| # taz.de -- SPD-Mann fordert Untersuchungsausschuss: „Rassistische Gewalt mü… | |
| > Für einen Brandanschlag in Solingen wird der Täter zu lebenslanger Haft | |
| > verurteilt. Aber ein rassistisches Motiv wird nicht anerkannt. | |
| Bild: Gedenkfeier ein Jahr nach dem Brandanschlag auf das Mietshaus, in dem die… | |
| taz: Herr Lindh, Sie haben den Prozess in Wuppertal lange begleitet. Wie | |
| haben Sie ihn erlebt? | |
| Helge Lindh: Es war ein sehr belastendes Verfahren. Das Strafmaß, also | |
| lebenslange Haft, besondere Schwere der Schuld, Sicherungsverwahrung, war | |
| angemessen. Aber der entscheidende Punkt kam zu kurz: die Würdigung oder | |
| Prüfung der im Raum stehenden rassistischen Motive. Diese wurden faktisch | |
| vollständig beiseite geschoben, Ermittlungsfehler und Versäumnisse zu | |
| entschuldigend bewertet. Besonders irritierend war, dass die | |
| Staatsanwaltschaft betonte, allein die Herkunft der Opfer, des Täters und | |
| [1][der Tatort Solingen] reichten nicht für ein rassistisches Motiv – als | |
| gäbe es nicht zahlreiche vergleichbare Taten, deren Motive zu spät oder gar | |
| nicht anerkannt wurden. | |
| Was fanden Sie genau belastend?Verteidigung, Staatsanwaltschaft und teils | |
| das Gericht wandten jede Energie darauf, [2][mögliche rassistische oder | |
| rechtsextreme Motive abzuwehren oder sich an Anwältin Seda Başay-Yıldız | |
| abzuarbeiten]. Das wirkte, als wolle man den Täter vor dem „Vorwurf des | |
| Rassismus“ schützen. Als sei es eine Herabwürdigung des Täters, wenn man | |
| rechtsextreme oder rassistische Motive benennt – das ist für mich eine | |
| Täter-Opfer-Verkehrung und ein grundfalscher Ansatz. Man kann nicht sagen: | |
| „Er hat doch jetzt die Höchststrafe, also was beschwert ihr euch?“ Für | |
| Angehörige und Überlebende zeigt es eine deutliche Empathielosigkeit: kaum | |
| bis gar kein Interesse, ihre Perspektive zu verstehen, stattdessen die | |
| Botschaft, es sei eine Zumutung, den Täter in diese Ecke zu stellen. Diese | |
| Muster müssen wir durchbrechen, indem wir rassistische Gewalt klar benennen | |
| und untersuchen, anstatt sie wegzudefinieren. | |
| Was meinen Sie mit der Empathielosigkeit, die Sie im Verfahren beobachtet | |
| haben? | |
| Empathielosigkeit zeigte sich für mich auf mehreren Ebenen. Zum einen | |
| wurden im Verfahren rassistische Begriffe ohne jede Rücksicht oder | |
| kritische Einordnung benutzt – von Personen, die selbst nicht von Rassismus | |
| betroffen sind. Es gilt frei nach Bill Clinton: It's the language, stupid. | |
| Auf die Sprache kommt es an. Die von Staatsanwalt, Ermittlungsbeamten, | |
| Verteidigern und zum Teil Richter verwandte Sprache war regelmäßig unwürdig | |
| und krass unangemessen. Zum anderen ging es oft nur um juristische | |
| Abwägungen, aber kaum darum, die Perspektive der Angehörigen anzuerkennen. | |
| Stattdessen lag der Fokus auffällig stark darauf, eine rechtsextreme | |
| Motivation abzuwehren und das sowohl bei der Staatsanwaltschaft als auch | |
| bei der Verteidigung. | |
| Was heißt das konkret? | |
| Ich halte es nicht für selbstverständlich, dass man Nazi-Literatur in der | |
| Familie hat, rechtsextreme Musik hört oder Marschlieder aus der NS-Zeit | |
| abspielt. Dass die Staatsanwaltschaft solche Punkte nicht deutlicher | |
| problematisiert hat, ist für mich hochproblematisch. Unser Rechtssystem hat | |
| den Auftrag, die historische Realität nicht auszublenden: [3][Wir können in | |
| Wuppertal] nicht so tun, als gäbe es keine NS-Geschichte in Deutschland, | |
| keine Geschichte des Rechtsterrorismus und des mörderischen | |
| Rechtsextremismus in den letzten Jahrzehnten. Das muss immer Teil der | |
| Betrachtung sein, wenn wir über die Motivation einer solchen Tat sprechen. | |
| Hinzu kommt als ein wesentlicher Punkt, dass materiell und formell | |
| juristische Abwägung und historisch informierte Empathie mitnichten ein | |
| Widerspruch sind. Europäische Rechtsprechung und auch deutsches Recht im | |
| Schatten des NSU, ich nenne nur die aktuellen RiStBV (Richtlinien für das | |
| Strafverfahren und das Bußgeldverfahren) und das Strafgesetzbuch, | |
| verpflichten geradezu, bei Anhaltspunkten für „rassistische, | |
| fremdenfeindliche, antisemitische Beweggründe“ umfassend zu ermitteln. Das | |
| betrifft frühe Ermittlungen wie auch spätere Nachermittlungen. | |
| Halten Sie den Täter für einen Rassisten? | |
| Ja – nach allem, was an Indizien bekannt ist. Und das schließt nicht aus, | |
| dass es weitere Tatmotive gab. Aber Rassismus ist hier ein relevanter | |
| Aspekt. Wir müssen uns fragen, wie rassistische Motive erkannt und bewertet | |
| werden. Ich sehe hier eine nicht hinreichende Beachtung der rassistischen | |
| Motive und ein Abwehrverhalten, bei dem diejenigen, die nicht betroffen | |
| sind von Rassismus, denjenigen widersprechen wollen, die zu Recht Rassismus | |
| ahnen, vermuten oder annehmen. Genau diese Haltung verstärkt den Eindruck, | |
| dass man das Thema lieber vermeiden möchte, anstatt es aufzuklären. Einer | |
| hohen Aufmerksamkeit der Staatsanwaltschaft für wissenschaftliche | |
| Ergründung der psychischen Disposition des Täters und für psychiatrisches | |
| Wissen steht leider auffallendes Desinteresse an gleichermaßen | |
| wissenschaftlicher Begutachtung von Rassismus wie auch von | |
| Rechtsextremismus gegenüber. | |
| Dabei ist es nicht der erste und vermutlich nicht der letzte Fall, in dem | |
| ein möglicher rassistischer Hintergrund lieber vermieden wird. | |
| Genau. In diesem Verfahren war es vor allem die Nebenklage, die diese | |
| Punkte immer wieder eingebracht hat. Ohne diesen Druck wären viele Aspekte | |
| vermutlich gar nicht thematisiert worden. Das ist nicht selbstverständlich | |
| – und ohne diese Arbeit wäre der Prozess noch stärker auf rein | |
| juristisch-technische Fragen reduziert worden, ohne den gesellschaftlichen | |
| Kontext herzustellen und die gesellschaftliche Dimension der Tat angemessen | |
| zu würdigen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Teile der Justiz 30 Jahre | |
| Rassismus-kritische Forschung nicht zur Kenntnis nehmen. | |
| Was müsste politisch geschehen, damit rassistische Motive in solchen | |
| Verfahren konsequent verfolgt werden? | |
| Wir haben nach dem NSU-Untersuchungsausschuss und auch nach Hanau gesehen, | |
| dass es an nachhaltiger Umsetzung der Empfehlungen hapert. Es braucht | |
| verbindliche Standards: Schulung, Sensibilisierung, externe Evaluation und | |
| die Bereitschaft, eigene Fehler zu benennen. Das ist keine Frage einzelner | |
| „schlechter Beamter“, sondern eine strukturelle Aufgabe. Auf Bundesebene | |
| ist es Aufgabe des Parlaments, dafür zu sorgen, dass rassistische Tatmotive | |
| genauso konsequent verfolgt werden wie andere. Das haben wir mit | |
| Gesetzesänderungen, etwa bei der Hasskriminalität, auch so festgeschrieben. | |
| W elche konkreten Schritte sollte es jetzt geben? | |
| Zum einen muss der Fall meines Erachtens in den zuständigen Ausschüssen | |
| behandelt werden, auch im Bundestag. Dort kann man prüfen, ob die | |
| Ermittlungen und die Bewertung der Motive mit rechtsstaatlichen Prinzipien | |
| und Standards und den politischen Zielsetzungen kompromissloser Aufklärung | |
| übereinstimmen. Zum anderen sollte es unabhängige Stellen geben, die solche | |
| Verfahren auswerten – nicht nur intern bei Polizei und Justiz. Generell | |
| sollte dies bei beteiligten Behörden und staatlichen Stellen in solchen | |
| Fällen die Regel sein. Wir brauchen Strukturen, die aus Fehlern lernen, | |
| anstatt in Abwehrhaltung zu gehen. | |
| Es gibt nun auch von diversen Initiativen die Forderung nach einem | |
| Untersuchungsausschuss. Was halten Sie davon? | |
| Ich halte das für berechtigt. Nach dem NSU gab es Ausschüsse auf Bundes- | |
| und Landesebene, nach Hanau nur auf Landesebene. Für Solingen wäre ein | |
| Untersuchungsausschuss oder zumindest eine unabhängige | |
| Untersuchungskommission sinnvoll. Selbst Innenminister Herbert Reul und das | |
| LKA NRW haben Hinweise auf ein politisches Motiv ernst genommen – das | |
| zeigt, dass diese Fragen nicht nur von der Nebenklage kommen. Die | |
| politische Dimension ist da, und sie gehört vollständig aufgeklärt. | |
| 12 Aug 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Yağmur Ekim Çay | |
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