| # taz.de -- Vom Feiern, Reden, Denken: Rosa Würste in der blauen Stunde tausch… | |
| > Die Stadt steht still, der Sommer auch und im Kopf ist es manchmal | |
| > einfach zu voll. | |
| Bild: Kunst für die, die schon alles haben. Stoffwürste von Nolundi Tschudi | |
| Es ist ein herbstlicher Dienstagabend Anfang August. In Trenchcoat, | |
| Wollpullover und dicken Jeans habe ich mich nach vielen widerborstigen | |
| Gedanken endlich vom Schreibtisch gepult, um in der feuchten Dämmerung nach | |
| [1][Prenzlauer Berg] zu fahren. Mein Freund H. hat Geburtstag, die Luxusbar | |
| ist das Ziel, und als ich mit blasskalten Fingern die Haustür öffne, bin | |
| ich fast dankbar, dass mein Fahrrad seit Wochen in der Werkstatt steht, | |
| weil das Kack-Bianchi-Tretlager nicht bestellbar ist und ich einfach ohne | |
| schlechtes Gewissen in mein miefiges Auto steigen kann. | |
| Aus dem Kassettendeck grummeln scheppernd Sounds von [2][Alepher], vor den | |
| Scheiben verschwimmen die Imbissschuppen des Kottbusser Damms zu einem | |
| einzigen verschwommenen Neonlichstreifen. Die Dunkelheit steckt fest, sie | |
| bewegt sich nicht vor, nicht zurück. Die Stadt ist der wattigen blauen | |
| Stunde ertrunken. Niemand bewegt sich außer mir. | |
| Unter den Straßenlinden der Prenzlauer Allee sitzen die Geburtstagsgäste in | |
| einem riesigen Stuhlkreis auf den feuchten Schweinebäuchen. Die Form ist | |
| merkwürdig dysfunktional, die Sitzenden viel zu weit voneinander entfernt, | |
| um sich mit wem anders als dem direkten Nachbarn zu unterhalten. Ein wenig, | |
| als würde man den Berliner Nachwende-Literaturbetrieb bei einer | |
| merkwürdigen rituellen Performance ertappen. | |
| Ich kenne weniger Menschen als gedacht, registriere C. von hinten. Als ich | |
| mich über seine Schulter beuge, um ihn ins warme Ohr zu begrüßen, geht die | |
| Stadt plötzlich wieder an. Der Verkehr auf der Straße ist dröhnend laut, | |
| ich rufe etwas, erkenne nun doch mehr vertraute Menschen, sehe H., der eine | |
| Rede hält, nur versteht ihn niemand. Es liegt Nachdruck in der Mimik des | |
| Geburtstagskinds, während er stumm gegen das Stadtrauschen anbrüllt. | |
| ## Das Hirn die Veranstaltungshalle | |
| Ich brabbel C. etwas zu und bemerke eine Frau, die mir strahlend zuwinkt. | |
| Ich weiß, wir haben uns schon getroffen, ich weiß auch, dass ich sie sehr | |
| mag, doch mein Gehirn kann ihr Gesicht einfach nicht verpacken. Ich stelle | |
| mir vor, dass mein Kopf eine Veranstaltungshalle ist, in der die Menschen, | |
| die ich traf, und die Menschen, über die ich las, in ebenjenem Stuhlkreis | |
| sitzen. Der Raum ist voll, für jeden Neuen muss wer gehen. Die Frau steht | |
| noch draußen, als Erste in der Schlange. | |
| Ich schiebe die Gedanken beiseite und meinen Körper durch die Stühle hin zu | |
| H. Wir umarmen uns lange und fest, zwischen uns halten wir das gemeinsame | |
| Wissen, dass ich fast nicht gekommen wäre, und die Freude, darüber, dass | |
| ich es doch tat. Dann überreiche ich ihm Erich Hamanns feine Platten | |
| edelbitter und eine rosa Stoffwurst der Künstlerin Nolundi Tschudi. H. malt | |
| mir im Tausch mit Edding ein Nashorn auf die Hand: „Mit dem Einhorn kriegst | |
| du freie Drinks.“ | |
| Auf dem Weg zur Bar verheddere ich mich in ein Gespräch mit B., die ich | |
| lange nicht gesehen habe, wische einem fremden Mann eine Ameise von der | |
| Schulter, die ihn schon den ganzen Abend heimsucht, und streichel kurz | |
| einen kleinen struppigen Hund. | |
| In der Kneipe ist es wieder still. Goldenes Licht sickert direkt ins Glas | |
| Riesling, das ich C. in die Hand drücke. Draußen löst sich der Kreis, und | |
| plötzlich betritt die Frau mein Hirn. Es ist doch O.! Wir sprachen letztens | |
| nach dem Uni-Kolloquium. Ich bin erleichtert, dass es nur der Kontext war, | |
| der mein Denken blockierte. | |
| Als ich ein alkoholfreies Bier später wieder ins Auto kletter, ist es immer | |
| noch gleich blau da draußen. Ein neuer Regenguss beginnt, ich wechsel das | |
| Tape und Jonathan Richmann beginnt zu plärren. „When you trust your friends | |
| with no reason ta nada/ This joy I've named shall not be tamed/ [3][That | |
| summer feeling is gonna haunt you]/ The rest of your life.“ | |
| 12 Aug 2025 | |
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