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# taz.de -- Bilanz des Festivals Tanz im August: Sie scheren sich nicht um Auth…
> Identität geklaut: Damit spielten gleich drei Tanzstücke auf dem Festival
> Tanz im August in Berlin. Das geriet mal aufregend, mal eher anstrengend.
Bild: Aus Bergen von Stoff tauchen Figuren auf und formen sich zu amorphen Land…
Wie tanzt es sich mit dem Kopf unter dem Arm? Ziemlich gut gelaunt, zumal
wenn es nicht der eigene Kopf ist. In Lia Rodrigues’ Stück „Borda“ bildet
die eine Hälfte ihrer brasilianischen Companhia de Danças mit verschränkten
Armen eine nach vorne tanzende Reihe, während die zweite Hälfte gebückt
folgt, die Köpfe durch die Armbeugen der Vorderen gesteckt. Ein groteskes
und ornamentales Bild, man denkt an Geköpfte, aber auch an gekrönte
Häupter, denn der Kopfschmuck wechselt schnell in dieser Passage von
„Borda“.
Karneval? Ja und nein, denn das ist zu kurz gegriffen für die Metamorphosen
in „Borda“. Im ersten Teil der Performance herrschte lange Dämmerung über
der Bühne im Haus der Berliner Festspiele. Erst langsam und in Stille
tauchten aus Bergen von Stoff und Plastikfolien Figuren auf, mit Hauben,
Turbanen und Kufiyas, versanken wieder in der amorphen Landschaft, formten
sich zu dynamischen Gruppenbildern, schmolzen zusammen. Bilder von Max
Ernst oder Jean Dubuffet konnten einem in den Sinn kommen, die das
Menschliche wie Kuchenteig zerfließen lassen – aber auch Szenen des
Orientalismus.
## Sie rasen durch einen Wettbewerb um Sichtbarkeit
Im zweiten, beschleunigten Teil wurde die vorher weiße Szenerie bunt und
glitzernd, glamourös und sexy, die Kleidungsstücke, der Tanz dynamisch und
triumphierend, ausgelassen und wild. Die Kostümteile zitierten dabei
verschiedene folkloristische, indigene und mythologische Figuren, die
Tanzenden aber scherten sich nicht um Authentizität oder Klischees, sie
rasen jetzt durch einen Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit.
Die [1][Choreografin Lia Rodrigues] ist dem HAU in Berlin, federführend bei
dem Festival Tanz im August, als Künstlerin schon länger verbunden. Sie ist
bekannt dafür, in Rio de Janeiro in einer Favela zu arbeiten: Ihre
Companhia kommt von dort, Erfahrungen der Ausgrenzung haben sie alle. Das
mag nachhallen in der ungestalten, sich durch Berge von Stoff wühlenden
Masse Mensch, die sie im ersten Teil bilden, und im Furor der Präsentation,
der sie im zweiten Teil umtreibt.
Auch [2][Ligia Lewis], in Berlin lebende Choreografin, kommt immer wieder
ins HAU. Ihre erste Zusammenarbeit mit dem schwedischen Cullberg-Ballett
hatte [3][Ricardo Carmona, der künstlerische Leiter des Festivals], für das
letzte Wochenende programmiert. Doch „Some Thing Folk“ war ein äußerst
seltsames Stück, in dem es schwerfiel, den Weg zu finden zwischen dem
Bühnengeschehen und dem in der Theorie aufgespannten Horizont, den man im
Programmheft nachlesen konnte. Demnach ging es Lewis sowohl darum, sich
gegen eine Vereinnahmung von folkloristischen Tänzen durch
nationalistische Kräfte zu wehren, als auch gegen eine naive Verklärung von
multikultureller Vielfalt einzutreten. Hehres Ziel, aber nicht
nachvollziehbar vermittelt.
Ein Performer fällt immer wieder von einem Holzklotz, schreiend. Ein
anderer kommt vor zur Rampe, das Gesicht fragend und unsicher, den Rückweg
rutscht er auf dem Hintern, mit Fersen und Händen einen Rhythmus trommelnd.
Das Ensemble schneidet Grimassen. Lange kommt niemand von der Stelle, alles
wiederholt sich, die Bewegungen sind provozierend ungelenk und trampelig,
ihre Laute sind unartikuliert und unglücklich, die Gesichter verzerrt. Sie
senden Signale des Zweifels aus: Was bin ich und was mache ich hier?
Auch in diesem Stück gibt es einen bewegteren zweiten Teil. Sie beginnen
paarweise miteinander zu tanzen, Square Dance und Tap Dance tauchen in
Spurenelementen auf, manchmal stampft es wie im indischen Kathak, oder ist
das ein Schuhplattler? Nach einem kurzen Moment der Fröhlichkeit bleibt
einer am Boden liegen, ein anderer wird später weggeschleift wie erlegte
Beute. Doch aus den Szenen lässt sich nur schwer ein Referenzrahmen
entschlüsseln, so laufen auch die zuletzt auf dem Vorhang erscheinenden
Worte ins Leere.
Ein drittes Stück aber gab es in der letzten Festivalwoche, das furchtlos
vor falscher Vereinnahmung durch eine Welt gefundener Posen surfte,
[4][„Trailer Park“ von Moritz Ostruschnjak], getanzt von dem Ensemble
tanzmainz, aufgeführt im Radialsystem. Ein Hauch von Diesel und Benzin, von
Motoröl und Energydrinks schien über der Bühne zu schweben, deren Rand voll
gestellt war mit Dosen. Die sportlichen Kostüme waren voll gedruckt mit
Logos, alles und jeder wirbt für irgendwas. Aber mit der Kreativität des
Sampelns wird die Flut der Zeichen zu einem Kaleidoskop, das artistisch und
ästhetisch reich an Formen ist. Auch wenn man die einzelnen
Bewegungsvokabeln nicht entschlüsseln kann, so wird man doch mitgerissen
von der Dynamik ihrer Grammatik und der Komplexität ihrer Syntax. Da kann
man schon ins Schwärmen geraten.
1 Sep 2025
## LINKS
[1] /Alles-neu-erfinden/!5757546&s=Lia+Rodrigues&SuchRahmen=Print/
[2] /Ligia-Lewis-ueber-Corona-und-Theater/!5676799
[3] /Festival-Tanz-im-August-in-Berlin/!5949774
[4] /Choreograf-Moritz-Ostruschnjak/!6094561
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Tanz im August
Zeitgenössischer Tanz
Inszenierung
Brasilien
Volkstanz
Tanz im August
Tanz
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