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# taz.de -- Nahost-Autor über Frieden: „Es wird ein Land für alle sein“
> Die Chancen auf ein Ende der Gewalt in Israel und Palästina sind gering.
> Dennoch glaubt Peter Beinart an eine bessere Zukunft. Wie sie gelingen
> könnte.
Bild: Israelische Akti vis t:in nen haken sich unter, um Siedler im Mai 2024 da…
taz: Herr Beinart, was ist Ihre Vision von einem gerechten Frieden in
Israel und Palästina?
Peter Beinart: Ich wünsche mir ein politisches System, in dem jüdische
Israelis und Palästinenser:innen nebeneinander leben und dabei vor
dem Gesetz gleich behandelt werden. Ob in einem oder in zwei Staaten, ist
letztlich nicht ausschlaggebend. Aber der Grundsatz der Gleichheit vor dem
Gesetz ist für mich unverhandelbar. Ich leite ihn aus dem theologischen
Prinzip ab, dass alle Menschen nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind.
Daraus folgt für mich, dass Staaten alle Menschen vor dem Gesetz gleich
behandeln sollten, unabhängig von Religion, ethnischer Zugehörigkeit oder
Hautfarbe.
taz: Und in Israel/Palästina gilt dieser Grundsatz nicht?
Beinart: Nicht für alle. Im Westjordanland gibt es zwei Rechtssysteme.
Eines für jüdisch-israelische Siedler, die Staatsbürger mit Wahlrecht sind,
sich frei bewegen können und ordentliche Gerichtsverfahren nach zivilem
Recht bekommen. Und eines für Palästinenser:innen, die keines dieser Rechte
haben und auch nicht die Möglichkeit, israelische Staatsbürger:innen zu
werden. Es ist ein System, das sogar Israels eigene
Menschenrechtsorganisationen wie Yesh Din und B’Tselem [1][als Apartheid]
bezeichnen. Für mich ist es ein moralischer Widerspruch, wenn Menschen
dieses System in Israel/Palästina dulden, während sie in ihren eigenen
Ländern auf Gleichberechtigung pochen.
taz: Große Teile Ihrer Jugend haben Sie in Apartheid-Südafrika verbracht
und nennen diese Erfahrung oft als Inspirationsquelle für einen möglichen
Friedensprozess. Was haben Sie dort gelernt?
Beinart: In meiner Jugend haben wir mit Verwandten in Cape Town oft zum
Schabbat zusammengesessen. Mit der Zeit bemerkte ich dann die Menschen, die
nicht mit uns am Tisch saßen. Menschen, die sich im Hintergrund hielten,
die in der Küche arbeiteten oder im Garten. Sie waren uns rechtlich
untergeordnet. Wenn ich meine Verwandten danach fragte, sagten sie mir,
dass das notwendig sei.
taz: Warum?
Beinart: Weil die Schwarzen Terroristen uns sonst töten würden, sagten sie.
So dachten damals [2][viele weiße Südafrikaner:innen]. Sie wussten,
dass der African National Congress (ANC) einen militärischen Flügel hatte,
bewaffnete Angriffe plante und seine Waffen aus der Sowjetunion bezog. Und
sie dachten: Wenn wir die Apartheid abschaffen und sie frei entscheiden
können, dann werden sie kommen und uns massakrieren.
taz: Und was passierte tatsächlich, als das Apartheid regime fiel?
Beinart: Nichts dergleichen. Umkhonto we Sizwe, der militärische Flügel des
ANC, vor dem die weißen Südafrikaner:innen so viel Angst hatten, löste
sich auf, als Schwarze Menschen das Wahlrecht erhielten. Genauso wie die
Irisch-Republikanische Armee ihre Waffen niederlegte, als die Katholiken
politische Gleichberechtigung erhielten. Denn sobald man wählen kann und
eine Stimme in der Regierung hat, verfügt man über einen gewaltfreien
Mechanismus, um den Staat dazu zu bringen, auf die eigenen Bedürfnisse zu
reagieren.
taz: Trotzdem war die Angst weißer Südafrikaner:innen vor Gewalt bei
einem Ende der Apartheid weit verbreitet. Wie kann man diese Angst
überwinden?
Beinart: Ich glaube leider nicht, dass moralische Appelle an die
Gleichwertigkeit aller Menschen reichen. Wenn Menschen an Vorherrschaft
gewöhnt sind, werden sie sich meist dafür entscheiden, diese fortzusetzen.
Diese Systeme ändern sich nur, wenn es genug Widerstand gibt. Auch in
dieser Hinsicht ist das Beispiel des ANC lehrreich. Denn auch wenn wir uns
heute an [3][Nelson Mandela] vor allem als Friedensnobelpreisträger
erinnern, wollte Mandelas ANC nicht auf Gewalt verzichten, bis ein Termin
für freie Wahlen feststand.
taz: Gleichzeitig hat Mandela immer wieder versöhnliche Worte gegenüber der
weißen Bevölkerung gefunden.
Beinart: Mandela hatte damals den Mut, auf weiße Südafrikaner:innen
zuzugehen. Er sagte: Wir werden uns militant gegen die Apartheid wehren,
aber wir haben auch eine Vision, die euch in dieses zukünftige Südafrika
einbezieht. Und Mandela gab sich viel Mühe, die Afrikaaner kennenzulernen
und zu verstehen. Er machte es ihnen leichter, weniger Angst vor einer von
Schwarzen geführten Regierung zu haben, weil er ganz ausdrücklich sagte:
Dies wird kein Land nur für schwarze Südafrikaner:innen sein. Es wird
ein Land für alle sein.
taz: Sollten auch Palästinenser:innen nachdenken, was so eine
gemeinsame Vision wäre, die sie Israelis anbieten könnten?
Beinart: In der jetzigen Situation, in der laut unzähligen Expert:innen
Israel in Gaza einen Völkermord begeht, mag das unfair klingen. Aber ja,
ich denke, dass die palästinensische Bewegung erfolgreicher sein wird, wenn
sie genau das tut. Sobald dieser Krieg endet, wird es hoffentlich eine
Gelegenheit geben, [4][diese Vision gemeinsam mit Israelis zu entwerfen].
Orientieren könnte man sich dabei an Nordirland, wo Katholiken und
Protestanten sich auf ein System der Machtteilung geeinigt haben. Die
Gruppe, die nicht die Vorsitzende des regierenden Exekutivkomitees stellt,
darf demnach immer dessen Stellvertreter ernennen.
taz: Welche Foren wären Ihrer Meinung nach für eine solche Zukunftsvision
notwendig?
Beinart: Die Geschichte Südafrikas zeigt, dass es erst mal Druck auf die
politischen und wirtschaftlichen Eliten braucht, um
Verhandlungsbereitschaft zu erzeugen. Erst als die südafrikanische Führung
in den 1980er Jahren erkannte, dass sie die Aufstände nicht einfach
unterdrücken konnte und die Sanktionen der US-Banken die Wirtschaft
beeinträchtigten, begann man einen Plan B zu entwickeln.
taz: [5][Die EU-Kommission hat Sanktionen gegen Israel angekündigt],
Deutschland ist dagegen.
Beinart: Ich habe keine Freude an Sanktionen gegen Israel. Ich sorge mich
um viele mir nahestehende Menschen dort. Aber die politische Führung in
Israel hat einen monströsen Weg eingeschlagen, der zu immer mehr Gewalt
führen wird. Ich will nicht, dass der Widerstand Formen annimmt, die
Zivilist:innen das Leben kosten. Aber dass es wirksamen Protest
braucht, davon bin ich überzeugt. Idealerweise nimmt er Formen an, die
unangenehm sind, aber nicht gewaltvoll. So wie [6][wenn Israel nicht mehr
am Eurovision Song Contest teilnehmen kann] oder israelische Unternehmen
auf dem Weltmarkt Einbußen erleiden. Ich glaube, dass es Israelis – genau
wie den weißen Südafrikaner:innen – langfristig besser gehen wird,
wenn die Welt die israelische Elite unter Druck setzt, von dieser
unerbittlichen Gewalt abzurücken und den Palästinenser:innen
Grundrechte zu gewähren.
taz: Ein wichtiger Teil der Aufarbeitung der Gewalt unter dem
Apartheidregime war die Wahrheits- und Versöhnungskommission. Ist ein
ähnlicher Prozess auch in Israel/Palästina vonnöten?
Beinart: Derzeit ist es schwer vorstellbar. Aber wie wichtig so ein Prozess
ist, sieht man in der jüdischen Geschichte. Die Stolpersteine, die
Gedenktafeln, die Gedenkstätten in Deutschland – ohne dieses öffentliche
Gedenken würde ich heute anders auf das Land blicken. Sollte es in
Israel/Palästina je einen Aufarbeitungsprozess geben, müssten in diesem
Zuge auch die Gräueltaten palästinensischer Gruppen aufgearbeitet werden,
insbesondere [7][der 7. Oktober.]
taz: Während des Zweiten Weltkriegs verwehrten auch Länder wie
Großbritannien und die USA vielen Jüd:innen die Einreise. Eine der Lehren
daraus ist, dass Jüd:innen sich in der Stunde größter Not nicht auf
andere verlassen können. Braucht es nicht auch deshalb weiterhin Israel als
explizit jüdischen Staat?
Beinart: Ich kann diese Sorge gut nachvollziehen. Ich bin selbst mit dem
Impuls aufgewachsen, zu glauben, dass die Antwort auf unsere Verfolgung die
jüdische Vorherrschaft sei, also ein Staat, in dem Jüd:innen regieren.
Die zionistische Bewegung entstand auch aus der Desillusionierung heraus,
dass Jüd:innen in Europa nie gleichberechtigt behandelt werden würden.
Aber die Ironie ist, dass Israel für Jüd:innen mittlerweile der
unsicherste Ort zum Leben ist, verglichen mit anderen großen jüdischen
Gemeinschaften weltweit. Das ist kein Zufall, sondern eine Folge des
Apartheidsystems. Unterdrückung führt zu einem Kreislauf aus Gewalt und
Gegengewalt, während Systeme, in denen jeder Mensch eine Stimme hat,
tendenziell friedlicher sind.
taz: Die Logik von Gewalt und Gegengewalt ist tief in Israel/Palästina
verankert. Wie kann man ihr entkommen?
Beinart: Am ehesten können es jene Menschen, die ihre vermeintlichen
„Feinde“, seien es Palästinenser:innen oder Israelis, unter
Bedingungen kennenlernen, die gleichberechtigte Beziehungen ermöglichen.
Beziehungen, in denen man die Menschlichkeit der anderen Seite sieht. Aus
meiner Sicht entmenschlicht es Palästinenser:innen, wenn wir sie immer nur
in die Schablone des ewigen Judenhasses pressen. [8][Viele jüngere
amerikanische Jüd:innen] haben ein differenzierteres Bild. Sie sehen
Palästinenser:innen weder als Heilige noch als Monster, sondern als
Menschen, die großes Leid erfahren haben und auf teilweise unmoralische Art
und Weise auf Unterdrückung reagieren.
taz: Was hat zu dieser veränderten Wahrnehmung geführt?
Beinart: Zu einem großen Teil die sozialen Medien. Dort können
Palästinenser:innen für sich sprechen, während sie in den etablierten
US-Medien oft nicht gehört werden. Heute gibt es viele Palästinenser:innen,
die in den USA geboren sind und eine Sprache sprechen, die amerikanische
Jüd:innen verstehen, eine Sprache der Gleichheit und Freiheit.
taz: Die Chancen auf ein Ende der Gewalt stehen trotz der Friedenspläne
schlecht. Gibt es etwas, das Ihnen dennoch Hoffnung macht?
Beinart: Die jüdischen Studierenden, die an der Columbia University gegen
die Entführung ihres Freundes Mahmoud Khalil protestiert haben. Khalil
hatte dort palästinasolidarische Proteste organisiert und wurde dann von
Agenten der Abschiebebehörde ICE für mehr als 100 Tage inhaftiert. Und auch
die [9][Campus-Zeltlager gegen den Gaza-Krieg]. Sie waren nicht perfekt,
aber man sah dort muslimische und jüdische Studierende nebeneinander
beten, Palästinenser:innen, die zu Schabbat-Gottesdiensten und
Pessach-Sederfeiern kamen. Das sind Verbindungen, die die USA in den
kommenden Jahrzehnten prägen werden.
4 Oct 2025
## LINKS
[1] /Vorwurf-der-Apartheid-an-Israel/!5832739
[2] /Elon-Musk-und-Apartheid/!6061718
[3] /Nachruf-auf-Nelson-Mandela/!5053238
[4] /Palaestinenserin-und-Jude-ueber-den-Krieg/!5976681
[5] /Bodenoffensive-in-Gaza-Stadt/!6110516
[6] /ESC-und-Israel/!6115984
[7] /7-Oktober---ein-Jahr-danach/!6034819
[8] /Juedinnen-und-Juden-in-den-USA/!6039827
[9] /Friedensforscher-Saed-Atshan/!6087134
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