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# taz.de -- Festival "Tanz im August": Wie die Knödel
> Am Anfang stand die Neuerfindung des tänzerischen Vokabulars, dann
> schweifte man in die Ferne. In Berlin findet zum 20. Mal das Festival
> "Tanz im August" statt. Diesjähriges Motto: Volkstanz.
Bild: Auch ein Volkstanz: Schuplattler.
Seit zwanzig Jahren nun renne ich zu diesem Festival, aber eine solch
bestechend einfache Definition von Tanz hör ich zum ersten Mal: "Das Tanzen
ist wie die Knödel drehen", sagt eine füllige Bäuerin und rollt Luft
zwischen ihren Händen, "immer rum und rum und rum". Dann schnappt sie sich
ihren Mann und führt, hoch oben in den Bergen vor der Kulisse der Tiroler
Alpen, vor, wie das Rum und Rum geht. Ihr folgen in "Ragwurz", einem Film
von Veronika Riz über "die Rolle des tänzerischen Ausdrucks im Alltag" der
Bergbewohner Südtirols, noch viele schöne Szenen von Volkstänzen im Schnee,
Rock n Roll in der Scheune, Standard im Wohnzimmer und Techno hinter den
Hühnerställen.
Der Volkstanz war, täuscht die Erinnerung nicht, noch nie Gegenstand des
Festivals "Tanz im August", das vor zwanzig Jahren im Berliner
Hebbeltheater gegründet wurde und seit gut einem Jahrzehnt zu den wichtigen
Tanzfestivals Europas zählt. Bollywood, ja, der indische Khatak, Hiphop,
Breakdance, die Martial-Arts-Künste Asiens: Sie alle sind in diesen zwanzig
Jahren in das Vokabular des zeitgenössischen Tanzes eingeflossen, nicht
nur, um eine geografische und soziale Verortung der Körper zu beschreiben,
sondern gerade auch, um die veränderten Prozesse der Sozialisierung und
Identitätsbildung in Zeiten von Migration und Globalisierung aufzuführen.
Aber keiner sagt es so klar und schön wie der Südtiroler Rock-n-Roller aus
Veronika Riz Tanzfilm: Der Ort, an dem man aufwächst, die Luft, die man
atmet, der eigene Arbeitsrhythmus, das, was man mit den Händen berührt -
all das informiert den eigenen körperlichen Ausdruck.
Der Volkstanz tauchte noch einmal anderswo in dieser Festivalausgabe auf,
aber so moduliert in den Parametern von Rhythmus, Dynamik und Entfaltung im
Raum, so entkleidet von allen Farben, Schnörkeln und Trachten, dass man ihm
als Quelle der abstrakten und kühlen Bewegungsanordnungen erst im
Nachhinein auf die Spur kam. "Hymnen" hieß das Stück nach einer Komposition
von Karlheinz Stockhausen, für die das Ballett de Lorraine, eine
zeitgenössische Company aus Nancy, mit 30 Tänzern nach Berlin kam. Die
brasilianische Choreografin Lia Rodrigues hat die Choreografie zusammen mit
zwei bildenden Künstlern entworfen.
Bevor die Aufführung losging, konnte man Simon Stockhausen zuhören, wie er
über die Musik seines Vaters erzählte. "Hymnen", 1964 begonnen, folgte laut
Ankündigung des Vaters der Idee, "nicht meine Musik zu schreiben, sondern
die aller Länder und aller Rassen". Über vierzig Nationalhymnen ließ sich
Stockhausen dafür aus Rundfunkarchiven und von der Unesco schicken, aber
auch Spielanweisungen vom Roulette-Tisch oder das Vorlesen der Farbnamen
aus dem Malkasten der damaligen Frau des Komponisten flossen ein. Vor allem
war die Komposition für Tonband eine gigantische technische
Arbeitsleistung, die viele spätere elektronische Klangbearbeitungen noch
per Hand, mit Schere, Zollstock und Kleber, vorwegnahm.
So präpariert taucht man dann in diese von Entfernungen und Näherungen
vibrierenden Klangfelder ein, die so gar nichts Kleinteiliges und
Gebasteltes mehr haben, aber in der Interpretation durch das "Ballet de
Lorraine" auch kaum noch etwas von der gefürchteten Monumentalität und
Esoterik der Avantgarde. Nicht der Weltgeist schreitet hier auf einen zu,
sondern das Ausprobieren von Strukturen und Gruppenbildungen entrollt sich,
die sich in immer komplizierteren Mustern auflösen und neu bilden. Das
passt nicht nur, weil Stockhausens selten gehörte Musik in ebenjener Zeit
entstand, als auch der Tanz die Regeln seiner Bewegungen auf einer Tabula
rasa noch mal neu erfinden zu können glaubte. Sondern auch, weil die
Choreografie eben nicht der Versuchung unterliegt, nationale Identitäten
aufzuführen.
Der Rückblick auf die Avantgarde ist auch Thema zwei Abende mit fünf
zwischen 1971 und 2003 entstandenen Stücken der New Yorker Trisha Brown
Dance Company. Das Solo Accumulation (von 1971, zu einem Song von The
Greatful Dead) handelt von ebenjener Neuerfindung eines Vokabulars, das mit
einer einfachen Daumendrehung beginnt und zu differenzierten Phrasen führt.
In Present Tense (2003), zu Sonaten von John Cage, erlebt man dann einen
zunehmend lustigen und temperamentvollen Ausbau der Bewegungen in
Figurengruppen, die sich überraschend verschränken und ineinander greifen.
Ein farbenprächtiges Räder- und Hebelwerk entsteht aus den aufrechten und
gebogenen Leibern der Tänzer, die teils selbst zu den Brücken, Bergen und
der Landschaft werden, über die ihre Kollegen hinwegtanzen. Es war nicht
zuletzt der bewegungsanalytische Ansatz, für den die Generation von Trisha
Brown steht, der spätere Choreografen und Tänzer befähigt hat, die
tänzerischen Idiome anderer Kulturen zu lernen und mit zu benutzen.
Das gerade ist eine Stärke des Berliner Festivals Tanz im August: Den
Kuratoren Nele Hertling, die das Festival gegründet hat und bis vor fünf
Jahren leitete, und Ulrike Becker und André Theriault, von Anfang an dabei,
gelang sehr oft ein Programm, das neben einigen wichtigen Choreografen der
Gegenwart auch immer den Raum markierte, aus dem sie kommen. Das mag
vielleicht im Verhältnis etwa zur bildenden Kunst, zwischen Postmoderne vor
zwanzig Jahren und Retro heute, nicht so besonders anmuten. Das ist es aber
doch für eine Kunstgattung wie dem Tanz, in der Speichermedien und
Reproduktion nur eine nebensächliche Rolle spielen.
Von dem britischen Choreografen Akram Khan, von Faustin Linyekula, der aus
der Demokratischen Republik Kongo kommt, von der brasilianischen Gruppe
Membros CIA. De Danca aus der Stadt Macaé und von Hiroaki Umeda aus Tokio
kamen Stücke, wie sie erst heute entstehen können. Die höchste Dichte an
Wirklichkeit zeichnete das Stück "Febre" der Tänzer aus Macaé aus. Es war
getragen von der Trauer über den Verlust eines Alltags, dem Musik und Tanz
einmal als Fluchten aus Armut und Gewalt galten: Diese Fluchtgebiete selbst
werden nun Armut und Gewalt infiziert. Der größten Konkurrenz der
virtuellen Welt setzte sich Hiroaki Umeda in drei Solos aus, die mit den
Techniken des Filmschnitts und der digitalen Bildbearbeitung schließlich
auch das beschleunigen, was der reale Körper live aufführt. Nicht von
ungefähr war dabei ein Stück, "Accumulated Layout", ähnlich gebaut wie
Trisha Browns frühes Solo, eine Alphabetisierungskampagne in die eigenen
Bewegungscodes.
München, Wien, Nordrhein-Westfalen haben eigene große Tanzfestivals, aber
wer in Berlin lebt, hat sein Wissen über Tanz großenteils auf diesem
Festival gebildet. Und vielleicht auch seine eigenen Idiosynkrasien
entwickelt, zu welchen Experimenten der körperlicher Grenzüberschreitung
man lieber nicht geht, so zum Beispiel zur Untersuchung des Anus und dem
Einsatz gläserner Dildos durch die beiden Pariser Tänzer Cecilia Bengolea
und François Chaignaud. Wenn das Festival am Wochenende mit den Gastspielen
zweier großer Compagnien zu Ende geht, mit dem Ballett der Semperoper
Dresden und einer Formation aus Montreal, deren Choreograf Dave St.-Pierre
Nähe und Intimität wieder einmal über das Mittel der Nacktheit herzustellen
versucht, dann ist vermutlich auch eine ganz andere Bilanz möglich als die
hier beschriebene. Das aber ist das Schöne an einem Festival: Man hat die
Wahl.
28 Aug 2008
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Tanz im August
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