# taz.de -- Kunstmesse Art-O-Rama: Marseille leuchtet | |
> Das Kunsttreiben in Marseille vibriert vor Entdeckungen. Das liegt auch | |
> an der Kunstmesse Art-O-Rama – eine Kulturszene, die Großzügigkeit | |
> verströmt. | |
Bild: Blick auf Marseille | |
Betritt man an einem frühen Spätsommerabend das Dach der Marseiller Unité | |
d’habitation, der „Wohnmaschine“ aus der Hand des Architekten | |
Charles-Édouard Jeanneret-Gris, besser bekannt als Le Corbusier, kann einem | |
leicht schwindelig werden. | |
Ausgedehnt erstreckt sich hier der Terrassenbeton über die gesamte Länge | |
des 18. Stockwerks, auf dem sich momentan nicht nur die markanten | |
skulpturalen Lüftungsschächte in den Himmel recken, sondern auch eine | |
sieben Meter hohe Bronzeskulptur zweier gigantischer, abstrahierter Kerzen | |
des US-amerikanischen Künstlers Sterling Ruby sanft im Wind zu schwanken | |
scheint. | |
Der ebenfalls hier befindliche Kunstraum MAMO hat sie dort aufgestellt, als | |
sei sie schon immer das Wahrzeichen der [1][Cité Radieuse] gewesen, der | |
„leuchtenden Stadt“, wie Le Corbusier sein Gebäude nannte – und welches, | |
ungleich anders als die deutsche Version des Konzepts im Berliner Westen, | |
tatsächlich funktioniert. | |
Neben mehr als 300 Wohnungen finden in Marseille ein Kindergarten, eine | |
Sporthalle, diverse Geschäfte und Galerien, ein Hotel und eine Bar in der | |
späten 40er-Jahre-Architektur Platz – und mit ihnen ein geschäftiges | |
Publikum, welches das Gebäude nicht nur als Denkmal nutzt, auch wenn es die | |
Aussicht schätzt: Immer wieder laufen die Blicke der Passanten über die | |
Betonbalustrade in die milchige Leere über der weißen, kargen Stadt, die | |
von oben betrachtet zwischen Bergen und Meer so verstreut liegt, als hätte | |
ein Riese eine Packung Würfelzucker ausgekippt. | |
Blickt man dieser Tage auf die südfranzösische Hafenstadt, erhält man den | |
Eindruck, dass hier überhaupt vieles zu funktionieren scheint. Vom | |
schlechten Ruf, geprägt von Drogenkriminalität und Armut, ist am letzten | |
Wochenende der französischen Sommerferien wenig zu spüren. Stattdessen | |
vibriert die [2][mediterrane Metropole] voller Kunst und Kultur, | |
ausgerechnet von La Belle du Mai ausgehend, einem Arbeiterviertel nördlich | |
des Bahnhofs, dessen Reputation jahrelang als besonders schlecht galt. | |
## Kunstmesse Art-O-Rama | |
Seit 2007 findet hier die Kunstmesse Art-O-Rama in der umgewidmeten alten | |
Tabakfabrik „La Friche“ statt, die mit ihren vollgesprühten Wänden, einem | |
Skatepark und architektonischen Brüchen so gar nicht nach den | |
luxusbetuchten Sammlern und Champagner-Lounges aussieht, die man von den | |
globalen, marktführenden Art-Basel-Ausläufern gewohnt ist. | |
1996 von Roger Palhais als eine Art Salon unter dem Namen „Art Dealers“ mit | |
acht eingeladenen Galerien und an anderem Ort gegründet, führte der heutige | |
Messedirektor Jérôme Pantalacci und langjährige Begleiter Palhais nach | |
dessen Tod die Idee fort und gründete Art-O-Rama in ihrer jetzigen Form als | |
Messe für aufstrebende Galerien. | |
Circa 40 internationale Kunsthändler haben sich hier in diesem Jahr | |
versammelt, das Programm vieler Aussteller ist ungewöhnlich experimentell: | |
Statt der für Verkaufsschauen üblichen Gruppenpräsentationen der | |
warenförmigsten Werke gibt es Einzelpositionen und institutionell wirkende | |
Kurationen, so zeigt beispielsweise Cable Depot aus Sofia die | |
dokumentarisch anmutende Videoarbeit Gabriela Löffels über eine Schweizer | |
Waffenmesse oder die Pariser DS Galerie lediglich kleinformatige | |
Bleistift-Zeichnungen von Antoine Conde. | |
Letztere zwar hochgradig begehrenswert und eindeutig käuflich, doch mit | |
teils unter 1.000 Euro ungewöhnlich niedrig bepreist. | |
## Kunst-Verkauf steht nicht im Vordergrund | |
Doch Verkaufen steht eh nicht im Vordergrund, die Messe richte sich viel | |
mehr an Kurator:innen und Mitarbeitende großer Kunstinstitutionen, die | |
ihren Sommer am Meer verbringen und dann zum Ende der Sommerpause hier nach | |
neuen Entdeckungen suchten, berichtet Peter Bancze von Longtermhandstand | |
aus Budapest. Sein Ausstellungsstand sei dementsprechend konzeptionell, er | |
zeige zeitgenössische Antworten auf Marcel Duchamp. | |
Es passt also, dass zeitgleich im Gebäude auch die Gruppenausstellung | |
„Tipping Point“ mit größtenteils belgischen Positionen, organisiert vom | |
Brüsseler Kulturzentrum Botanique und dem ISELP (Institut Supérieur | |
d’Études en Langues et Littératures et de la Communication), und die | |
Abschlussschau der diesjährigen Absolventen der Kunsthochschule Beaux-Arts | |
de Marseille „Entre Deux Eaux“ – „Zwischen zwei Wassern“ stattfinden. | |
Schlendert man durch die weitläufigen Räume, bekommt man tatsächlich das | |
Gefühl, dass es in erster Linie um die Künstler:innen-Förderung geht | |
sowie darum, den Bewohner:innen der Stadt die Kunst zugänglich zu | |
machen (für Kinder beispielsweise kostenlos) und nur in zweiter Konsequenz | |
um die Wertsteigerung der Arbeiten, die die Kunst ja fast immer wie ein | |
unnachgiebiger Parasit verfolgt. | |
Diesen abzustreifen und einfach nur zu sein, scheint in diesem Jahr auch | |
eines der Hauptanliegen der inhaltlichen Auseinandersetzung der | |
ausstellenden Künstler:innen zu sein. | |
„Let me be slow, let me be sad, let me be me“ heißt es da beispielsweise | |
auf einer Ouroboros-gleichen Drehscheibe von Nonna Supernova in der | |
Absolventenschau, die Tribal-artigen Buchstaben auf der schwarzen Fläche in | |
zartem Rosa gepinselt, während im hinteren Teil der Ausstellung unter | |
anderem die Worte „Je ne pouvais plus“, „Ich konnte nicht mehr“, in ein… | |
handgeschöpften Papier von Camille Derniaux fast unsichtbar vor einem | |
Lichtkasten erscheinen. | |
Die minimale Arbeitsweise Derniaux’ hat es auch dem Bildhauer Cyril Zarcone | |
angetan, der Werke der jungen Absolventin im Herbst in seinem Studio zeigen | |
wird, welches er viermal im Jahr für Ausstellungen befreundeter | |
Künstler:innen öffnet. | |
## Einzelausstellungen sind schwierig zu bekommen | |
Solo Sola heißt der Projektraum dann, das erklärte Ziel Zarcones ist | |
solidarisches Teilen und Sichtbarkeit: Es sei schwer, jenseits der | |
Vierziger Einzelausstellungen zu bekommen, wenn man es bis dahin „nicht | |
geschafft“ hat, erklärt der Künstler auf der Eröffnung, um auf die zu | |
gelangen, man tatsächlich ein paar miefig-schummrige Straßentunnel | |
durchqueren muss, in denen man lieber nicht zu sehr über die miese | |
Kriminalstatistik der Stadt nachdenken will. | |
Anlässlich des Art-O-Rama-Wochenendes präsentiert er Werke von Carin | |
Klonowski. Auch hier gibt es digitales Ornament, zerbrochene CDs, Plexiglas | |
und Spiegel – nicht nur die Fülle an Platz, Freiheit und Graffiti in der | |
Stadt, auch die dominierende Ästhetik schreit einem an jeder Ecke | |
„Nullerjahre“ ins Gesicht. | |
Wie von Zarcone angedeutet, gibt es in den anderen Projekträumen der Stadt | |
eher Gruppenausstellungen zu sehen, und zwar so viele, man kommt kaum | |
hinterher. Er selbst zeigt seine Arbeiten in der Pop-up-Ausstellung | |
„Border-Line“, kuratiert vom venezianischen Kuratorinnen-Kollektiv a.topos. | |
## Geairbrushte Zombies | |
Nur wenige Arbeiten weiter hängen Werke von Caroline Douville, die | |
ebenfalls eine wirklich fantastische Malerei geairbrushter Zombies bei | |
Agent Troublant zeigt, einem Projektraum, dessen Gruppenschau mit dem | |
passenden Titel „True Belief“ wiederum von Erratum Projects aus Berlin | |
organisiert wird und auch ein Werk von Ix Dartyre ausstellt. Dartyres | |
Arbeiten wurden für den Preis „Prix Région Sud Art“ nominiert – und sind | |
damit auf der Messe zu sehen. | |
Dieses Wiederfinden und Erkennen geschieht schnell in Marseille. Die Szene | |
ist gleichzeitig gigantisch und winzig – und erfüllt von der Großzügigkeit | |
und dem gemeinsamen Miteinander, was immer dann entstehen kann, wenn genug | |
für alle da ist. Am deutlichsten wird dies auf dem Festival „Systema“, | |
welches zum fünften Mal im Palais Carli, einem alten Musikkonservatorium | |
stattfindet, das am Freitagmittag so verlassen daliegt, dass man fast das | |
Gefühl bekommt, aus Versehen den Hintereingang benutzt zu haben, wenn man | |
es betritt. | |
Im Treppenhaus blättert dort zaghaft die Tapete von den Wänden und krümelt | |
leise auf Tische voller Archivmaterial von [3][John Giornos AIDS Treatment | |
Project]. Im Innenhof stöpseln junge Menschen an Synthesizern auf einer | |
verlassenen Bühne herum, in der leer geräumten Bibliothek findet sich eine | |
ganze Etüde zu anthropomorphen Holzfundstücken verschiedener | |
Künstler:innen, und im Flur projiziert der Marseiller Olivier Lubeck mit | |
kleinformatigen Videoprojektoren charmant analog gefilmte Loops auf eine | |
historische David-Figur. | |
Das ganze Gebäude, das von nicht kommerziellen Projekträumen von Korea bis | |
in die USA bespielt wird, ist von subtil ortsspezifisch präsentierter Kunst | |
erfüllt. | |
## Das Gespenst der Gentrifizierung | |
Leicht könnte man vorauseilend wehmütig werden, lässt man sich vom | |
Marseiller Kunsttreiben mitreißen. Fast schon mit automatischem Misstrauen | |
blickt man auf sich selbst und die anderen Touristen. Auf zu teure Schuhe, | |
deren voll tönenden Absätze klappernd das Gespenst der Gentrifizierung | |
ankündigen könnten. | |
Sollte man überhaupt über Marseille schreiben? Es vorantreiben, dass immer | |
mehr Menschen auf der Flucht vor den immer gleich machenden Ketten und der | |
Suche nach dem „authentischen“ Gefühl in die Stadt drängen? Ist es nicht … | |
schon lange zu spät? Oder muss man es gerade deswegen tun? | |
Am Ende bleibt nur, darauf zu hoffen, dass die Stadt tatsächlich begreift, | |
was für ein unermesslicher Schatz ihr überbordendes Kunstmilieu ist – und | |
wie sehr man es beschützen muss. Vielleicht am allermeisten vor dem eigenen | |
Ruhm. | |
Die Recherche wurde von der Organisation Fræme unterstützt. | |
6 Sep 2025 | |
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## AUTOREN | |
Hilka Dirks | |
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