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# taz.de -- Belarusische Autorin Tania Arcimovich: Der Garten im Kopf
> Sie fand das „Wir“ in der Pandemie und das Glück im Garten. Die
> belarusische Autorin Tania Arcimovich erzählt von Unterdrückung und dem
> Kampf dagegen.
Bild: Ein Garten kann ein inneres menschliches Gefühl bewahren
Sie schreibe vom „hintersten Rand des Doppelrandes“, erklärt die Autorin
Tania Arcimovich in ihrem kürzlich beim Verlag Edition.fotoTAPETA
erschienenen „Manifest einer Gartenlosen“. Selbst innerhalb des „Ostens“
gebe es eine Hierarchie, die über ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
bestimme. Arcimovich wurde 1984 in Minsk geboren, in der Peripherie des
Sowjetimperiums, studierte später Theater- und Kulturwissenschaft.
Zwischenzeitlich lebte sie im Zentrum, in Sankt Petersburg, wo sie an
Theaterprojekten arbeitete.
Doch um dort zu bestehen, hätte sie für immer ihre vom Belarusischen
beeinflusste Aussprache des Russischen ablegen, sich assimilieren müssen,
schreibt sie in ihrem poetischen wie kämpferischen Essay, in dem sie ihre
persönliche und die Unterdrückungsgeschichte der Menschen in Belarus
miteinander verknüpft. „Wenn du eine große Zukunft willst, musst du die
Sprache des Imperiums lernen und deine Provinz verlassen.“
Was nützen hier postkoloniale theoretische Konzepte aus dem Westen, die
anhand der Hautfarbe binär in Weiß und Schwarz, in Unterdrücker und
Unterdrückte aufteilen? Sie beschreiben nicht die Erfahrung einer Frau aus
der Peripherie des (post)sowjetischen Raums.
Eigentlich sei sie eine „Rote“, schreibt Arcimovich. Das habe einmal die
polnische Dramaturgin [1][Dorota Masłowska] zu ihr gemeint. „Wir sind nicht
weiß genug, nicht schwarz genug, wir haben keinen imperialen Mythos im
Rücken, und der koloniale interessiert niemanden“, heißt es im „Manifest
einer Gartenlosen“.
Die Coronapandemie sei für sie eine glückliche Zeit gewesen, so Arcimovich.
„Ich saß in Selbstisolation im Dorf fest und begann zu pflanzen –
Sträucher, Gemüse. Zierpflanzen, Blumen.“ Am Rand der Peripherie, vor dem
belarusischen Protestsommer 2020, der alles ändern sollte, begab sie sich
auf eine Reise zu sich selbst. Im Gespräch erklärt sie der taz, in Zeiten
der Paralysierung durch schlimme Schlagzeilen könne ein Garten, im
übertragenen Sinne oder konkret verstanden, ein inneres menschliches Gefühl
bewahren.
## Von der großen Politik zum Kleinen und zurück
Archimovichs Stimme ist ruhig, aber bestimmt, der Blick unter dem Schirm
ihrer dunklen Kurzhaarfrisur aufmerksam. Immer wieder macht sie Denkpausen
zwischen ihren Sätzen. Etwa bevor sie schließlich sagt: „Ein Garten kann
dabei helfen, zu entschleunigen, eine Balance zu finden, um später
vielleicht wieder handeln zu können.“ Die Bewegung verläuft für sie von der
großen Politik zum Kleinen, Persönlichen, und wieder zurück.
Während die Coronapandemie das Gefühl der Vereinzelung in den westlichen
Gesellschaften erzeugt habe, wurde den Menschen in Belarus mit ihr endlich
das „Wir“ gewahr, schreibt die Autorin. [2][Diktator Lukaschenko] leugnete
das Virus, sagte den Belarus:innen, Wodka und Saunabesuche würden sie schon
schützen. Da merkten sie, dass sie selbst Solidaritätsnetzwerke ausbilden
müssen, um zu überleben.
Den Protest nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen im Sommer 2020
erstickte Lukaschenko in maßloser Staatsgewalt, die Arcimovich in ihrem
„Manifest einer Gartenlosen“ mit Zeugenaussagen festgenommener
Demonstrant:innen detailliert schildert. Gegen die Ohnmacht angesichts
dieser Gewalt helfe nur die Poesie in verschiedener Form, die kreative
Selbstwirksamkeitserfahrung – wofür sie in ihrem Manifest die
Gartenmetapher wählt. „Die Imagination ist das wichtigste Werkzeug, um
Widerstand zu leisten“, erklärt sie der taz, doch gerade die fehle oft den
Unterdrückten, den Gartenlosen.
## Wissenschaftler:innen schützen
Heute lebt Arcimovich wegen der immer schlimmer gewordenen [3][Repressionen
unter Lukaschenko] wie viele ihrer politisch aktiven Landsleute im Exil.
Als Postdoktorandin forscht sie an der Universität Erfurt am Projekt
„Protecting Academia at Risk“, das sich den Herausforderungen
geflüchteter Wissenschaftler:innen in Europa widmet – also auch sie
selbst betrifft. Immer wieder begegnet ihr hier „Westsplaining“. Sie wisse
nicht, schreibt sie, warum die westlichen Marxisten so bezaubert von der
Sowjetunion seien, die in der Realität nichts mit der Idee gemein hätte,
die sie propagierte.
Das aus Sowjetzeiten herrührende und im postsowjetischen Raum teils noch
gängige Wohnmodell der „Kommunalka“ etwa, eine mit vielen Fremden geteilte
Wohnung, sei nicht die „Grundlage für die soziale Herausbildung der
Gleichen“, wie ein englischsprachiger Bekannter den realexistierenden
Sozialismus ihr gegenüber einmal verklärte, sondern ein Zwang aus Armut.
Der taz schildert sie, dass sie sich weniger als klassische Akademikerin
begreife, sondern die Wissenschaft als Inspiration für ihre Kunst und ihren
Aktivismus sehe. Das schlägt sich in ihrem Schreiben nieder. In ihre
kaleidoskopisch angeordneten Erinnerungen und poetischen Reflexionen ihrer
persönlichen und kollektiven Geschichte flicht sie etliche Verweise auf
feministische und politische Theorien ein – so etwa [4][Donna Haraways]
These, Realität sei ein aktives Verb. Arcimovich, die sich in ihrem Essay
selbst als „zornige Frau“ bezeichnet, möchte nicht mehr, dass andere über
ihr Leben entscheiden – auch wenn genau das durch ihre Herkunft als Frau
aus einem von Gewalt geprägten autoritären Staat vorgezeichnet ist.
Zwei Jahre nach Arcimovichs Geburt ereignete sich der Reaktorunfall in
Tschernobyl, wodurch nicht nur den Norden der Ukraine, sondern auch weite
Teile von Belarus radioaktiv verseucht wurden. Doch die sowjetische Führung
leugnete die Gefahr.
## Das Schweigen nach den Katastrophen
Die Autorin berichtet über das Schweigen, das sich darüber bis heute
ebenfalls in den Familien hält. Tschernobyl „gab es nicht“, ebenso wie die
Repressionen gegen Belarus:innen und andere Volksgruppen unter Stalin.
Es ist eine Gewalterfahrung, die von Generation zu Generation weitervererbt
wird, wie auch die mit ihr einhergehende Passivität. Arcimovich schildert
das Schicksal der belarusischen Dichterin Laryssa Henijusch, die für ihre
politische Freigeistigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg von den Sowjets aus
der Tschechoslowakei verschleppt und gefoltert wurde. Im Norden Russlands
überlebte sie eine brutale Lagerhaft. Ihr Vater wurde erschossen, ihre
Mutter und Schwestern wurden nach Kasachstan verbannt.
Henijuschs Memoiren, in denen sie ihre Geschichte niedergeschrieben hat,
konnten erst 1993 veröffentlicht werden. Bis heute verbieten die
belarusischen Behörden das Gedenken an sie. Die Geschichte des Imperiums
habe nicht mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geendet, so Arcimovich im
Gespräch.
Am 21. Juni dann endlich eine positive Nachricht aus Belarus seit langem:
14 [5][politische Häftlinge] kamen nach dem Besuch des US-Sondergesandten
Keith Kellogg in Minsk überraschend frei. Sie sei sehr froh, sagt
Arcimovich, denn jeder Mensch zähle. Gleichzeitig dürfe man nicht
vergessen, dass Tausende weiterhin gefangen sind, dass die Behörden in
Belarus nicht zu echten Veränderungen bereit seien. „Sie könnten zehn
freilassen, aber dann fünfzig weitere inhaftieren. Ich schließe mich den
Worten von Palina Sharenda-Panasiuk an, auf die ich in meinem Essay
verweise: ‚Es ist erst vorbei, wenn alle frei sind.‘ Und selbst das sei
erst der Anfang. Höchste Zeit also, einen Garten zu pflanzen, um
vorbereitet zu sein.“
10 Jul 2025
## LINKS
[1] /Dorota-Masowskas-Roman-Andere-Leute/!5655716
[2] /Interview-ueber-Protestkunst-in-Belarus/!5945346
[3] /Objekttheaterfestival-in-Leipzig/!6093045
[4] /Ausstellung-Making-Kin-in-Hamburg/!5693985
[5] /Werner-Schulz-Preis/!6059648
## AUTOREN
Yelizaveta Landenberger
## TAGS
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