| # taz.de -- Michael Barenboim über Kulturboykott: „Es geht um Mitschuld“ | |
| > Der Musiker Michael Barenboim wirft Israel einen Genozid vor und ruft zur | |
| > Gaza-Demo auf. Ein Gespräch über Verantwortung, Schweigen – und rote | |
| > Linien in der Kunst. | |
| Bild: Violinist und Bratschist Michael Barenboim 2024 in Frankfurt am Main | |
| taz: Herr Barenboim, der israelische [1][Dirigent Lahav Shani wurde jüngst | |
| von einem Musikfestival im belgischen Gent ausgeladen.] Ihm wurde | |
| vorgeworfen, seine Haltung zur israelischen Regierung sei unklar. Wie | |
| bewerten Sie das als Musikerkollege? | |
| Michael Barenboim: Ich habe mir die jeweiligen Statements angeschaut. Das | |
| sollte man immer tun. Das Festival hat die Absage damit begründet, dass | |
| sich Shani in seiner Funktion als Chef des Israel Philharmonic Orchestra | |
| nicht oder nicht genügend von der israelischen Regierung distanziert hat. | |
| Das ist so etwas wie ein Staatsorchester, auch wenn es formal eine | |
| gemeinnützige Organisation ist – es repräsentiert Israel und bekommt auch | |
| staatliche Zuschüsse. | |
| Lahav Shani hat darauf geantwortet, er trete für Versöhnung zwischen | |
| „beiden Seiten“ ein. Er hat in seinem Statement die Seite, die in Gaza | |
| gerade vor ihrer Auslöschung steht, die Palästinenser, aber mit keinem Wort | |
| erwähnt. Das ist eine vertane Chance, denn damit hat er dem Festival alle | |
| Argumente für seine Ausladung geliefert. Das ist sehr schade. Denn er ist | |
| ein fantastischer Musiker – ich habe früher auch schon mit ihm gespielt. | |
| Aber darum geht es hier nicht. | |
| taz: Worum geht es denn? Bundeskanzler Friedrich Merz, Kulturstaatsminister | |
| Wolfram Weimer und andere sprechen bei der Ausladung von Antisemitismus. | |
| Barenboim: Entweder, sie haben alle das Statement des Festivals nicht | |
| gelesen, oder sie haben es absichtlich missverstanden. Da steht ja ganz | |
| deutlich, dass das nichts mit seiner jüdischen Identität zu tun hat. Das | |
| hätte auch seinen Vorgänger beim Israel Philharmonic Orchestra treffen | |
| können, Zubin Mehta – der ist nicht jüdisch. Das heißt, es hat mit | |
| Antisemitismus nichts zu tun, sondern mit dem Vorwurf der Mitschuld am | |
| Genozid. | |
| taz: Sie sprechen von Genozid, andere aber [2][bezweifeln, dass Israels | |
| Regierung in Gaza einen Völkermord begeht.] | |
| Barenboim: Mein Eindruck ist, dass darüber unter Experten, | |
| Menschenrechtsorganisationen und neuerdings auch im UN-Menschenrechtsrat | |
| weitgehend Konsens herrscht. Die deutsche Politik leugnet das, weil sie | |
| eine Mitschuld trägt. Aber ansonsten, glaube ich, ist das – jedenfalls | |
| außerhalb Deutschlands – nicht mehr umstritten. | |
| taz: Einen Kulturboykott halten Sie in dieser Situation für das richtige | |
| Mittel? | |
| Barenboim: Die Frage ist immer: Was erreiche ich damit? Das Ziel beim | |
| Kulturboyott ist, einem Staat, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder | |
| einen Völkermord begeht, die Legitimität zu entziehen. Hätten wir in den | |
| 1990er Jahren ein Ensemble aus [3][Ruanda] empfangen, welches das Regime | |
| der Hutus repräsentiert hätte? Oder ein Orchester, dessen Dirigent sich | |
| nicht vom Völkermord von [4][Srebrenica] distanziert hätte? Ich glaube | |
| nicht. Es gibt ja heute noch Leute, die den Genozid an den Bosniaken | |
| leugnen. | |
| taz: Sie meinen Leute wie den Schriftsteller [5][Peter Handke], der sogar | |
| den Literaturnobelpreis erhalten hat. | |
| Barenboim: Das finde ich total krass. Ich meine, Völkermord ist der | |
| Versuch, eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe als solche | |
| auszulöschen. Das haben wir doch alle gelernt. Die Leugnung des Völkermords | |
| trägt zu dieser Auslöschung bei. | |
| taz: Russlands und Israels Vorgehen lassen sich nicht direkt vergleichen. | |
| Doch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben die Münchner | |
| Philharmoniker dem russischen Dirigenten [6][Waleri Gergijew] wegen dessen | |
| Putin-Nähe die Zusammenarbeit aufgekündigt. Zu Recht? | |
| Barenboim: Die Münchner Philharmoniker haben ihren Schritt mit dem Argument | |
| begründet, dass sich Gergijew auf Nachfrage nicht von dem Regime in | |
| Russland distanziert hat. Das ist in der Tat das gleiche Argument wie das | |
| des Festivals in Gent – insofern kann man nicht das eine gut finden und das | |
| andere schlecht. Ich finde aber, ein Kulturboykott macht nur Sinn, wenn er | |
| sich gegen Institutionen richtet. Das trifft dann natürlich Individuen. | |
| Aber so ist das Leben: Jeder trifft seine Entscheidungen und trägt seine | |
| Verantwortung. Man muss ja nicht für Israel beim ESC antreten, zum | |
| Beispiel. Deswegen sollte die Frage sein: Repräsentiert eine Person die | |
| Institution eines Landes? Bei Gergijew kann man argumentieren, dass durch | |
| seine Leitung des Mariinsky Theaters in Sankt Petersburg eine | |
| institutionelle Verbindung besteht, ähnlich wie bei Lahav Shani und dem | |
| Israeli Philharmonic Orchestra. Aber Individuen als Individuen zu | |
| boykottieren finde ich ein bisschen albern. | |
| taz: Sie sind gegen den Boykott von Individuen, aber für den Boykott von | |
| staatlichen Institutionen. | |
| Barenboim: Es gibt sogar israelische Künstler und Wissenschaftler, die | |
| einen Boykott ihres Landes fordern – weil sie sagen: Wir alleine können | |
| nichts ändern. Wir brauchen eure Unterstützung. Die wollen ja nicht, dass | |
| man nicht mehr mit ihnen redet, sondern sie wollen alles dafür tun, dass | |
| der Genozid in Gaza endet. Und was wäre die Alternative? Wollen wir sagen: | |
| Künstler sollen ihre Kunst machen und es ist uns egal, was sie sagen und | |
| denken? Ziehen wir irgendwo eine rote Linie? Ich finde, bei Völkermord | |
| sollte man eine rote Linie ziehen. | |
| taz: Wäre es richtig, deutsche Künstler auszuladen, weil Deutschland | |
| Israels Krieg in Gaza unterstützt? | |
| Barenboim: Es geht nicht um die Herkunft, sondern um Institutionen. Es gibt | |
| ja jetzt schon Bewegungen wie [7][Strike Germany], die ausländischen | |
| Künstlerinnen und Künstlern freundlich abraten, nach Deutschland zu kommen. | |
| Der Vorwurf, Mitschuld an einem Völkermord zu tragen, wiegt schwer. Der | |
| frühere UN-Botschafter Christoph Heusgen hat kürzlich richtigerweise | |
| gesagt, Deutschland könnte wegen Beihilfe zum Genozid in Gaza verurteilt | |
| werden. Das hätte massive Konsequenzen für uns alle. | |
| taz: Sie sind seit 2003 Konzertmeister des West-Eastern Divan Orchestra, | |
| das zu gleichen Teilen aus israelischen und arabischen Musikern besteht. | |
| Ist das nicht ein Gegenmodell zum Kulturboykott? | |
| Barenboim: Es ist etwas anderes. Die Idee ist, dass man nicht nur gemeinsam | |
| probt und Musik macht und ansonsten seiner Wege geht, sondern dass ein | |
| größerer Austausch stattfindet. Das ist in dieser Form schon einzigartig. | |
| Wir haben jetzt neuerdings auch ein gewähltes Orchesterkomitee, das solche | |
| Diskussionsformate mitorganisieren soll. Wenn die Probe aufhört und die | |
| Diskussion beginnt, dann hat die Bratsche am letzten Pult genauso viel zu | |
| sagen wie die Solo-Oboe – da sind alle gleich. | |
| taz: Wie steht die BDS-Bewegung, die für einen Israel-Boykott eintritt, zum | |
| West-Eastern Divan Orchestra? Wird das Orchester auch boykottiert, weil | |
| dort israelische Musiker mitspielen? | |
| Barenboim: Ich glaube nicht, denn wir sprechen uns ja klar gegen die | |
| Besatzung aus. 2005 haben wir ein Konzert in Ramallah gegeben, das sehr | |
| viel Aufsehen erregt hat. Aber die Situation ist heute eine andere. Wir | |
| sind schon länger nicht mehr im Nahen Osten und in Nordafrika aufgetreten. | |
| Wir hatten einige Zeit eine Art Residenz in Buenos Aires, wo wir sehr viel | |
| gespielt haben. Ansonsten waren wir zuletzt hauptsächlich in Europa und in | |
| den USA unterwegs. | |
| taz: Sie lehren an der Barenboim-Said-Akademie, und waren von 2020 bis 2024 | |
| deren Dekan. Wie ist die Stimmung dort seit dem Angriff der Hamas und dem | |
| Krieg in Gaza? Welche Diskussionen gibt es? | |
| Barenboim: Innerhalb des Orchesters und an der Akademie gibt es sehr | |
| kontroverse Diskussionen. Ich bewundere unsere Studierenden. Die leben ja | |
| übers ganze Jahr zusammen, studieren zusammen und schaffen es, diese | |
| kontroversen Gespräche zu führen und zugleich ihr Studium zu absolvieren. | |
| Die Stimmung ist natürlich sehr bedrückt und die Situation ist schwierig. | |
| Aber sie machen das toll. | |
| taz: Welche Rolle spielt Politik – und speziell der Gaza-Krieg – in der | |
| klassischen Musikszene? | |
| Barenboim: Angesichts des russischen Einmarschs in der Ukraine haben viele | |
| klassische Musiker und Institutionen gezeigt, dass sie sich gerne für | |
| Menschenrechte einsetzen wollen. Aber angesichts des Genozids in Gaza und | |
| der Massenvertreibung in der Westbank ist es immer noch sehr still. Wenn | |
| man sich für die Ukraine einsetzt, dann hat man Rückenwind. Wenn man sich | |
| für Palästina einsetzt, bläst einem der Wind direkt ins Gesicht, weil man | |
| sich da auch gegen die eigene Regierung stellen muss. Das erfordert viel | |
| Kraft, viel Zeitaufwand, und man muss sich ein bisschen etwas trauen. Das | |
| tun wirklich nicht viele. | |
| taz: Unter dem Motto „Make Freedom Ring“ organisieren sie mit anderen | |
| Künstlerinnen und Künstlern bundesweit Solidaritätskonzerte für Gaza. | |
| Warum? | |
| Barenboim: Wir haben die Benefizkonzerte auch deswegen ins Leben gerufen, | |
| weil wir von diesem sehr lauten Schweigen in unserer Branche konsterniert | |
| waren. Viele Kollegen, die sonst sehr laut sind, hielten sich plötzlich | |
| sehr bedeckt. Daran hat sich bis heute wenig geändert, und das ist | |
| eigentlich ein Skandal. | |
| taz: Sie rufen auch zur Kundgebung am [8][27. September in Berlin auf, die | |
| von Medico, Amnesty] und Eye 4 Palestine organisiert wird. Haben Sie keine | |
| Sorge, dass da die falschen Leute mitlaufen? | |
| Barenboim: Was heißt denn die falschen Leute? Ich wurde schon mal gefragt, | |
| ab wann es denn zu weit ginge. Ich finde, man darf einen Völkermord einfach | |
| nicht unterstützen. Das gilt für Staaten und auch für Individuen. | |
| taz: An früheren Demonstrationen gab es Kritik, weil vereinzelt iranische | |
| Fahnen auftauchten oder fragwürdige Slogans gerufen wurden. | |
| Barenboim: Das kann man nicht vollständig ausschließen. Ich stelle es mir | |
| schwierig vor, bei so vielen Tausenden Menschen zu garantieren, dass da | |
| nicht jemand so eine Fahne schwenkt. Aber was man kontrollieren kann, das | |
| ist die Botschaft einer Kundgebung oder Demo. Und diese Botschaft ist klar: | |
| Stoppt den Völkermord. Der deutsche Kurs muss geändert werden. Keine | |
| Waffen, keine diplomatische Unterstützung, keine juristische Unterstützung, | |
| darum geht es. Man muss alles versuchen. Ich versuche hier irgendwie alles. | |
| Das Einzige, das ich mir persönlich vorwerfe, ist, dass ich nicht schon | |
| früher aktiv geworden bin. Ich hätte viel früher und viel deutlicher gegen | |
| Apartheid und Besatzung aktiv sein müssen. | |
| taz: Können Sie die Ängste vor einem wachsendem Antisemitismus | |
| nachvollziehen? | |
| Barenboim: Die Sorge kann ich verstehen, aber nur bedingt. Wenn Menschen | |
| ein Ende des Genozids und ein Ende der Apartheid fordern, hat das mit | |
| Antisemitismus nichts zu tun. Diese Forderungen sind legitim und vom | |
| Völkerrecht gedeckt. | |
| taz: Haben Sie selbst Antisemitismus erlebt, und wenn ja, in welcher Form? | |
| Barenboim: Nein, ich kann mich glücklich schätzen, dass ich nie für mein | |
| Jüdischsein angegriffen wurde. Ich bin nicht gläubig und praktiziere die | |
| Religion nicht, deswegen ist es für mich eher ein kultureller Aspekt meiner | |
| Identität. Die Hasskommentare, die mir vorwerfen, ein „sich selbst | |
| hassender Jude“ zu sein, kommen ja lustigerweise oft nicht von Juden, | |
| sondern von irgendwelchen anderen Leuten. | |
| taz: Sind Sie selbst schon mal ausgeladen worden? | |
| Barenboim: Nein. Aber was ich nicht ausschließen kann, ist, dass ich an | |
| manchen Orten nicht mehr eingeladen werde. Es ist natürlich sehr blöd, | |
| jemanden einzuladen und wieder auszuladen, wie das in Deutschland oft der | |
| Fall war. Klügere Leute machen das nicht so plump, sondern laden bestimmte | |
| Leute wie mich einfach nicht mehr ein. | |
| 27 Sep 2025 | |
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