| # taz.de -- Probenbesuch bei Marcos Morau: Im Schutzraum der Nacht | |
| > Er malt mit den Körpern der Tänzer:innen. Ein Porträt des spanischen | |
| > Choreografen Marcos Morau, der mit dem Staatsballett Berlin arbeitet. | |
| Bild: Marcos Morau bei einer Probe zu „Wunderkammer“ | |
| Unter dem Dach der Deutschen Oper in Berlin entsteht im großen Probensaal | |
| das Stück „Wunderkammer“ mit dem [1][Staatsballett Berlin]. Zwei Wochen vor | |
| der Premiere darf ich bei einer Probe zuschauen. | |
| Die Tänzerinnen und Tänzer, mehr als zwanzig, stehen an einer Stange, wie | |
| beim Exercise, dem täglichen Training, aber rücken oft viel enger zusammen, | |
| verschmelzen fast zu einem vielgliedrigen Körper. Laut wird der Takt | |
| gezählt für die Pliés und Dégagés, das Heben der Arme, Drehen der Köpfe, | |
| für Attitüden und halbe Wendungen. | |
| Schnell wird deutlich, dass dies anders ist als ein klassisches Training. | |
| Da gibt es kleine Störungen, Verschiebungen der Betonung, schnelle | |
| Gewichtsverlagerungen, ein Shiften in der Körperachse, wedelnde | |
| Handgelenke, ein Ruckeln des Kinns. | |
| Manchmal sieht es aus, als würde mehrmals im Bewegungsfluss die Stopptaste | |
| gedrückt. All diese Hemmnisse verändern den Blick auf das Vertraute. Das | |
| kann etwas Komisches und Stolperndes hervorrufen, als ob ein Roboter | |
| menschliche Bewegungen nachahmte. Oder wie wenn ein Bild für Momente in | |
| Pixel zerfällt, bevor es sich wieder neu zusammensetzt. | |
| Miniaturhafte Abweichungen von der Linie | |
| Der [2][spanische Choreograf Marcos Morau] arbeitet mit dem Staatsballett. | |
| In konzentrierten 90 Minuten feilt er in dieser Probe an den miniaturhaften | |
| Abweichungen von der klassischen Linie, an den Sprüngen der Betonungen, an | |
| den Rissen in der klassischen Tradition. | |
| Etwas ist da aus der Spur geraten, hat die Verbindung zum Körper, das | |
| Selbstverständliche der ästhetischen Sprache verloren. Als ob sie für kurze | |
| Momente aus der Körperbeherrschung hinausgeworfen wären, sinken Einzelne | |
| aus der Reihe unvermittelt zu Boden und werden von anderen aufgefangen und | |
| hochgezogen. | |
| Diese Momente der Abweichung gehören zur Handschrift von Marcos Morau, ob | |
| er sich mit Flamenco und klassischen spanischen Tänzen wie in seinem Stück | |
| „[3][Afanador“, das er 2024 mit dem Ballet Nacional de España] (noch bis | |
| Jahresende auf Arte Concert zu sehen) entwickelt hat, oder mit dem | |
| klassischen Ballett beschäftigt. | |
| In Barcelona leitet er seine eigene Compagnie La Veronal, die er noch sehr | |
| jung, (1982 geboren) vor zwanzig Jahren gegründet hat. Am Staatsballett | |
| Berlin arbeitet er für drei Spielzeiten als Artist in Resident. Er hat | |
| viele Auszeichnungen erhalten, im deutschsprachigen Raum wurde er zuletzt | |
| zum zweiten Mal zum Choreografen des Jahres gewählt. | |
| Stierkämpfer und Flamenco-Tänzer | |
| „Afanador“ war der Bildwelt des kolumbianischen Fotografen Ruven Afanador | |
| eng verbunden, der expressive Bilder von Stierkämpfern oder | |
| Flamenco-Tänzern geschaffen hat. Diese Verknüpfung mit den visuellen | |
| Künsten zieht sich durch das Werk von Marcos Morau, der selbst Fotografie | |
| studiert hat. | |
| Mit seiner Companie La Veronal war er mehrmals nach Berlin eingeladen zum | |
| Festival Tanz im August. Da konnte man „Siena“ sehen, das im Setting an ein | |
| Museum erinnerte. Über die expressiven und skurrilen Tanzszenen lagerten | |
| sich gesprochene, emotional aufgeladene Bildbeschreibungen und so wurde die | |
| Vorstellungskraft gleich zweimal getriggert. 2015 choreografierte er mit | |
| dem norwegischen Nationalensemble „Edvard“, ein Stück, das auf den Maler | |
| [4][Edvard Munch] Bezug nahm. | |
| „Wunderkammer“ aber rekurriert nun nicht auf die Kunstgeschichte der | |
| Wunderkammern, sondern nimmt sich deren Potenzial heraus, auf das | |
| Unerwartete zu treffen. „Wunderkammer“ sei inspiriert „von der Berliner | |
| Nacht, von der Zeit der Weimarer Republik bis zu den Kathedralen des | |
| Techno“, erläutert Morau nach der Probe. | |
| „Die Nacht kann ein Ort der Freiheit, der Zuflucht, der Diversität sein, | |
| die ihre eigenen Regeln hat. Wenn die Welt zusammenbricht, wie in der | |
| Weimarer Republik oder in der Gegenwart, ist sie ein Rückzugsort. Aber auch | |
| in ihr gibt es Zurückweisungen, wird der Wunsch nach Zugehörigkeit nicht | |
| immer erfüllt.“ | |
| Kultureller Raum voller Blasen | |
| Das geht auch auf seine Erfahrungen mit der Stadt Berlin zurück. Einerseits | |
| kann ihn vieles hier begeistern, aber er hat Berlin in den letzten Jahren | |
| auch als einen kulturellen Raum erlebt, in dem vieles in Blasen zerfällt, | |
| die sich gegenseitig nur wenig wahrnehmen und sich nach außen elitär | |
| abschotten. | |
| Die Sequenz, die an diesem Tag geprobt wurde, ist ein Teil des Stücks, das | |
| auch auf der Bühne die Atmosphäre des Probenraums, des Warming-ups an der | |
| Stange beibehält. Langsam entwickelt sich daraus die Show. | |
| Die Bildwelten, die Morau in seinen Stücken zitiert, sind oft mit | |
| Kulturgeschichte, manchmal gar mit einem ganzen Traditionsballast | |
| aufgeladen. Der Surrealismus und Luis Buñuel standen Pate für die Stücke | |
| „Voronia“ und [5][„Sonoma“] von La Veronal, mit durchaus düsteren Visi… | |
| Der Soundtrack, mitunter sakrale Gesänge oder Glocken, die Kostüme und | |
| einzelne Szenen wecken dabei auch Assoziationen an eine stark vom | |
| Katholizismus geprägte Welt. In einer solchen sei er zwar erzogen worden, | |
| sagt Morau, aber er sieht sie kritisch. | |
| Konzepte von Schuld und Strafe | |
| „Religion kann dich zerstören mit ihren Konzepten von Schuld und Strafe, | |
| aber sie ist auch ein großer Erzeuger von Bildern und Imaginationen. Die | |
| Geschichte der Kunst ist stark davon geprägt. Obwohl ich kein Gläubiger bin | |
| und eine katholische Erziehung genossen habe, erkenne ich, dass ein | |
| Großteil meiner Bilder aus jener Vergangenheit stammt, die ich jetzt aus | |
| der Distanz betrachte.“ | |
| Über die emotionale Kraft ihrer Bilder rutscht sie denn auch in die | |
| visuelle Sprache des Choreografen und in einzelne Gesten. | |
| Wenn Morau mit dem Staatsballett probt, in die Details hineingeht, dann | |
| bewegt er sich selbst und zeigt mit seinem Körper, was er meint. Dennoch | |
| betont er, dass er selbst nicht als Tänzer trainiert sei, keine | |
| Tanzausbildung habe. Aber Bewegungen haben ihn von jeher interessiert. Er | |
| entwickle seine Choreografien nicht aus dem „muskulären Apparat, sondern | |
| aus Augen, Bauch, Herz und Hirn“. Auch im Gespräch ist seine Sprache | |
| bildhaft. | |
| Pendeln zwischen den Arbeitsformen | |
| Was der Unterschied der Arbeit mit seiner eigenen Compagnie La Veronal und | |
| der mit dem Staatsballett sei, frage ich ihn. „Dream bigger“, ist eine | |
| Antwort, beim Staatsballett hat er viel mehr Tänzer:innen, eine größere | |
| Bühne, ein größeres Budget. Er liebt aber gerade auch das Pendeln zwischen | |
| den beiden Arbeitsformen. | |
| Mit La Veronal sei er einst Underground gewesen, seit mehr als zehn Jahren | |
| aber touren sie weltweit. Und ganz verlässt er seine Tanzfamilie aus | |
| Barcelona auch bei Gastaufträgen nicht. Ein Teil seines Teams, für | |
| Dramaturgie und Kostüme zum Beispiel, kommt mit, um ihn beim Ausarbeiten | |
| seiner Bildwelten zu unterstützen. | |
| 26 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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