# taz.de -- Gut 100 Tage Schwarz-Rot: Muss ja | |
> Union und SPD haben sich atmosphärisch der Ampel angenähert. Klausuren, | |
> Grillfeste und Joggingrunden sollen es richten. Kann das funktionieren? | |
Bild: Mit einem Selfie fing es bei der Ampel auch an: Jens Spahn (CDU), Matthia… | |
Aus Würzburg taz | Die Laufgruppe, die sich am Freitagmorgen um kurz nach | |
sechs in der Würzburger Innenstadt trifft, ist erkennbar guten Willens. Es | |
regnet in Strömen. Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, | |
Dirk Wiese, wippt im FC-Bundestag-Shirt auf und ab, Fraktionsvize Siemtje | |
Möller wirft sich eine Regenjacke über, CDU-Generalsekretär Carsten | |
Linnemann erscheint noch etwas verschlafen in Laufshorts, genauso wie | |
CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann. Hoffmann stemmt die Arme in die | |
Hüften: „Wo wolln mer lang, ein Stück durch die Stadt, dann den Main | |
runder? Also los“, gibt er den Takt vor. Ein Trupp Läufer:innen traben | |
unter Führung der CSU in den Freitagmorgen. | |
In Würzburg haben sich die [1][Geschäftsführenden Vorstände von Unions- und | |
SPD-Fraktion zwei Tage zur Klausur getroffen], über 30 Politiker:innen, der | |
Maschinenraum der Koalition. Von „Teambuilding“ ist die Rede, Hoffmann | |
selbst hat von „Trainingslager“ gesprochen. Insofern passt die Laufgruppe | |
ins Bild. | |
Und darum geht es in erster Linie, um Bilder. Man spricht viel hinter | |
verschlossenen Türen, zelebriert Vertraulichkeit unter den Augen von knapp | |
100 Journalist:innen, präsentiert am Ende ein Arbeitsprogramm mit dem Titel | |
„Deutschland voranbringen“, das entlang des Koalitionsvertrags die | |
gemeinsamen Schritte für die kommenden Wochen und Monate skizziert. Aber | |
Papier ist für die Organisatoren bei dieser Klausur zweitrangig, wichtig | |
ist in erster Linie das Signal an die Öffentlichkeit: „Wir kriegen das | |
zusammen hin.“ | |
Daran hatten viele Menschen zuletzt Zweifel. Die ersten gut hundert Tage | |
der Koalition haben zahlreiche Bruchlinien offengelegt, zwischen und unter | |
den drei Parteien. Bereits den Start hat man verstolpert. Zwölf Stimmen | |
Mehrheit reichten nicht aus: [2][Im ersten Kanzlerwahlgang fiel Friedrich | |
Merz durch]. Bei der Suche nach den Verantwortlichen zeigen Union und SPD | |
bis heute mit dem Finger aufeinander. | |
## Wo ist Friedrich Merz? | |
Als man glaubte, einigermaßen Tritt gefasst zu haben, drohte die zweite | |
Wahlschlappe. Anfang Juli wollten mehrere Dutzend Unionsabgeordnete trotz | |
fester Zusage ihrer Führung [3][eine der beiden SPD-Kandidatinnen für das | |
Bundesverfassungsgericht nicht mittragen], die Wahl wurde in letzter | |
Minute abgesagt. Die bisherige Machtmaschine CDU präsentierte sich als | |
wackelig, das verunsichert nicht nur die SPD. Der Eindruck, den die | |
Koalition zur Sommerpause bietet: zerstritten und einander misstrauend. | |
Friedrich Merz, der sich auf europäischer Ebene als neue Führungsfigur nach | |
vorne gespielt hat, lässt diese Führung in den eigenen Reihen vermissen. | |
Viele in der Unionsfraktion fühlen sich von ihm nicht mitgenommen. Manchen | |
steckt noch Merz’ Kehrtwende bei der Schuldenbremse in den Knochen, zuletzt | |
hat seine Entscheidung, keine Rüstungsgüter mehr an Israel zu liefern, die | |
in Gaza eingesetzt werden könnten, intern für Aufruhr gesorgt. Merz hatte | |
die Entscheidung so gut wie allein getroffen und auch Spitzenleute nicht | |
eingebunden. | |
Und in der Koalition heizt der Kanzler Konflikte eher an, als dass er sie | |
moderiert – etwa, als er zuletzt der CDU-Basis versprach, er werde es der | |
SPD bei der Debatte um die anstehenden Sozialreformen nicht leicht machen, | |
sich auch von Begriffen wie „[4][Sozialabbau“ und „Kahlschlag]“ nicht | |
irritieren lassen. Viele Sozialdemokraten verstanden das als Kampfansage. | |
Nun soll also alles besser werden. Nach dem Treffen in Würzburg wollen sich | |
Mitte September die 328 Abgeordneten der Koalitionsfraktionen zum | |
gemeinsamen Grillen in Berlin treffen, Ende September will die Regierung in | |
Klausur gehen. Aber reicht das aus, um die Stimmung zu drehen? | |
## Keine Liebesheirat | |
Sosan Azad ist Mediatorin und Gründerin von „Streit entknoten“. Sie | |
vermittelt normalerweise bei Konflikten in Firmen oder bei | |
Familienstreitigkeiten. Klar könnten gemeinsame Grillabende helfen, | |
einander besser zu verstehen, sagt Azad. „Entscheidend ist aber nicht nur, | |
welche Würste auf den Grill gepackt werden, sondern auch, welche in den | |
Müll entsorgt werden, weil sie faul sind.“ Sie rät allen drei Parteien, | |
sich jetzt „zusammenzureißen“, nach innen Tacheles zu reden aber nach auß… | |
das Wohl des Landes über die eigenen Interessen zu stellen. „Denn alle drei | |
Parteien sitzen in dem selben wackeligen Boot. Scheitert die Koalition, | |
gehen sie zusammen unter.“ | |
Die gemeinsame Erzählung für diese Regierung lautet schlicht: Keine | |
Liebesheirat, kein Projekt, sondern eine Arbeitskoalition, die die | |
Probleme, vor denen Deutschland steht, lösen muss. Und zwar ohne dass die | |
AfD die Gelegenheit bekommt, mitzumischen. Aber trägt das? Braucht es nicht | |
doch ein verbindendes Narrativ? | |
Die Sehnsucht nach einer kohärenten, gemeinsamen Koalitionserzählung in | |
turbulenten Zeiten sei verständlich, meint die Politikwissenschaftlerin | |
Julia Reuschenbach. „Aber auch naiv. Vielleicht genügt es einfach, den | |
Beziehungsstatus ehrlich zu beschreiben: Es ist kompliziert, aber wir sind | |
trotzdem zusammen.“ | |
Die Mediatorin Azad findet ebenfalls, man müsse realistisch bleiben. | |
„Schwarz-rot hat es gerade mal geschafft, eine Regierung ohne die AfD zu | |
bilden. Diese Koalition muss das Land jetzt leiten, nicht führen.“ Die | |
Unterscheidung kommt aus dem Unternehmensvokabular. Leiten hieße, „das, was | |
im Alltag anfällt, einigermaßen gut zu meistern und nicht noch mehr Fehler | |
zu machen“. Erst wenn das geschafft sei, komme die Führung, nämlich | |
übergreifend und in langen Linien zu denken. „Das macht man in der Regel | |
nur, wenn man sich eine langjährige Zusammenarbeit vornimmt“, sagt Azad. | |
## Großes Zusammenraufen | |
Momentan ist das Ziel der Koalition, diese Legislatur zu überstehen, eine | |
Zusammenarbeit darüber hinaus mag sich niemand ausmalen. | |
Auch frühere Bündnisse aus Union und SPD, die damals noch Große Koalitionen | |
hießen, arbeiteten alles andere als reibungslos zusammen. Als sich die | |
damaligen Fraktionsvorsitzenden Andrea Nahles (SPD), Volker Kauder (CDU) | |
und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt 2018 auf der Zugspitze trafen, | |
war auch schon von „Teambuilding“ die Rede. Man stritt sich über das Thema | |
Migration, kurz zuvor hatte die SPD eine No-Groko-Entscheidung abgewendet. | |
Die Koalition hielt bis zur regulären Wahl 2021, doch gerade in der SPD war | |
man überaus erleichtert, nach der jahrelangen Agonie endlich eine Regierung | |
ohne die Union bilden zu können. Wohl auch deshalb berauschte man sich zu | |
Beginn so sehr an der Ampel mit Grünen und FDP, überhöhte sie gar zur | |
„Fortschrittskoalition“. | |
Nun muss man also doch wieder mit der Union regieren und liegt inhaltlich | |
und atmosphärisch weiter auseinander als zuvor. Die Union führte einen | |
harten Wahlkampf gegen die Parteien links der Mitte, der in Merz’ Ausspruch | |
von „linken und grünen Spinnern, die nicht alle [5][Tassen] im Schrank | |
haben“ gipfelte. Die SPD schenkte der Union auch nichts, Merz wurde als | |
kalter Neoliberaler ohne Impulskontrolle hingestellt. | |
## Männerfreunde | |
Vom Intimfeind zum Partner in wenigen Wochen, viele Sozialdemokraten haben | |
immer noch Mühe, diese Wendung gedanklich nachzuvollziehen. Merz und | |
SPD-Finanzminister sowie Vizekanzler Lars Klingbeil haben zwar eine | |
verlässliche Arbeitsbeziehung aufgebaut, duzen sich und tauschen regelmäßig | |
SMS aus. Doch die neue SPD-Ko-Parteivorsitzende Bärbel Bas ist bisher eher | |
Zuschauerin dieser neuen Männerfreundschaft, das „Du“ soll Merz ihr noch | |
nicht angeboten haben. | |
Hinzu kommt: Klingbeil und Bas leiten mit dem Finanzministerium und dem | |
Arbeitsministerium zwei Mega-Ressorts und müssen gleichzeitig eine extrem | |
verunsicherte SPD wieder aufrichten. Die einstige Volkspartei droht | |
dauerhaft unter 20 Prozent zu fallen. Auch die Union ist weit von jenen | |
41,5 Prozent erntfernt, mit denen sie unter Angela Merkel die Wahl 2013 | |
gewann. Zusammen kommen beide Parteien in Umfragen derzeit auf 40 Prozent – | |
und hätten damit im Bundestag keine Mehrheit. | |
„Die Wählerschaft der politischen Mitte ist geschrumpft und die | |
außenpolitischen Rahmenbedingungen sind schwieriger geworden“, sagt | |
Politikwissenschaftlerin Reuschenbach. Schwarz-Rot komme in dieser | |
Situation die besondere Verantwortung zu, „sich um die demokratische Mitte | |
zu kümmern und den Menschen im Land Verlässlichkeit zu signalisieren“. Die | |
Koalition ist demnach nicht nur zur Zusammenarbeit, sondern zum Erfolg | |
verdammt. | |
Die größte Gefahr sei derzeit nicht, dass die [6][Regierung zerbricht], | |
sagt Reuschenbach. „Sondern dass wir an den wirklichen Baustellen nicht | |
weiterkommen, etwa bei Wirtschaft, Energieversorgung oder der Reform der | |
Sozialsysteme.“ Stigmatisierende Debatten, die einzelne Gruppen | |
gegeneinander ausspielen, [7][nutzten am Ende nur der AfD]. | |
## Gedämpfte Erwartungen | |
Der Koalition müsse es gelingen, schwierige Themen anzugehen, ohne dass die | |
Parteien in eigene Profilierungssehnsüchte verfielen. „Reformen bei Rente, | |
Pflege, Gesundheit, das sind für alle drei Parteien keine Gewinnerthemen“, | |
so die Politikwisssenschaftlerin. Aber es müsse eben gelingen, in der Sache | |
voranzukommen. | |
Das wird alles andere als leicht. [8][Merz hat einen „Herbst der Reformen“ | |
angekündigt und selbst Unionsabgeordnete warnen davor, allzu hohe | |
Erwartungen zu schüren.] Bei der Reform des Bürgergeldes sind sich Union | |
und SPD zwar weitgehend einig. Ministerin Bas will im Herbst einen | |
Gesetzentwurf vorlegen, der die Betroffenen stärker in die Pflicht nimmt. | |
Aber was die Zukunft von Gesundheit, Rente und Pflege anbelangt, liegen | |
Union und SPD zum Teil weit auseinander. Vor allem die CDU will Leistungen | |
privatisieren oder kürzen, die SPD setzt auf den Staat. In weiser | |
Voraussicht hat man diese Themen in Kommissionen ausgegliedert, von denen | |
eine, die zur Rente, noch nicht mal eingesetzt ist. | |
## Gemeinsamer Lauf | |
Der erste Stresstest wartet im September: die Wahl der drei | |
Verfassungsrichter:innen. „Diesmal muss es klappen“, sagt | |
SPD-Fraktionschef Miersch. Für die ursprüngliche Kandidatin [9][Frauke | |
Brosius-Gersdorf] habe man bereits Ersatz gefunden, wen, will Miersch nicht | |
verraten. Die Signale aus der Union sind vorsichtiger, man arbeite daran, | |
dass diesmal alles glatt geht. Das bedeutet vor allem Arbeit nach innen. | |
Am Ende der Würzburger Klausur betont SPD-Fraktionschef Miersch immerhin: | |
„Ich habe ein gutes Gefühl.“ Es sei richtig gewesen, erst das bislang | |
Geschehene zu reflekieren und dann gemeinsam auf die nächsten Schritte zu | |
schauen. Hoffmann, der CSU-Landesgruppenchef, hebt noch einmal die | |
gemeinsamen Schnittmengen hervor. Und Spahn appelliert: „Union und SPD sind | |
zum Erfolg verpflichtet.“ Das hätten den Koalitionären bei einem | |
Abendspaziergang durch Würzburg auch Passanten mit auf den Weg gegeben. | |
Die schwarz-rote Laufgruppe kehrt am Freitagmorgen nach einer Stunde | |
zurück. SPD-Politiker Wiese informiert in einer SMS: „Keiner gewonnen. | |
Gemeinsamer Lauf.“ Immerhin. | |
29 Aug 2025 | |
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