Ermittler nach taz-Informationen eine
weitere Version des Ablaufs, nach der die Antifaschisten den Neonazi mit
einem Hammer und Fäusten im Hausflur attackiert hätten. Worauf der Neonazi
es gewesen sei, der ein Messer zog und damit die Antifaschisten verletzt
habe. Einem der Angeklagten sei es dann gelungen, dem Neonazi das Messer zu
entreißen, meinen die Ermittler. Er habe den nach ihm tretenden Neonazi
damit am Unterschenkel verletzt und das Messer fallen lassen. In der
finalen Anklage aber ist nur noch die Rede davon, dass die beiden
Antifaschisten das Messer besaßen und einsetzten.
Wofür es Belege gibt: In der rechtsextremen Szene wurde sich schon länger
auf solche Angriffe von Linksradikalen vorbereitet, auch mit Plänen, in
solch einem Fall Linke zu töten.
2016 hatten Rechtsextreme in Leipzig-Connewitz die Wolfgang-Heinze-Straße
gestürmt und dort Geschäfte und Passanten angegriffen. Eine Gruppe
Linksradikaler um die Leipziger Lina E. und Johann G. antworteten ab 2018
mit militanten Überfällen auf Neonazis in Thüringen und Sachsen. Lina E.
und drei Mitangeklagte wurden dafür im Jahr 2023 zu bis zu gut fünf Jahren
Haft verurteilt. Johann G. war da noch flüchtig – in Kürze wird er nun in
Dresden vor Gericht stehen. Im Februar 2023 gab es zudem Attacken auf
Rechtsextreme in Budapest, wo sich alljährlich Neonazis aus Europa zu einem
Großaufmarsch versammeln. Eine in dem Fall Beschuldigte, Hanna S., wurde
zuletzt in München zu fünf Jahren Haft verurteilt. Gegen eine weitere
beschuldigte Person, [4][Maja T., läuft in Ungarn ein Prozess. Bis zu 24
Jahre Haft drohen T].
## Das Szenemagazin heißt NS Heute
In der rechtsextremen Szene wurde nach den Angriffen Rache geschworen.
Schon 2021 äußerte sich etwa der Thüringer Szenekader Thorsten Heise,
damals wie heute Bundesvizechef der NPD/Heimat, ebenso wie der damalige
Thüringer NPD/Heimat-Funktionär Patrick Wieschke, der forderte:
„Deutschland braucht jetzt keine Tastaturkrieger mehr, sondern Männer.“
Tatsächlich hatte der Eisenacher Neonazi Leon R. bereits bei einem der
Angriffe durch die Gruppe um Lina E. ein Messer gezogen. Die Antifas ließen
daraufhin von ihm ab, griffen aber noch drei Rechtsextreme an, die Leon R.
zu Hilfe eilen wollten. Später standen Leon R. und seine Kampfsportgruppe
„Knockout51“ selbst vor Gericht. Die Bundesanwaltschaft warf ihnen vor,
gewaltsame Auseinandersetzungen mit Linken gesucht zu haben. Im Herbst 2021
habe die Neonazi-Gruppe auch über die Möglichkeit eines weiteren Angriffs
auf Leon R. sinniert – mit dem Plan, einen solchen „für einen tödlichen
Gegenangriff zu nutzen“.
Der Messereinsatz von Leon R. wurde in der Neonaziszene rege diskutiert.
Ende 2022 sprach etwa der langjährige Berliner NPD/Heimat-Aktivist
Sebastian Schmidtke in einem Video-Interview im Zusammenhang mit Angriffen
von Antifaschist*innen darüber, dass Messer etwas seien, vor dem es
einen gewissen Respekt gebe. „Was jeder jetzt daraus macht, muss jeder
selber wissen“, sagt Schmidtke dazu. An anderer Stelle erklärte er, ein
Messer sei eine Sache, „die zumindest erst mal für jeden einzelnen
interessant sein könnte, für seine Umgangsformen, wie er nach draußen
geht“.
Noch weiter angeheizt wurde die Szenedebatte im Neonazimagazin NS Heute.
Das Blatt ist subkulturell und organisationsübergreifend ausgerichtet und
gilt als Stichwortgeber der deutschen Neonaziszene. Auch Parteimitglieder
des III. Wegs treten als Autoren auf, die Partei veröffentlicht Schriften
im gleichen Verlag. In Beiträgen aus den Jahren 2021 und 2023 hieß es in
dem Magazin: Man müsse dafür sorgen, dass aus jedem weiteren Angriff von
links „ein Desaster“ werde. Und damit, so der Autor, sei „sicherlich nicht
die kurzzeitige Festnahme durch die Polizei gemeint, sondern ein richtiges
Desaster“. Es war ein Aufruf, wie er so unverhohlen lange nicht mehr in der
Szene verkündet wurde. Versehen wurde er mit einem expliziten Hinweis: Man
müsse schauen, „wie das Notwehr- und Nothilferecht bei konkreten Überfällen
am effektivsten anzuwenden ist“. Es sei dieser gesetzliche Rahmen, „den wir
ausschöpfen können und sollten“.
## „Wie ein Löwe“
Das liest sich wie eine Anleitung für das, was am Abend des 18. April 2024
in Pankow passiert sein könnte.
Ob sich der 24-jährige Neonazi aus Pankow auf einen möglichen Angriff
vorbereitete, auch dazu lässt sein Anwalt eine taz-Anfrage unbeantwortet.
Aber klar ist, dass er an jenem Aprilabend auf seine Kampfsporterfahrung
bauen konnte. Die Neonazi-Partei III. Weg schlachtete dies nach der
blutigen Auseinandersetzung direkt aus. Bei ihm seien die Angreifer „an den
Falschen geraten“, verlautbarte die Partei. Er habe sich „wie ein Löwe
gegen die rote Bande verteidigt“. Und die Partei kündigte Rache an: „Die
Reaktionen darauf werden die Entsprechenden sein.“
Dass es zu dieser Rache bisher nicht kam, hat wohl auch mit der Polizei zu
tun. Schon kurz nach der Tat sollen Beamte nach taz-Informationen den
Neonazi ermahnt haben, keine Vergeltung zu üben. Die gleiche Ansage soll es
auch für mindestens einen engen Parteifreund gegeben haben.
Verteidiger Lukas Theune dagegen kritisiert scharf, dass gar nicht geprüft
worden sei, ob der Neonazi in Notwehr gehandelt habe. „Das wird einfach
behauptet.“ Ein Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft sagte der taz, wer
bei der Tat wann welche Verletzungen verursachte und ob der 24-Jährige
dabei in Notwehr handelte, sei letztlich „durch die Hauptverhandlung zu
klären“. Zudem verwies der Sprecher darauf, dass es parallel auch noch ein
Verfahren gegen den 24-Jährigen wegen der Auseinandersetzung gebe – das
noch offen sei und dessen Ausgang ebenfalls vom Prozessausgang abhängig
sei. Übersetzt heißt das: In dem Verfahren gegen den Neonazi passiert
derzeit nicht viel – es wird nur relevant, sofern im Prozess festgestellt
würde, dass er nicht in Notwehr handelte.
Einen Rückschlag aber verzeichnete die Staatsanwaltschaft bereits.
Ursprünglich wollte sie den Prozess vor dem höherrangigen Landgericht
Berlin führen. Dieses aber verwies die Anklage an das Amtsgericht
Tiergarten, wo nun demnächst verhandelt wird – weil keine Straferwartung
von mehr als vier Jahren Haft bestehe, so das Gericht.
## Es kommt auf das Gericht an
Der Neonazi scheint derweil von den Geschehnissen am 18. April 2024 nicht
sonderlich beeindruckt. Schon einen Monat danach war er in Pankow bei einem
Kampfsporttraining dabei, unweit seiner Wohnung, wieder öffentlich auf
einem Sportplatz – zusammen mit rund 20 anderen Neonazis, einige
demonstrativ in Shirts des III. Wegs. Später tauchte er auch bei weiteren
Aktionen seiner Partei in Berlin, Thüringen, Brandenburg und sogar Paris
auf. Und seine Partei schmähte zuletzt in einem Text direkt die angeklagten
Antifaschisten als „Kreaturen“, welche ihre „Bewegung“ attackieren wür…
Davon werde man sich aber „nicht aus der Ruhe bringen lassen“, so der III.
Weg. „Die Zeiten werden sich ändern.“ Das klang nach einer Drohung.
Es wird nun das Amtsgericht sein, vor dem die Beteiligten erstmals wieder
aufeinandertreffen. Für die beiden Antifaschisten dürfte die Anspannung
groß sein. Der Abend des 18. April lasse sie bis heute nicht los, sagt ihr
Verteidiger Theune.
Das Gericht wird entscheiden, ob die beiden für mehrere Jahre in Haft
wandern. Und ob der Neonazi seinem Treiben weiter folgenlos nachgehen kann.
Aus rechtlichen Gründen hat die taz in diesem Text auf die Nennung der
Namen aller Beteiligten verzichtet.
25 Oct 2025
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## AUTOREN
Konrad Litschko
Jean-Philipp Baeck
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Lina E.
Schwerpunkt Antifa
Schwerpunkt Neonazis
Lesestück Recherche und Reportage
Social-Auswahl
Schleswig-Holstein
Christopher Street Day
Schwerpunkt AfD
Der III. Weg
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