# taz.de -- Prozess zu rassistischem Brandanschlag: „Egal, wie sehr wir kämp… | |
> Ein Deutscher zündet 2024 in NRW ein von Migrant*innen bewohntes Haus | |
> an. Vier Menschen sterben, 21 werden verletzt. Die Ermittlungen sind | |
> fragwürdig. | |
Bild: Im Bildvordergrund die bei dem Brandanschlag getötete Familie: Kancho un… | |
Am 25. März 2024, nachts gegen halb drei, brennt ein Haus im Solinger | |
Stadtteil Höhscheid in der Grünewalderstraße. In dem Haus leben mehrere | |
migrantische Familien, vor allem bulgarisch-türkische. Innerhalb weniger | |
Minuten soll das gesamte Gebäude, das aus Holz gebaut war, in Flammen | |
gestanden haben. Es soll sehr laut gewesen sein, mehrfach habe es | |
Knallgeräusche gegeben, so Menschen, die in der Nähe leben. Die 46-jährige | |
Laile K. erzählt der taz, wie sie minutenlang die Hilfeschreie der Menschen | |
auf ihrem Weg in den Tod hörte und nicht helfen konnte. Auch heute noch | |
muss sie daran denken, sobald sie nachts die Augen schließt. | |
Diese Schreie kamen vermutlich vor allem von den Bewohner*innen der | |
dritten und vierten Etage. Sie hatten keine Möglichkeit mehr, ihre | |
Wohnungen zu verlassen. Die Menschen im ersten Stock konnten offenbar noch | |
zu Fuß fliehen, diejenigen aus dem zweiten Stock sprangen durch Fenster in | |
den Innenhof. Für die Familie Kostadinchev aus dem dritten Stock soll die | |
Verzweiflung besonders groß gewesen sein: Als ihre Wohnung bereits in | |
Flammen stand und sie bereits erste Verbrennungen erlitten hatten, | |
entschieden sie sich, mit ihrem sieben Monate alten Baby Salih aus dem | |
Fenster zu springen – aus mehreren Metern Höhe. Noch heute leiden Ayse und | |
Nihat Kostadinchev unter ihren Verletzungen. | |
Als die Feuerwehr schließlich am Brandort in Solingen eintraf, kam für die | |
Familie Zhilova jede Hilfe zu spät. Die 29-jährigen Kancho und Katya | |
Zhilova sowie ihre beiden kleinen Töchter Galia und Emily konnten nicht | |
mehr gerettet werden. Die Bergung der toten Familie dauerte bis in die | |
Morgenstunden, laut Zeug*innen blieben von der Familie nur stark | |
verkohlte Leichen. | |
Mehrere Anwohner*innen berichten der taz, dass der Notruf an dem Abend | |
überlastet gewesen sei und sie zunächst niemanden erreichen konnten. | |
Bekannt ist, dass es bei der Feuerwehr Solingen in der Vergangenheit | |
wiederholt Probleme mit der Überleitung von Notrufen zur zentralen | |
Notrufnummer 112 gab. Anfragen der taz zu weitergeleiteten Notrufen hat die | |
Feuerwehr bislang nicht beantwortet. Als die Einsatzkräfte schließlich | |
eintrafen, „hatte sich der Brand bereits massiv im Treppenraum und in den | |
oberen Stockwerken ausgebreitet, den Bewohnern war der Fluchtweg | |
abgeschnitten“, so eine Feuerwehrsprecherin. Auffällig ist auch: Die | |
Feuerwache befindet sich nur wenige hundert Meter vom Brandort entfernt – | |
wie konnte es sein, dass die Feuerwehr später als die Polizei eintraf? | |
Die ermittelnde Staatsanwaltschaft Wuppertal erklärte dazu, es gebe „keine | |
objektiven Anhaltspunkte für eine Verzögerung der Feuerwehr“. | |
## Die Opfer. Ihr Leben | |
Die 22-jährige Ayse Kostadinchev sitzt seit Monaten mit ihrem Mann Nihat im | |
Gerichtssaal des Wuppertaler Landgerichts. Meistens blickt sie leer auf den | |
Täter, den heute 40-jährigen Daniel S., der in jener Nacht das Haus in | |
Brand setzte. Auf ihrem schwarzen T-Shirt steht in weißen Buchstaben | |
„Adalet“, das türkische Wort für Gerechtigkeit. Darüber das aufgedruckte | |
Bild ihrer Cousine Katya, deren Mann Kancho und das der beiden Kinder. | |
Manchmal fasst sie das Bild mit der Hand an, manchmal verlässt sie den | |
Saal. | |
Eine Dolmetscherin und ein Dolmetscher übersetzen für sie und ihre | |
Angehörigen ins Bulgarische und Türkische. Die Familien Kostadinchev und | |
Zhilova gehören zur türkischen Minderheit aus Bulgarien. Beide stammen aus | |
ärmeren Verhältnissen. Auch deshalb kamen Ayse und ihr Mann Nihat vor vier | |
Jahren nach Deutschland. Nihat begann als Dachdecker zu arbeiten, Ayse war | |
wenig später schwanger mit Salih. | |
Sie waren glücklich in Deutschland. So sehr, dass sie Katya und Kancho noch | |
halfen, nach Solingen zu kommen. Im Februar 2024 zogen die beiden aus | |
Bulgarien nach Solingen in die Grünewalderstraße 69, eine Etage über Ayse | |
und Nihat. Kancho fand eine Stelle als Lieferfahrer. Die Eltern wünschten | |
sich eine bessere Zukunft für ihre Kinder als in Bulgarien. Salih, Emily | |
und Galia hätten hier gemeinsam groß werden sollen. | |
Auch Kanchos Vater, der 56-jährige Emin Zhilova, hatte diese Hoffnung für | |
eine bessere Zukunft. Er und seine Frau Gülten hatten eigentlich in | |
Bulgarien ein Grundstück für die junge Familie gekauft, planten dort ein | |
Haus für sie zu bauen. „Jeder junge Mensch wünscht sich ein besseres | |
Leben“, sagt er. Deshalb brachte er sie selbst nach Deutschland. Heute | |
fragt er sich: „Warum habe ich sie hergebracht? Schau, was passiert ist.“ | |
Seit Beginn des Prozesses in diesem Januar reist er mit seiner Frau immer | |
wieder von der bulgarischen Stadt Kostievo nach Deutschland. Auch die | |
Eltern von Katya begleiten sie. Als Busfahrer verlor Zhilova inzwischen | |
seine Arbeit, die Familie kämpft auch mit finanziellen Problemen. Hilfe | |
bekommen sie nur von ihren Bekannten. Für ihn ist es kaum zu ertragen, dem | |
Mörder seiner Kinder und Enkelkinder gegenüberzustehen. „Wenn ich aus dem | |
Gericht komme, steigt mein Blutdruck. Es schießt mir ins Gehirn“, sagt er. | |
„Gut kann es uns nicht mehr gehen“. | |
Auch Ayse kann es noch nicht gut gehen. Früher war sie einmal eine | |
fröhliche junge Frau. Nun ist sie meist still, wirkt abwesend. Oft starrt | |
sie vor sich hin, manchmal schüttelt sie nur den Kopf. Dann blickt sie auf | |
ihre Finger, die nicht mehr so funktionieren wie früher. Wie sollte es ihr | |
auch gut gehen? Minuten vor ihrem Sprung hörte sie noch, wie Katya, Kancho | |
und deren Kinder im oberen Stockwerk um ihr Leben schrien. Als sie aus dem | |
Fenster sprang, wusste sie nicht, ob ihr Mann, Nihat, und das Baby, das | |
Nihat auf dem Rücken trug, noch lebten. | |
„Die Zeit vergeht unendlich schwer. Ich wünsche niemandem so ein | |
Schicksal“, sagt Ayse. Sie musste am Kopf operiert werden. Ihre Füße sind | |
verbrannt. Weitere Eingriffe stehen bevor. Oft fehlt ihr die Kraft für ihr | |
Kind, ihr ist häufig übel. „Es ist schrecklich.“ | |
Auch Nihat zog sich beim Sprung aus dem Fenster schwere Verletzungen zu: | |
Seine Lunge wurde beschädigt, Rippen, Schulter, Arm und Fuß brachen. Sein | |
Fußgelenk lässt sich nicht mehr bewegen. Er darf nichts Schweres mehr heben | |
– nicht einmal sein eigenes Kind. Mit nur 26 Jahren muss er nun vorerst in | |
Rente gehen, als Dachdecker kann er nicht mehr arbeiten. Auch finanziell | |
hat das Folgen für die Familie, die nun gezwungen ist, ihr Leben von Grund | |
auf neu aufzubauen. | |
## Der Kampf um Gerechtigkeit | |
Die Hinterbliebenen wollen verstehen, warum gerade sie Opfer wurden. | |
Rassismus als Motiv stand für sie von Anfang an als mögliche Erklärung im | |
Raum. Doch schon wenige Tage nach dem Brand erklärte die Staatsanwaltschaft | |
Wuppertal Ende März 2024: „Anhaltspunkte, die auf ein fremdenfeindliches | |
Motiv deuten, liegen nicht vor.“ Auch die Polizei sprach auf einer | |
gemeinsamen Pressekonferenz mit der Staatsanwaltschaft früh davon, der Fall | |
sei weitgehend aufgeklärt. | |
Aber war der Fall zu dem Zeitpunkt wirklich aufgeklärt? Die Antwort lautet: | |
nein. Ausführliche Ermittlungen begannen außergewöhnlicherweise erst im | |
Laufe des Prozesses. Erst Monate nach dessen Beginn, also mehr als zwölf | |
Monate nach dem Brandanschlag, wurden Cloud-Dateien des Täters sowie | |
mehrere Festplatten ausgewertet, die bei ihm zu Hause gefunden worden | |
waren. | |
Dazu kam es erst durch den Druck der Nebenklagevertreter*innen, darunter | |
Seda Başay-Yıldız, die Ayse und Nihat Kostadinchev vertritt. Başay-Yıldız | |
ist mit rechtsextremen Fällen vertraut – im NSU-Prozess vertrat sie als | |
Anwältin die Familie des ermordeten Enver Şimşek. Auf den Datenträgern des | |
Täters von Solingen, Daniel S., fanden sich unter anderem 166 rechtsextreme | |
Bilder, die den Nationalsozialismus verharmlosen. Başay-Yıldız untersuchte | |
die Festplatten später selbst und entdeckte weitere belastende Inhalte. Die | |
Behörden ordnen die Datenträger allerdings bislang der Partnerin des Täters | |
zu. | |
Bereits kurz nach der Tat waren zudem bei der Hausdurchsuchung von Daniel | |
S. NS-Literatur und rechtsextreme Schallplatten gefunden worden – doch | |
diese Funde waren nicht in die Ermittlungsakte aufgenommen worden. Erst im | |
Prozess tauchten sie plötzlich auf, sie waren dem Vater des Täters | |
zugeordnet. Übersehen hatten die Ermittler auch ein Gedicht an einer Wand | |
in der Garage von Daniel S., das als rassistisch und rechtsextrem bekannt | |
war. Auch ein internes Dokument der Polizei Wuppertal verschwand und | |
tauchte später verändert wieder im Prozess auf. | |
In dem Vermerk wurde der Täter zunächst als „rechts“ eingestuft, es könne | |
von „einer tiefen inneren Verbundenheit (…) mit dem rechten Gedankengut | |
ausgegangen werden“, stand darin. Später wurde diese Einstufung durch | |
handschriftliche Ergänzungen gestrichen. Das Dokument war zuvor weder der | |
Staatsanwaltschaft noch dem Gericht oder den Nebenklageanwält*innen | |
bekannt. Başay-Yıldız sprach von „Vertuschung“ und zeigte im vergangenen | |
April den Polizeipräsidenten sowie mehrere Beamt*innen des Präsidiums | |
Wuppertal an. Das Verfahren wurde wenige Tage später eingestellt. | |
Das nordrhein-westfälische Innenministerium räumt gegenüber der taz Fehler | |
der Polizei Wuppertal im Umgang mit dem Brandanschlag von Solingen ein. | |
Laut Ministerium habe die Polizei Wuppertal zunächst keine Hinweise auf | |
eine politische Tatmotivation des Angeklagten erkannt. Trotz späterer neuer | |
Erkenntnisse sei das Innenministerium darüber nicht proaktiv informiert | |
worden. | |
Erst durch Presseberichte seien Hinweise auf eine mögliche rechtsextreme | |
Motivation dem Innenministerium und dessen Chef Herbert Reul (CDU) bekannt | |
geworden. Daraufhin habe das Innenministerium eine Überprüfung des | |
landesweiten Handlungskonzepts zur Früherkennung politisch motivierter | |
Kriminalität eingeleitet. | |
Dabei hätten die Behörden laut Nebenklagevertreter*innen längst als | |
zentrales Indiz für ein rassistisches Motiv werten müssen, dass sich der | |
Täter ein Haus mit migrantischen Bewohner*innen ausgesucht hatte. Im | |
Verlauf des Prozesses stellte sich außerdem heraus, dass der Täter Daniel | |
S. vermutlich schon im Januar 2022 in Wuppertal ein von Migrant*innen | |
bewohntes Haus in Brand gesetzt hatte. | |
Die Ermittlungen wurden jedoch damals rasch eingestellt, weil man die | |
Brandursache in einem technischen Defekt vermutete – ohne Zeugenvernehmung, | |
Kriminalpolizei vor Ort und Brandsachverständigen, kritisieren die | |
Nebenklageanwält*innen. Auch in diesem Fall kam es erst durch den Druck | |
von Başay-Yıldız zu neuen Erkenntnissen. Sie ließ einen früheren Nachbarn | |
des Täters, Jammal H., als Zeugen vorladen. | |
Im Jahr 2021 war es zu einem Streit zwischen Daniel S. und dem | |
marokkanischen Nachbarn gekommen. Im Januar 2022 brannte es dann in dem | |
Wohnhaus – bekannt ist, dass Daniel S. an jenem Tag im Keller des Gebäudes | |
war. Ein kürzlich geladener Brandsachverständiger kam vor wenigen Wochen zu | |
dem Schluss, dass es sich auch in diesem Fall um Brandstiftung handelte. | |
Die Nebenklageanwält*innen kritisieren jetzt: Hätte man damals | |
gründlich ermittelt und den Täter gefasst, wäre es nicht zum Brandanschlag | |
in der Solinger Grünewalderstraße im März 2024 gekommen. | |
Auch im Verhalten des Täters im digitalen Raum fanden sich Hinweise auf | |
eine rechtsextreme Gesinnung: wiederholte Suchanfragen zu NS-Waffen, zur | |
AfD, zum Hetzmotto „Ausländer raus“, sowie zu NS-Songs, Konzerten der | |
Wehrmacht und Videos des rechtsextremen Magazins Compact. | |
Dennoch spielte ein 59-jähriger Beamter aus der Wuppertaler | |
Polizeiabteilung „Politisch motivierte Kriminalität – rechts und links“ … | |
der Auswertung dieser Fundstellen eine fragwürdige Rolle. Laut Başay-Yıldız | |
erklärte der Beamte, all diese Inhalte belegten lediglich ein | |
„geschichtliches Interesse“ des Täters. Nicht jeder Konsument solcher | |
Videos oder Besitzer von NS-Büchern habe ein rechtes Weltbild. | |
Im Verfahren sagte dann derselbe Beamte aus, 166 rechtsextreme Bilder | |
ließen sich auch „in durchschnittlichen Schul- oder Klassengruppen“ finden. | |
Auch die Kommunikation des Täters mit seiner Freundin, in der von „Kanaken“ | |
die Rede ist, die sich gegenseitig „mit Polenböllern wegfetzen“ sollten, | |
habe laut dem Beamten zwar „ein Geschmäckle“, müsse aber nicht politisch | |
motiviert sein. Derselbe Kriminalhauptkommissar sowie das Polizeipräsidium | |
Wuppertal waren bereits in einem früheren Fall in Wuppertal auffällig | |
geworden: 2015 war ein Mann mit türkischem Migrationshintergrund vor dem | |
dortigen Autonomen Zentrum von drei Neonazis angegriffen worden. | |
Chatprotokolle aus einer Whatsapp-Gruppe namens „Angriffsparty“, in der das | |
Zentrum längst als Angriffsziel genannt wurde, und die dem 59-jährigen | |
Beamten bekannt waren, wurden damals nicht in die Ermittlungsakten | |
aufgenommen. Başay-Yıldız beantragte jetzt am 15. Juli, die Datenträger | |
durch eine andere Polizeibehörde oder durch das Landeskriminalamt von NRW | |
erneut untersuchen zu lassen. Die Objektivität und Neutralität der | |
Ermittlungen sei nicht gewährleistet. Ihr Antrag wurde jedoch abgelehnt. | |
## Der Täter. Sein Umfeld | |
Daniel S. zeigt sich im Laufe des Gerichtsverfahrens emotionslos und | |
desinteressiert. Die Tat hat er darin zu einem frühen Zeitpunkt gestanden, | |
gesprochen hat er im gesamten Prozess jedoch kein Wort. Ein psychiatrischer | |
Gutachter beschrieb ihn im März als „schizoid zwanghaft“ – sachlich und | |
menschlich kalt. Der Gutachter stellte jedoch klar: Daniel S. sei | |
schuldfähig und überdurchschnittlich intelligent. | |
Diese Kälte zeigte sich auch in einem anderen Vorfall: Im April 2024, kurz | |
nach der Brandstiftung in Solingen, verletzte er seinen engen Freund, René | |
S., schwer mit einer Machete. Der Angriff führte zu Daniel S.s Verhaftung. | |
Ein Nachbar von René S. will dabei gehört haben, wie der Täter „Sieg Heil!… | |
rief. Der Nachbar wurde jedoch bislang nicht als Zeuge im aktuellen | |
Verfahren geladen. | |
Daniel S. war über Jahre arbeitslos, konsumierte täglich harte Drogen, | |
spielte Glücksspiele, fiel durch Betrugsdelikte auf. In dem Haus in der | |
Grünewalderstraße, das er im März 2024 anzündete, hatte er zuvor selbst | |
gelebt und es schon einmal nach einem Streit mit seiner Vermieterin in | |
Brand gesetzt. Diese hatte zum Zeitpunkt der späteren Tat jedoch längst | |
nicht mehr dort gewohnt. Trotzdem wird der alte Konflikt bis heute von | |
Ermittlungsbehörden als zentrales Tatmotiv angeführt. Dies kritisiert die | |
Nebenklage als unzureichend. | |
Zum Zeitpunkt der Brandstiftung wohnte Daniel S. dort, wo er aufgewachsen | |
war: in einer ruhigen Nachbarschaft mit Fachwerkhäusern im selben Stadtteil | |
Höhscheid. Er lebte mit seiner Freundin Jessica B. im Haus seines Vaters, | |
der nur ein paar Häuser weiter wohnt. Nachbar*innen berichten von einem | |
Umfeld, in dem regelmäßig am Lagerfeuer rassistische Witze gemacht wurden. | |
Etwa darüber, dass „die Türken sich heute selbst erledigen“ oder man „d… | |
Drecksarbeit nicht mehr machen“ müsse. Eine Nachbarin sagte im Prozess aus, | |
sie habe Daniel S. NS-Musik hören hören. | |
Trotz der Aussagen und zahlreicher Hinweise auf rechtsextreme Tendenzen | |
beschreibt Jessica B. ihren Partner Daniel S. als weltoffen und politisch | |
links. Die Behörden ordneten Jessica B. zunächst ebenfalls dem linken | |
Spektrum zu. Diese Einordnung erscheint nicht nachvollziehbar: Jessica B. | |
verbreitet auf ihren Social-Media-Kanälen regelmäßig | |
verschwörungsideologische Inhalte. Immer wieder hetzt sie gegen | |
Journalist*innen. Diese seien, so schreibt sie, „manipulierte Opfer, die | |
wiederum das deutsche Volk manipulieren“. | |
Bei einer Durchsuchung im vergangenen Jahr fanden die Ermittlungsbehörden | |
bei Daniel S. unter anderem Schreckschusswaffen, Böller, Macheten, | |
Benzinkanister und Brandsätze. Wofür er all das hortete, bleibt ungeklärt. | |
Im Prozess wird dagegen wiederholt erklärt, der Angeklagte habe eben „gerne | |
Dinge angezündet“ oder es sei seine „impulsive Persönlichkeit“, die ihn… | |
solchen Taten gebracht habe. | |
## Solingen 2.0 | |
Solingen war bereits einmal [1][Tatort eines rassistischen Brandanschlags.] | |
1993 starben fünf Mitglieder der Familie Genç, als rechte Jugendliche ihr | |
Haus anzündeten. Damals war der Rechtsanwalt Jochen Ohliger Verteidiger | |
einer der vier Täter – heute vertritt er Daniel S. gemeinsam mit seinen | |
Kolleg*innen, Marc Françoise und Carola Drewes. | |
An diesem Mittwoch geht der Prozess in Wuppertal zu Ende. Vieles deutet | |
darauf hin: Der 40-jährige Täter wird die Höchststrafe erhalten. Doch weder | |
Staatsanwaltschaft noch Gericht lassen sich bislang von der Möglichkeit | |
eines rassistischen Motivs überzeugen. Die Nebenklage bleibt dabei: Die Tat | |
war rechtsextrem motiviert. | |
Die Nebenklagevertreter Simon Rampp und Athanasios Antonakis kritisieren | |
das Vorgehen der Ermittlungsbehörden scharf. „Wir fallen hier langsam vom | |
Glauben ab“, sagen sie. Auch der Rechtsanwalt der Familie Zhilova, Fatih | |
Zingal, zeigt sich tief erschüttert. Als gebürtiger Solinger habe er es | |
nicht für möglich gehalten, „dass bei Hausbränden mit ausländischen | |
Bewohnern, nach den Erfahrungen von 1993, wieder so schlampig ermittelt | |
wird“. | |
Dass der Brandanschlag nicht als ausländerfeindlich eingestuft wird, hat | |
für die von ihm Betroffenen konkrete Folgen. Seit Monaten warten sie auf | |
Antworten – doch diese bleiben aus. „Warum bringen sie die Wahrheit nicht | |
ans Licht?“, krititisiert Nihat Kostadinchev. „Das ist doch die Aufgabe der | |
Staatsanwaltschaft, nicht meiner Anwältin.“ | |
Die Opferberatungsstelle [2][VBRG e. V.] hat zuletzt [3][eine Spendenaktion | |
ins Leben gerufen.] Das Leben der Überlebenden sei „grundlegend | |
erschüttert“, heißt es darin. Die bisherigen staatlichen Hilfen reichten | |
„kaum für das Nötigste“. Doch bisher kam nur wenig finanzielle | |
Unterstützung zusammen. | |
„Wir stecken in einem Loch. Egal, wie sehr wir kämpfen, kommen wir nicht | |
raus“, sagt Nihat Kostadinchev. Schlafen könne er derzeit kaum. „Ich | |
wünsche niemandem, das durchmachen zu müssen“, sagt er und wartet nun auf | |
Gerechtigkeit. So lange es eben dauert. | |
Redaktioneller Hinweis: In einer früheren Version des Textes haben wir | |
geschrieben, dass das bundesdeutsche Opferentschädigungsgesetz für die | |
Überlebenen und Hinterbliebenen des Solinger Brandanschlags vom März 2024 | |
nicht greift, weil ein rechtsextremes Tatmotiv bislang nicht gerichtlich | |
anerkannt wurde. Dass dieses Gesetz nicht greift, ist so nicht richtig. | |
29 Jul 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/161980/29-mai-1993-branda… | |
[2] https://verband-brg.de | |
[3] https://www.goodcrowd.org/solingen-2024 | |
## AUTOREN | |
Yağmur Ekim Çay | |
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