| # taz.de -- Der Mehringplatz im Theater: Dem Platz eine Bühne | |
| > Der Mehringkiez gilt als Ort der Probleme. Bei einem | |
| > Nachbarschaftstreffen im Hebbel am Ufer zeigen sich Solidarität und | |
| > Talente der Bewohner:innen. | |
| Bild: Offen für alle, auch für diejenigen, die nicht vom Mehringplatz kommen | |
| Berlin taz | Jenin und Ines stehen in der Mitte des Mehringplatzes. Nicht | |
| der echte Platz, auf dem sie aufgewachsen sind, sondern seine durch | |
| Klebestreifen am Boden und Schilder nachgebildete Version im Haus 2 des | |
| Theaters Hebbel am Ufer. Sogar die große Uhr, die Apotheke und der Eingang | |
| zur U-Bahn an beiden Enden des Saals wurden aus Karton und Papier | |
| rekonstruiert. Die „Wiese“ soll bei der | |
| [1][Mehringkiez-Nachbarschaftsfeier] von den Gästen mit buntem Krepppapier | |
| in den Bastel-Workshops mitgestaltet werden. | |
| Auf der Bühne im hinteren Teil des Platzes schieben sich die Kinder der | |
| Kurt-Schumacher-Schule hastig das Mikrofon zu, um die Fragen des Publikums | |
| zu beantworten. Zur Eröffnung des Fests wurde ihr Kurzfilm „Die Stadt | |
| hinter den Augen“ ausgestrahlt. Kaum ist der Applaus verklungen, stürmen | |
| die jungen Schauspieler Abbas und Assaq ins Foyer und stürzen sich auf die | |
| Nutella-Waffeln und das Popcorn. | |
| Den beiden 12-Jährigen gefielen vor allem die Spezialeffekte des Films und | |
| der Dreh an einem Ort ihrer Schule, den sie bisher nur aus der Ferne | |
| kannten: die Baustelle. Sie ist fast so alt wie die Schüler selbst: Seit | |
| 2012 befindet sich die Schule in einem provisorischen Zustand, da es an | |
| Brandschutz fehlt. Die Schüler mussten jahrelang in Horträume ausweichen. | |
| Vergangenes Jahr demonstrierten die Kinder sogar mit ihren Eltern, damit | |
| der Bau endlich abgeschlossen wird. Bis heute gibt es [2][immer wieder zu | |
| Platzmangel]. | |
| Jenin erinnert sich an ihre Zeit an der Galilei-Schule, damals | |
| „Konkurrentin“ der Kurt-Schumacher-Schule. „Wir hatten ein Schwimmbad und | |
| eine Sporthalle. Die von der Kurt-Schumacher mussten immer bei uns Sport | |
| machen! Wir waren cooler“, erzählt sie und lacht. Die 20-Jährige aus dem | |
| Mehringkiez schätzt das „Heimatgefühl“, das sie überkommt, wenn sie nach | |
| draußen geht und garantiert jemanden trifft, den sie kennt. Auch das | |
| Zusammenhalten und die Hilfe, die sie in ihrer Nachbarschaft erlebt, wenn | |
| die Kinder nach der Schule zur Kreuzberger Musikalischen Aktion e. V. | |
| gehen, machen des Kiez für sie aus. | |
| Mit einer Flasche Traubensaft in der Hand unterhält sich Lisa vor dem | |
| Theater mit den Gästen der Feier. Der Auftritt der fünf etwa zehnjährigen | |
| Mädchen aus ihrem Hip-Hop-Workshop „Sisterhood“ begeisterte das Publikum im | |
| Theater Hebbel am Ufer. Seit vier Jahren leitet die Gründerin der | |
| Rapperinnengruppe [3][Sisterqueens] Rap-Workshops für Kinder. | |
| Im Kiez fühlt sich die Neuköllnerin als willkommener Gast. Die | |
| Bewohner*innen seien herzlich und gastfreundlich. „Der Mehringkiez ist | |
| nicht so groß. Es geht eher in die Höhe“, scherzt die junge Frau mit den | |
| blau gefärbten Haaren. In die Tiefe geht es auch, wenn es um die | |
| persönlichen Hintergründe der Frauen geht, mit denen sie arbeitet. „Es gibt | |
| Migrationsgeschichten über Generationen hinweg … Viel Kultur, kollektives | |
| Gedächtnis auch.“ | |
| Freiraum für Fantasie | |
| Zwischen rassistischen Erfahrungen und der Enge der Schule – Jenin mimt mit | |
| ihren Händen einen schmalen Durchgang – seien kreative Projekte ein | |
| Freiraum für die Fantasie der Jugendlichen. Bereits vor drei Jahren | |
| erzählte Jenin auf der Bühne des Theaters die Geschichte hinter ihrem | |
| Namen. Ihr Großvater war nur wenige Monate alt, als er aus der | |
| palästinensischen Stadt Jenin fliehen musste, bevor er nach Deutschland | |
| kam. Seitdem bewahrt er alle seine Dokumente und den Schlüssel zu seinem | |
| Haus auf. Jenin fragt sich, ob sie diesen Schlüssel irgendwann verwenden | |
| wird. Und ob ihr Großvater das noch miterleben darf. | |
| Jenin blickt glücklich auf die Kufiya auf den Schultern einiger Gäste und | |
| die Binden, die über die Bühne gespannt sind. Im Raum hängen über dem | |
| gebastelten Mehringplatz grüne, weiße, schwarze und rote Tatreez, | |
| traditionelle palästinensische Stickereien, des Vereins Tatreez e. V. | |
| In einer Ecke des Raumes liegen orangefarbene, schwarze und grüne arabische | |
| Kalligrafien auf dem Boden und warten darauf, zu trocknen. Auf dem Tisch | |
| des Kalligrafie-Künstlers stapeln sich die Tintenflaschen neben den | |
| Zeichnungen mit der strahlenden arabischen Kursivschrift. „Der Mehringplatz | |
| heute nach drinnen verlegt“ steht auf einer von ihnen steht in hübscher | |
| deutscher Schrift. | |
| Ziad Sheno beschäftigt sich ununterbrochen damit, die Vornamen der | |
| Feiergäste aufzumalen. Rote Tinte fließt aus seinem Pinsel und gleitet über | |
| das Canson-Papier. Neben seinen Workshops in Neukölln leitet der | |
| irakisch-kurdische Künstler Kalligrafiekurse für Kinder im Stadtteilzentrum | |
| F1. | |
| Als der Nachmittag zu Ende geht, fehlt ihm die Zeit, um den Vornamen einer | |
| letzten Nachbarin zu schreiben. Er zieht eine gelb-orangefarbene | |
| Kalligrafie aus seinem Papierstapel und hält sie ihr entschuldigend hin. | |
| „Farah“ steht darauf – „Freude“ auf Arabisch. | |
| Im Saal des Hebbel am Ufer werden zwischen den Klebestreifen auf dem Boden | |
| bunte Gummis geklebt – mehr Blumen als auf der Wiese des echten | |
| Mehringplatzes. „Ich bin froh, genau dort aufgewachsen zu sein“, sagt | |
| Jenin. Wie in allen Nachbarschaften gäbe es auch dort Probleme und | |
| Auseinandersetzungen. Auch jahrelange Bauarbeiten, wie überall in Berlin. | |
| Aus der Vielfalt der Geschichten und Kulturen entstehe jedoch etwas Neues. | |
| Und ja, vielleicht haben manche Familien nicht so viel Geld wie anderswo. | |
| Deshalb sind solche Treffen, von Konzerten über Orangenkuchen und Kaffee | |
| bis hin zu Workshops, kostenlos. Offen für alle, auch für diejenigen, die | |
| nicht vom Mehringplatz kommen. Denn „es gibt viele runde Plätze in ganz | |
| Berlin. Oder auch auf dieser Welt.“ | |
| 19 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.hebbel-am-ufer.de/programm/festivals-projekte/nachbarschaft-fei… | |
| [2] https://www.tagesspiegel.de/berlin/schule/seit-zwolf-jahren-baustelle-berli… | |
| [3] /Leiterin-ueber-Rap-Workshop-fuer-Maedchen/!5748218 | |
| ## AUTOREN | |
| Gabrielle Meton | |
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