| # taz.de -- Inszenierung von Christiane Rösinger: Das Wort des Jahres | |
| > „Leben im Liegen“, so heißt ein Musicalabend von Christiane Rösinger am | |
| > Berliner HAU. Darin schwelgt sie in ihrem Lieblingssujet, dem Müßiggang. | |
| Bild: Im Auftrag ewiger Jugend und Glückseligkeit: Christiane Rösinger inmitt… | |
| Christiane Rösinger wirft eine steile These ins vollbesetzte HAU 1 am | |
| Berliner Hebbeltheater: Teenager und Senioren haben viel gemeinsam. Mit | |
| humorvollem Adlerblick schaut sie auf die Gesellschaft und resümiert: | |
| „Beide sind unbeliebt, weil sie nichts zum Bruttosozialprodukt beitragen | |
| und gern im öffentlichen Raum auf Spielplätzen und Parkbänken herumlungern. | |
| Sie gelten als störrisch, weil sie sich von der werktätigen Bevölkerung | |
| ungern rumkommandieren lassen.“ | |
| [1][Rösinger steht mit ihrem Enkel auf der Bühne], dessen Spezies sie zuvor | |
| mit liebevoll-sezierenden Blick beschrieben hat und geht nun zur | |
| Selbstanalyse über: „Ich bin grade in der Alterspubertät. Das ist die Zeit | |
| des jungen Alters zwischen 60 und 75, wenn man sich an das Altsein gewöhnen | |
| muss, während man sich noch gar nicht alt fühlt.“ Dazu passend schmeißt sie | |
| die Begriffe Seniorin und Teenager in einen Topf, rührt um und raus kommt: | |
| „Senagerin“. Liebe Duden-Redaktion, hier habt ihr das Wort des Jahres! | |
| Rösinger liegt über die Hälfte der Bühnenzeit rum. Sie thront in einem | |
| herrlich dekadenten Morgenmantel auf einem Bettungetüm in der Mitte der | |
| Bühne. „Leben im Liegen“ ist ein Themenabend, der aus einem Liederfundus | |
| aus 35 Jahren schöpft. | |
| ## Fleiß ist Flucht | |
| Die Verteidigung des Müßiggangs durchzieht Rösingers Bühnenleben. Und da | |
| Rösinger sich nie in ein Bühnen-Ich und ein Ich abseits der Bühne | |
| aufgespalten hat, sondern ihr Ich auf die Bühne bringt, glaubt man ihr | |
| jeden Satz und nicht wenige möchte man sich sofort ins Bad hängen wie: | |
| „Fleiß ist Flucht. Wer nicht faul sein kann, fürchtet sich vor sich | |
| selbst.“ | |
| Rösinger hat neben ihrem Enkel FreundInnen mitgebracht, die wie im | |
| Brennglas verschiedene Lebensphasen und ihre Anforderungen spiegeln: So | |
| verkörpert Minh Duc Pham den Künstler in seinen 30ern, Sila Davulcu die | |
| berufstätige Mutter in ihren 40ern und Doreen Kutzke die sportlich | |
| hyperaktive Generation 50+. | |
| Rösinger empfängt sie liegend, hört sich den jeweiligen Stressbericht an | |
| und stellt dem ihren kontemplativen Lebensentwurf gegenüber, den sie sich | |
| nicht erst als Senagerin angeeignet hat, sondern der als generelles Motto | |
| über ihrem Leben steht. Und der mit ihrem KünstlerInnen-Dasein wunderbar | |
| d´accord geht, denn „Bei KünstlerInnen wird Liegen gesellschaftlich | |
| toleriert. Die können auch mal ein paar Jahre eine Schaffenskrise haben.“ | |
| Dass Liegen nur geht, wenn mensch bedient wird, spiegelt Andreas Schwarz | |
| alias Sachar wieder, der wegen Eigenbedarfskündigung aus seiner Wohnung | |
| flog, bei Rösinger Obdach gefunden hat und inzwischen die Rolle eines | |
| Butlers vollendet ausfüllt. Schwarz beherrscht das Lamento aus dem Effeff | |
| und lässt auch noch das „Erbtablett“ der Vermieterin fallen, die wie das | |
| personifizierte Damoklesschwert in die Szenerie hereinplatzt. | |
| ## Alle fünf Minuten kommt ein Lied | |
| Und so kreist der Abend mit der Rösinger-eigenen Spezialmischung aus | |
| Ernsthaftigkeit, Widerständigkeit und zupackendem Humor um die Frage, wie | |
| wir unsere Existenz mit entspannter Würde leben können. Gefühlt alle fünf | |
| Minuten kommt ein Lied. [2][Das Orchester der Müdigkeit mit Kapellmeister | |
| Albrecht Schrader spielt auf] und entwickelt einen leicht schleppenden | |
| Sound, der sich immer weiter in einen reinwebt. | |
| Der Pulsschlag passt sich an, Tiefenentspannung durchdringt jede Pore, | |
| während Hirn und Herz sich an den aufrichtigen Songs, die den Nagel auf den | |
| Kopf treffen, erfreuen. Rösinger schafft es mit ihrem rauen Charme, das | |
| Publikum mit purem Existenzialismus zu konfrontieren und gleichzeitig mit | |
| guter Energie aufzuladen. | |
| So stellt sie ans Ende ihres Leben ist Liegen-Musicals das Lied „sinnlos“ | |
| mit dem Refrain: „Es ist alles so sinnlos / das hält keiner mehr aus / da | |
| muss man sich doch einfach hinlegen / da steht keiner mehr auf.“ | |
| Entspannte, glückliche Menschen stehen danach an der Garderobe und sagen: | |
| „Das hat gutgetan.“ [3][Musiktheater als Gesellschaftsanalyse und | |
| Therapie.] Diese Kombi kann eigentlich nur Christiane Rösinger. | |
| 11 Dec 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katja Kollmann | |
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