| # taz.de -- Berlin-Kreuzberg in den 1970ern: Zwischen Schutt und Blumen | |
| > Die Fotografien Wolfgang Krolows im opulenten Bildband „Kreuzberg die | |
| > Welt“ erzählen vom vielstimmigen Alltag Westberlins der 1970er und 80er. | |
| Bild: Spiel und Spaß in der Dresdener Straße | |
| Ein Foto zeigt einen Polizeieinsatz am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg. In | |
| den 1980er-Jahren befand sich hier ein Supermarkt der Kette „Real“: der | |
| Nahversorger für den Kiez, für Hausbesetzer, türkische Familien und | |
| pensionierte Kreuzbergerinnen. Inzwischen nächtigen Touristen im | |
| historischen Kaufhaus, das als „Orania“ einen neuen Namen und ein anderes | |
| Publikum gefunden hat. Anfangs flogen noch Steine gegen die Scheiben des | |
| 2017 eröffneten Boutique-Hotels samt Restaurant. Mittlerweile stört sich | |
| kaum noch jemand am „Eindringling“ im Herzen Kreuzbergs. | |
| Fotos aus dem alten Kiez versammelt der opulente Bildband „Kreuzberg die | |
| Welt“: rund 200 Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die [1][der Fotograf Wolfgang | |
| Krolow] in den 1970er- und 1980er-Jahren in Westberlin aufgenommen hat. Auf | |
| knapp 280 Seiten entfaltet sich ein Panorama aus bröckelnden Hinterhöfen, | |
| Straßenfesten und politischen Kundgebungen – Chronik und Kommentar einer | |
| Epoche, die heute schwer vorstellbar scheint. Dabei ist der Band nicht | |
| streng chronologisch aufgebaut, sondern in thematische Kapitel gegliedert, | |
| die ein dichtes Geflecht aus Alltag, Widerstand und Aufbruch bilden. | |
| Die Bilder zeigen SO 61 – den heute „bürgerlichen“ Teil Kreuzbergs und | |
| benannt nach dem damaligen Postzustellbezirk – genauso wie SO 36, damals | |
| der hinterste Winkel West-Berlins. Dort, wo Leerstände und Abrisspläne das | |
| Straßenbild bestimmten, formierte sich die Hausbesetzerbewegung. Die | |
| städtische Planung sah vielerorts nichts als Autoverkehr vor: Die | |
| berüchtigte „Südtangente“, als Bundesautobahn A 106 gedacht, sollte das | |
| nördliche Kreuzberg durchschneiden und in einem gigantischen Knoten am | |
| Oranienplatz auf die geplante A 102 treffen. | |
| Die bestehenden Altbauwohnungen in Kreuzberg verfielen darüber; für viele | |
| war dies eine Provokation. Die Antwort war radikal einfach: Menschen zogen | |
| in die halbruinösen Häuser, legten Matratzen auf den Boden und machten sich | |
| ein Zuhause. Was heute romantisch wirken mag, war das Gegenteil: | |
| Hausbesetzung war eine Straftat, die der CDU-Hardliner Heinrich Lummer, der | |
| 1981 Berliner Innensenator wurde, energisch verfolgte. | |
| ## Protest und Alltag | |
| Krolows Bilder dokumentieren die mitunter militanten Auseinandersetzungen | |
| auf der Straße und verdeutlichen einen wesentlichen Unterschied zu vielen | |
| gegenwärtigen Protestaktionen: Die damaligen [2][Hausbesetzer*innen] | |
| setzten nicht auf den Staat, sondern auf Selbstorganisation – der Staat | |
| galt ja gerade als das System, gegen das man sich stellte. | |
| Der Band erzählt nicht nur von Politik, sondern auch vom vielstimmigen | |
| Westberliner Alltag: türkische Familien, Punks, Kinder, arme Rentner*innen, | |
| studentische Bohème. Krolows fotografischer Blick ist ruhig und zugleich | |
| empathisch; er verschmolz mit seinem Umfeld, ohne sich anzubiedern. | |
| Kinder spielen zwischen Schutt und Blumen, alternative Mode flaniert an | |
| Gemüseläden vorbei, während die Mauer den Horizont bedeutet. Die Straßen | |
| wirkten breit und leer – das Fehlen von Menschen und von Autos war ein | |
| auffälliges Kennzeichen des damaligen West-Berlins. | |
| ## Ein Stück Geschichte | |
| Vom rauen Charme jener „Inselstadt“ ist heute wenig geblieben. In Kreuzberg | |
| herrscht alltäglicher Trubel, gerade auf der Oranienstraße reihen sich | |
| Take-away-Imbisse an Spätkaufs, Optiker an Hipster-Cafés. Doch zwischendrin | |
| finden sich noch Parolen und Sticker, die etwa die Enteignung von | |
| Wohnungskonzernen oder den Stopp der geplanten Stadtautobahn A100 fordern. | |
| Für alle, denen das auffällt, ist ein Blick in Krolows Bildband | |
| lohnenswert, zeigt er doch eine subkulturelle Traditionslinie. Wer sich auf | |
| Krolows Kreuzberg einlässt, entdeckt ein Stück Berliner Geschichte und wird | |
| zum heutigen Hinschauen und Mitmachen eingeladen. In Zeiten rasanter | |
| Gentrifizierung inspiriert der Band: Stadt bleibt weiter ein Labor für | |
| Utopien. | |
| 9 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christopher Wimmer | |
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