| # taz.de -- Erinnerung an ukrainische Zwangsarbeiter: Ein virtuelles Denkmal | |
| > Wer an Nazi-Verbrechen erinnern möchte, hat jetzt die Gelegenheit dazu. | |
| > 13.000 Postkarten ukrainischer Zwangsarbeiter sollen digitalisiert | |
| > werden. | |
| Bild: Hanna Lehun im Staatlichen Archiv der Region Winnyzja | |
| Auf dem Bildschirm erscheint eine Postkarte, darauf eine Briefmarke im Wert | |
| von 6 Pfennigen mit dem Kopf Adolf Hitlers, ein Absender, ein Empfänger, | |
| dazu eine Handschrift in einer Sprache, die die wenigsten Deutschen | |
| verstehen. Daneben gibt es eine Erklärung: „Vielen Dank, dass Du uns | |
| hilfst, ein digitales Denkmal für die Opfer und Überlebenden des | |
| Nationalsozialismus zu bauen.“ | |
| Der Klick auf den Weiter-Button fällt leicht. Denn das [1][Arolsen-Archiv] | |
| verlangt weder eine Registrierung noch wird nach der Schulbildung gefragt. | |
| Es geht einzig um die Sache: das Leben von Opfern des Nazi-Regimes sichtbar | |
| zu machen. Nicht einmal. Dreizehntausend Mal. | |
| 13.000 auf Postkarten festgehaltene Erinnerungen warten darauf, dem | |
| Vergessen entrissen zu werden. Es sind Zeugnisse von ukrainischen | |
| Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus der Region Winnyzja. | |
| Jahrzehntelang lagerten sie fast vergessen in einem Archiv, eingeklemmt in | |
| Paketen aus dicker Pappe, mit denen man in der Sowjetunion Butter | |
| verpackte. | |
| Sie schufteten in Fabriken und auf Bauernhöfen. Sie schliefen in zugigen | |
| Baracken oder in der nächsten Scheune. Ihr Essen war minderwertig, die | |
| Portionen viel zu gering, ihre Arbeitszeiten unmenschlich lang, die Arbeit | |
| schwer. Kontakte zu „Deutschblütigen“, [2][sexuelle] Beziehungen gar, waren | |
| ihnen verboten und konnten mit dem Tod bestraft werden. | |
| ## Postkarten waren erlaubt | |
| Etwa fünf Millionen Menschen wurden von den Nazis aus der Sowjetunion ab | |
| 1942 zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht, rund die Hälfte von ihnen | |
| kam aus der Ukraine. Sie, die „fremdrassigen Ostarbeiter“, standen auf der | |
| Skala der Unmenschlichkeit ganz tief unten, fast so tief wie die Juden. Sie | |
| durften kein Kino besuchen und keine Kneipe, nicht frei auf die Straße | |
| gehen und keinen normalen Laden betreten. Schon gar nicht durften sie die | |
| Heimat besuchen, nach der sie sich so sehr sehnten. | |
| Das Einzige, was ihnen erlaubt war: eine Postkarte nach Hause zu schicken. | |
| Schreiben, dass man am Leben war. | |
| „Ich bin noch lebendig und gesund.“ Sätze ähnlich wie dieser fänden sich | |
| immer wieder unter den Grüßen in die Heimat, berichtet Hanna Lehun. Mit den | |
| Postkarten der Zwangsarbeiter kennt sich die 32-Jährige aus, schon ihre | |
| Masterarbeit behandelt das Thema. Heute arbeitet die ukrainische | |
| Kulturwissenschaftlerin mit den blauen Haaren beim [3][Arolsen-Archiv], das | |
| über die weltweit größte Sammlung über verschleppte Menschen im Zweiten | |
| Weltkrieg verfügt. Dort koordiniert sie auch die Arbeit an den 13.000 | |
| Postkarten. Lehun ist in Winnyzja aufgewachsen, dort, wohin auch die Karten | |
| gingen, und kam vor neun Jahren zum Studium nach Deutschland. | |
| Knapp zwei Drittel der Absender waren Frauen, berichtet Lehun. Manche der | |
| Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter hätten ihr Leben in Deutschland | |
| beschönigt, offenbar, um die Sorgen der Angehörigen zu zerstreuen. Andere | |
| schrieben offener. | |
| Einige nutzten unverfängliche Formulierungen, um auf ihr elendes Leben in | |
| Deutschland zu verweisen. „Wir haben sehr viel zu essen, so viel wie vor | |
| zehn Jahren“, habe sie auf einer der Karten gelesen, erzählt Hanna Lehun. | |
| Zehn Jahre zuvor, das bedeutet 1933. Damals ging der Hungertod in der | |
| Ukraine um, es war der Höhepunkt des sogenannten Holodomors, dem Millionen | |
| Menschen zum Opfer fielen. Der Empfänger der Karte wusste also, dass die | |
| oder der Verwandte in Deutschland furchtbaren Hunger litt. Dem Zensor | |
| entging diese Deutung. | |
| Zu den Postkarten gehören die Bilder. Es kamen Fotografen zu den Baracken | |
| der Sklavenarbeiter, befahlen die Frauen und Männer vor die Tür und machten | |
| Bilder. Diese landeten auf der Kennkarte der Menschen – und sie konnten sie | |
| kaufen. Viele taten das mit ihren paar Pfennigen Lohn und schickten ein | |
| Foto von sich, auf die Postkarte geklebt, nach Hause, erzählt Hanna Lehun. | |
| Zweimal im Monat war ein Kartengruß erlaubt. Dazu entwickelte das NS-Regime | |
| ein spezielles Dokument mit eingearbeitetem leeren Feld nach einem Knick, | |
| in das die Verwandten in der Heimat ihre Antwort schreiben mussten. „Wie | |
| die Erfahrungen zeigen, leiden die Ostarbeiter zum Teil sehr unter | |
| Heimweh“, heißt es in einem NS-Papier. „Es liegt daher im Interesse der | |
| Erhaltung ihrer Arbeitsfreudigkeit, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben | |
| wird, mit ihren Angehörigen in der Heimat Verbindung aufrechtzuerhalten.“ | |
| Zurück zum Laptop. Ein Klick auf den Weiter-Button und ein kurzer Text | |
| erklärt, was zu tun ist. „Hab keine Angst, Fehler zu machen“, steht da. Es | |
| geht darum, die Basisdaten der 13.000 Postkarten aus Winnyzja zu | |
| digitalisieren. | |
| Die Grüße der Verschleppten in die Heimat sind keineswegs zu banal, um mehr | |
| als 80 Jahre später immer noch zu interessieren. Zum einen existieren auch | |
| heute Verwandte, die lesen könnten, was die verschleppte Urgroßmutter | |
| schrieb. Für sie wären die Zeilen ihrer Familienangehörigen ein fernes Echo | |
| aus der Vergangenheit. Zum anderen dokumentieren die Karten, wie Menschen | |
| mit scheinbar harmlosen Formulierungen versuchten, geheime Botschaften zu | |
| versenden und dabei den Zensor zu narren. Schwarze Farbe, über ganze | |
| Absätze gezogen, zeigt, wenn der Zensor das gefährliche Spiel durchschaut | |
| hatte. | |
| Auch sind die Absenderdaten der Postkarten aus den Zwangsarbeiterlagern von | |
| Interesse. Denn über viele dieser Stätten der Willkür sind bis heute nur | |
| wenige Details bekannt. | |
| Wieder auf „weiter“ geklickt. Eine neue Postkarte erscheint. Mit „Diese | |
| Postkarte wurde von … geschickt“ lädt eine Aufschrift dazu ein, die Felder | |
| darunter auszufüllen. Ich trage „Wasil Hurenki“ ein, den Namen auf der | |
| Postkarte, und drücke auf „weiter“. Nun geht es um die Absenderadresse. | |
| Diese mussten die Zwangsarbeiter mit lateinischen Buchstaben schreiben. | |
| Im Fall von Wasil Hurenki ist die Sache einfach, denn unter seinem Namen | |
| prangt ein Stempel: „Blechhammer i. Thür. Lager Motschmann“ steht da. Dass | |
| das Lager wie suggeriert in Thüringen lag, könnte eine bewusste Täuschung | |
| des NS-Regimes gewesen sein. Ein Arbeitslager und KZ Blechhammer befand | |
| sich nämlich in Oberschlesien und war ein Außenlager von Auschwitz. Das | |
| Leben dort muss dort eine einzige Qual gewesen sein. | |
| Von den 13.000 Postkarten der Zwangsarbeiter im Regionalarchiv von Winnyzja | |
| hörte Hanna Lehun zum ersten Mal von ihrem Vater, der war dort als Archivar | |
| tätig. Sie hat versucht, herauszufinden, wie die Karten dorthin kamen, was | |
| dadurch erschwert wird, dass russische Archive derzeit für die Forschung | |
| verschlossen bleiben. Wahrscheinlich erreichten die meisten Karten zu einem | |
| Zeitpunkt die Ukraine, als die Rote Armee die deutsche Besatzung vertrieb | |
| und das Land befreite. Die Karten blieben hängen, wurden vom sowjetischen | |
| Geheimdienst NKWD eingesammelt und in Geheimarchiven gelagert, sagt Lehun. | |
| Überlebende Zwangsarbeiter galten den Stalinisten nach dem Krieg als | |
| unsichere Kantonisten. Sie wurde als Helfer der Faschisten verdächtigt und | |
| verhört. Viele angebliche Kollaborateure landeten über Jahre in | |
| „Filtrationslagern“. Da könnten die Postkarten aus der Nazi-Zeit als | |
| Beweismittel nützlich gewesen sein. | |
| 1953 erreichten die Butterkisten mit den Karten schließlich Winnyzja. Sie | |
| wurden nicht mehr gebraucht. Gelesen werden durften sie deshalb aber auch | |
| nicht in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. | |
| Archive bergen das Gedächtnis eines Landes und seiner Bewohner. Ihre | |
| Zerstörung zählt seit Beginn des Kriegs Russlands gegen die Ukraine 2022 | |
| zum Programm Moskaus. Im monatelang besetzten Cherson wurde das | |
| Regionalarchiv geplündert. Es fehlt etwa eine halbe Million Dokumente, | |
| darunter auch solche zur NS-Besatzungszeit. Andere Sammlungen sind infolge | |
| von Bomben- und Raketeneinschlägen beschädigt worden. Russland setze „die | |
| Auslöschung von historischen Erinnerungen als Waffe ein“, erklärte die | |
| Direktorin des Arolsen-Archivs Floriane Azoulay schon vor drei Jahren. | |
| Kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wurde | |
| Winnyzja zum Ziel von Raketen. Am 14. Juli 2022 starben bei einem Einschlag | |
| 28 Menschen. Mindestens 100 wurden verletzt. Seitdem wurde die rund 350.000 | |
| Einwohner zählende Stadt mehrfach von Russland bombardiert, auch in diesem | |
| Sommer. | |
| Das Arolsen-Archiv bemühte sich schon früh zusammen mit anderen | |
| Einrichtungen darum, die Bestände ukrainischer Archive durch eine | |
| Digitalisierung zu sichern. So seien zwei Scanner auch nach Winnyzja | |
| gegangen, berichtet Hanna Lehun. Die 13.000 Postkarten der Zwangsarbeiter | |
| sind inzwischen komplett gescannt. Um diese Karten aber auswerten zu können | |
| und sie den Familienangehörigen zur Verfügung zu stellen, führt kein Weg an | |
| einer Digitalisierung des Inhalts vorbei. | |
| Beim Projekt mit den freiwilligen Helfen und den 13.000 Postkarten geht es | |
| nicht darum, auch sämtliche Inhalte der Karten zu transkribieren und zu | |
| digitalisieren. Die sind schließlich handschriftlich in Ukrainisch und – | |
| seltener – Russisch und mit kyrillischen Buchstaben verfasst. | |
| Um wenigstens die Inhalte eines kleinen Teils der Karten zu digitalisieren, | |
| steht Janna Keberlein bereit. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin der | |
| Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf wird ihre Studierenden für | |
| osteuropäische Geschichte zu Beginn des nächsten Semesters Mitte Oktober | |
| mit einem neuen – freiwilligen – Job vertraut machen: dem Transkribieren | |
| der Postkarten. „Wenn wir 1.000 Karten schaffen, wäre das schon sehr gut“, | |
| sagt Keberlein am Telefon. Das Ganze sei auch eine Übung, bei der man sich | |
| mit Quellen beschäftigt – wichtig für angehende Historiker. Und außerdem | |
| könne man so seine Solidarität mit der Ukraine zeigen, sagt sie. Am Ende | |
| gebe es für die geleistete Arbeit ein Zertifikat aus Arolsen. | |
| Wieder am Laptop. Das Programm bittet darum, den Zielort der Postkarte von | |
| Wasil Hurenki aus dem Lager Blechhammer einzutragen. Ich lese „Ortschaft: | |
| M. Motschulna“ auf der Karte und schreibe es ab. Keine Ahnung, wo das ist. | |
| Es folgen der Ort und das Datum des Poststempels, in diesem Fall der 23. | |
| Oktober 1943. Da befand sich die Wehrmacht in der Ukraine längst in der | |
| Defensive. Rund zwei Wochen später wurde Kyjiw von der Roten Armee befreit, | |
| gut 200 Kilometer von Winnyzja entfernt. Möglich, dass Hurenkis Karte | |
| ankam, als die Deutschen schon abgerückt waren. | |
| Das Programm verlangt anschließend Angaben zu den verschiedenen | |
| Archivstempeln und zum Zensurstempel der Deutschen, bei dieser Karte ein | |
| roter runder Aufdruck mit dem Reichsadler und der Aufschrift „Oberkommando | |
| der Wehrmacht – b – geprüft“. Und dann bin ich fertig. Auf „Absenden“ | |
| klicken. Die Antwort folgt prompt: „Vielen Dank für deine Hilfe!“ Das Ganze | |
| hat vielleicht zehn Minuten gedauert. | |
| Und wenn jetzt jemand völligen Unsinn bei der Arolsen-Aktion mit den | |
| Postkarten einträgt, wenn sich gar eine Neonazi ans Werk macht, um die | |
| Initiative der Erinnerung mutwillig zu torpedieren, was dann? | |
| Hanna Lehun winkt ab. Selbstverständlich würden die Einträge durch eine | |
| Kontrollgruppe nochmals überprüft, schon weil es leicht passieren kann, das | |
| Personennamen oder Ortschaften falsch transkribiert worden sind, sagt sie. | |
| Und wenn alle 13.000 Karten digitalisiert sind, was dann? Ist das Projekt | |
| dann beendet? Nein, sagt Lehun sehr bestimmt. Schließlich sind da noch | |
| Tausende Karten aus anderen ukrainischen Archiven. Von den Verschleppten | |
| aus dem Zweiten Weltkrieg. | |
| 15 Oct 2025 | |
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| [1] https://collab.arolsen-archives.org/de/workflows/ukraine | |
| [2] /Historikerin-ueber-Zwangsarbeit-im-NS/!6005321 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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| 8. Mai 1945 | |
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