| # taz.de -- Neues Buch von Judith Butler: Sternchen sehen | |
| > In „Wer hat Angst vor Gender?“ teilt Judith Butler kräftig gegen | |
| > politisch motivierte Anti-Gender-Hysterie aus. Aber, war da nicht sonst | |
| > noch was? | |
| Bild: Geschlecht will immer auch performed werden | |
| „Ach, du liest noch Judith Butler?“, sagte ein Kollege mit spöttischem | |
| Blick auf den pinkfarbenen Suhrkamp-Band auf meinem Tisch. Eine Reaktion, | |
| die zeigt, wie sehr Butler noch immer provoziert. Butler ist | |
| US-amerikanisch und forscht in der Philosophie. Mit Thesen zu Queerness und | |
| Gender hat Butler in den 1990ern den Denkrahmen radikal erweitert. | |
| Christlich-konservative Kreise fühlen sich von der Kernaussage, dass | |
| Geschlecht weniger biologisch denn sozial determiniert sei, derart | |
| angegriffen, dass Butler ihnen als Teufel in Menschengestalt gilt. | |
| Selbst bei Menschen, die ihre Geschlechtertheorien grundsätzlich bejahen, | |
| hat sich Butler unmöglich gemacht. Butler ist jüdisch, links und lehrt seit | |
| 32 Jahren in Berkeley. Seit Jahren setzt sich Butler für die radikale | |
| Israel-Boykott-Bewegung BDS ein; bei einer Rede in Paris 2024 sortierte | |
| Butler das Massaker der Hamas in Israel in die Kategorie „bewaffneter | |
| Widerstand“ ein – ein seltsamer Gegensatz zu Veröffentlichungen etwa über | |
| „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ (2020). | |
| Nun hat sich Butler mit einem Buch zum Kernthema zurückgemeldet. 35 Jahre | |
| nachdem Butler mit „Gender Trouble“ (deutscher Titel „Das Unbehagen der | |
| Geschlechter“) die These von der Performativität und damit Veränderbarkeit | |
| des sozialen Geschlechts in die feministische Debatte eingebracht hatte, | |
| verteidigt Butler die Ideen nun in „Wer hat Angst vor Gender?“ ebenso | |
| detailreich wie angriffslustig. | |
| Butler tut dies in einem Klima, in dem das Genderkonzept zwar | |
| allgegenwärtig, aber auch hochumstritten ist. Kein*e Kulturkämpfer*in | |
| unserer Zeit kommt ohne Verdammung der „Gender-Ideologie“ aus – von der | |
| AfD-Politikerin bis zum konservativen Kulturstaatsminister oder den | |
| Journalisten aus dem Springer-Kosmos. | |
| ## Dekonstruktion oder Auslöschung? | |
| Die Idee, Geschlechtsidentität sei ebenso frei wählbar wie sexuelle | |
| Orientierung, kommt in den Augen der Gegner*innen einer Auflösung der | |
| gottgegebenen Geschlechter- und Familienordnung gleich, ja der | |
| „Auslöschung“ des Körpers (Papst Benedikt). | |
| Der Genderstern als orthografisches Zeichen ist mittlerweile zum | |
| Platzhalter für allerlei Unzufriedenheiten geworden. Davon, dass Gender die | |
| Möglichkeiten gelebter Geschlechteridentitäten so weit aufgefächert hat, | |
| dass unter seinem Schutzschirm auch intergeschlechtliche, nonbinäre und | |
| Transpersonen Platz finden, fühlen sich allerdings auch konservative Frauen | |
| und Feministinnen alten Schlags bedroht. | |
| Und Teile der Linken argwöhnen seit Jahren, dass Debatten über Sternchen, | |
| Terfs und trans Athletinnen in Frauenumkleiden sie dahin gebracht habe, wo | |
| sie jetzt steht: Mit dem Rücken zur Wand, bedrängt von rechten Bewegungen, | |
| die sich mit einigem Erfolg für die Rückkehr zu „traditionellen“ | |
| Geschlechterrollen und „naturgegebenen“ sexuellen Orientierungen | |
| aussprechen. | |
| Judith Butler widmet sich diesen Gegner*innen gründlich. In zehn | |
| Kapiteln fächert Butler das Panorama der Anti-Gender-Bewegung auf und | |
| stellt dabei die Frage: „Zu welcher Art Phantasma ist Gender geworden, und | |
| welche Sorgen und Ängste, welchen Hass sammelt und mobilisiert es?“ | |
| ## Die lieben Katholiken | |
| Butler zeichnet nach, wie katholische Kreise erstmals in den 1990ern vor | |
| einer „autoritären Ideologie“ warnten, welche die Zerstörung der Familie | |
| und die Auslöschung der göttlichen Schöpfung im Sinn habe. Der vermeintlich | |
| liberale Papst Franziskus setzte die Gendertheorie sogar mit Atomwaffen | |
| gleich und ihre Vertreter*innen mit der Hitlerjugend. | |
| Evangelikale Bewegungen griffen die Argumente auf, rechtsautoritäre Kräfte | |
| radikalisierten sie politisch und deuteten auch LGBTI-Rechte, | |
| Sexualaufklärung in Schulen und Frauenemanzipation zum liberalen | |
| Umerziehungsprojekt um. Bis Mitte der Zehnerjahre hatte sich ein globales | |
| Netzwerk formiert, mit Zentren in den USA, Lateinamerika und Osteuropa, das | |
| Gender zur dämonischen Bedrohung und Gefahr für Kinder stilisierte. | |
| Butler macht gedankliche und personelle Verbindungslinien sichtbar, hin zu | |
| Putins Feindbild „Gayropa“ oder zu Ron de Santis’ Kreuzzug gegen | |
| Sexualerziehung an Schulen in Florida. | |
| Vereinzelt greift Butler konkrete Kritikpunkte auf: „Gender“ leugne die | |
| Materialität des Körpers keineswegs. Man frage „lediglich danach, wie sie | |
| entsteht, mithilfe welcher Mittel sie präsentiert wird und wie diese | |
| Präsentation unser Verständnis von ihr beeinflusst“. Es gebe nun mal keine | |
| Gewähr, dass die bei Geburt in juristischen Formularen festgehaltene | |
| Geschlechtskategorie so bleibe oder dass die Erwartungen, die damit | |
| einhergehen, auch erfüllt würden. | |
| ## Mütter und Feministinnen | |
| Feministischen Verfechterinnen der Biologie stellt Butler die Frage, warum | |
| eine Frau ausgerechnet anhand ihrer Reproduktionsfähigkeit definiert werden | |
| sollte: Hätten Feministinnen nicht zu Recht darauf bestanden, dass nicht | |
| alle Frauen Mütter werden wollten beziehungsweise Mütter sich nicht durch | |
| diese Rolle definieren wollten? | |
| Gender, stellt Butler klar, gehöre niemandem, es sei kein | |
| Kontrollinstrument, sondern ein Freiheitsprojekt. Die eigentliche Frage | |
| aber sei, warum so viele Menschen Angst vor der Freiheit hätten. | |
| Butlers Ausführungen sind gedanklich klar strukturiert, wenn auch | |
| sprachlich nicht immer leicht lesbar. Die Hauptthese ist, dass der Kampf | |
| gegen Gender ablenken soll von den wirklichen Bedrohungen, die uns der | |
| Neoliberalismus eingebrockt habe: bröckelnde Lebensgrundlagen, | |
| Ungleichheit, klimatische Verheerungen. Den aktuellen Backlash gegen Gender | |
| sieht Butler als Teil eines größeren restaurativen Projekts autoritärer | |
| Regime. | |
| ## Eine eigene Vision? | |
| Butlers eigene Gesellschaftsvision ist dagegen nicht ganz so pointiert wie | |
| die Demontage der Gegner*innen. Butler spricht von einer gemeinsam | |
| ausgehandelten gesellschaftlichen „Ko-Konstruktion“ von Körper und | |
| Geschlecht. Dafür seien Allianzen nötig und Solidarität, auch zwischen | |
| bislang verfeindeten Lagern. Gleichzeitig enttarnt Butler vermeintliche | |
| Alliierte als Gegnerinnen. Etwa den von sogenannten Terfs wie der | |
| britischen Autorin JK Rowling betriebenen trans-ausschließenden Feminismus | |
| –, dem Butler bezeichnenderweise selbst mit einem Ausschlussargument | |
| begegnet: Dieser sei gar kein Feminismus und sollte auch nicht als solcher | |
| gelten. Punkt. | |
| Problematisch ist, wie Butler Frauen, die Angst vor dem Eindringen | |
| biologischer Männer in mühsam erkämpfte Frauenschutzräume haben, pauschal | |
| als Hysterikerinnen mit Penisphobie abstempelt, statt auf solche Ängste | |
| einzugehen. | |
| Seltsam mutet schließlich an, wie präzise Butler erst das ambivalente | |
| Verhältnis zu Gender im Globalen Süden herausarbeitet – von der kolonial | |
| übergestülpten Geschlechterbinarität bis zur heutigen Verteufelung von | |
| Gender als „Westimport“ – um dann selbst in altbekannte postkoloniale | |
| Denkschablonen zurückzufallen: „Die gesamte LGBTQIA+-Community“, fordert | |
| Butler, „sollte sich diesem Kampf gegen fortgesetzte Kolonialisierung in | |
| Puerto Rico, Palästina und Neukaledonien, um nur einige solcher Orte zu | |
| nennen, und der neokolonialen Vereinnahmung von Teilen Afrikas anschließen, | |
| denn alle diese Kämpfe sind zugleich auch Kämpfe gegen Rassismus und | |
| kapitalistische Ausbeutung.“ | |
| Die möglichen Allianzen, die Butler hier anruft, mag man sich gar nicht | |
| näher vorstellen. Passagen wie diese zeigen, dass [1][Butler vielleicht | |
| nicht die richtige Person ist,] um die Gräben, die im Buch anschaulich | |
| beschrieben sind, zuzuschütten. Dennoch leistet „Wer hat Angst vor Gender?“ | |
| einen wertvollen Beitrag zur Einordnung gegenwärtiger Kulturkämpfe. Auch | |
| indem es verdeutlicht, dass „Gender“ noch niemandem etwas weggenommen, | |
| dafür vielen Sicherheit und (Bewegungs-)Freiheit gegeben hat. | |
| Anmerkung der Redaktion vom 10.9.2025: In einer älteren Fassung des Textes | |
| wurden für Judith Butler falsche Pronomen benutzt. Da Judith Butler | |
| nicht-binär ist, wurde dies nachträglich angepasst. | |
| 26 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Nina Apin | |
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