# taz.de -- Lesereihe in Berliner Spätis: Einmal Poesie, bitte | |
> Mit vier Lesungen bringt das Berliner Kollektiv „Open Späti“ | |
> mehrsprachige Poesie in den Alltag – zwischen Kühltruhe und Tabakwaren. | |
Bild: Der Weddinger Kiosk hat heute mehr zu bieten als kulinarische Erfrischung | |
Eigentlich wirkt alles recht gewöhnlich an diesem drückend heißen | |
Sonntagabend im Weddinger Kiosk „Spätis Backshop – Von morgens bis Späti�… | |
Menschen tummeln sich in kleinen Grüppchen zwischen den Kühltruhen, greifen | |
nach kalten Limos und wedeln sich gegenseitig Luft zu. Weniger gewöhnlich | |
sind die Gedichtbände, die sich zwischen Kaugummis und Schokoriegeln als | |
Kiosksortiment tarnen. | |
Was hat Poesie im Späti zu suchen? Heute offenbar so einiges – zumindest, | |
wenn man an den prall gefüllten Kühlschränken vorbei in den hinteren Teil | |
des Berliner Spätis abbiegt. Hier stehen mit Perserteppichen überzogene | |
Bänke, zu Hockern umfunktionierte Getränkekästen und ein kleiner | |
Wohnzimmertisch, um den herum drei junge Frauen sitzen. Sie alle | |
experimentieren mit Sprache, schreiben Gedichte – auf Englisch, Russisch, | |
Tatarisch, Deutsch und Portugiesisch. [1][Manchmal in mehreren Sprachen | |
gleichzeitig.] | |
Es ist die zweite von vier Lesungen, die das Kollektiv [2][„Open Späti“] | |
dieses Jahr veranstaltet. Bewusst haben die drei Kuratorinnen dafür die | |
rund um die Uhr geöffneten, [3][für Berlin prototypischen Minimärkte] | |
ausgesucht: Orte des Alltags, an denen es nie zu spät ist – für Tabak, | |
Wassereis, Bier und ungezwungene Gesellschaft. Hier treffen Menschen aus | |
unterschiedlichsten Lebensrealitäten ganz selbstverständlich aufeinander. | |
In der Lyrik spüren die Kuratorinnen eine ähnliche Freiheit – eine, die es | |
in und zwischen unterschiedlichen Sprachen auszuloten gilt. | |
Dinara Rasuleva steht als Erstes auf. Sie spricht schnell, wiederholt | |
einzelne Worte mit Nachdruck und bewegt dabei ihren starren Blick | |
abwechselnd zwischen Smartphone und Publikum hin und her. Das Gedicht, das | |
sie vorträgt, ist größtenteils auf Tatarisch geschrieben – für viele im | |
Raum eine noch unbekannte Sprache. Sie wird vor allem in Tatarstan | |
gesprochen, einer autonomen Republik in Russland. Hier ist die Dichterin | |
und Musikerin aufgewachsen. | |
## Muttersprache verlieren und wiederfinden | |
Viele Teile ihres Alltags fanden damals auf Russisch statt – sei es der | |
[4][Schulunterricht] oder die Gespräche mit Freund*innen. So richtig | |
erkannte Rasuleva den langsamen Verlust ihrer Muttersprache erst, als sie | |
2015 nach Berlin zog. Versuche, ihre damals noch ausschließlich russischen | |
Gedichte ins Tatarische zu übersetzen, scheiterten. Statt die Sprache neu | |
zu lernen, begann sie, sich schreibend zu erinnern. Sie nutzte Wörter, die | |
ihr spontan einfielen oder sich im Schreibprozess erschlossen. Manchmal | |
stupsten tatarische Freund*innen sie liebevoll an, wenn sie mit voller | |
Überzeugung mal wieder ein Wort eingebaut hatte, das gar nicht existierte. | |
Mittlerweile benutzt Rasuleva in ihrem Alltag vier Sprachen: Russisch, | |
Tatarisch, Englisch und Deutsch. Alle fließen in ihren Gedichten mühelos | |
ineinander über. Der Klang von Worten ist dabei entscheidend. Sie sammelt | |
Wörter, die sie an russische oder tatarische erinnern, und komponiert | |
daraus Verse, die wie eine Melodie klingen. Und um die zu verstehen, muss | |
man kein Tatarisch können. | |
Auch Inna Krasnoper arbeitet mit Klang und Rhythmus. Ob sie russische, | |
englische oder deutsche Wörter nutzt, sei eine musikalische Entscheidung. | |
Oft zerlegt sie Wörter in ihre Silben und verbindet, was ähnlich klingt. | |
Beim Vortragen bewegt sich die Dichterin, die auch Tänzerin ist, durch den | |
Raum und betont ihre Verse mit ausufernden Handbewegungen: „back ground / | |
back stage / back stagnieren / to stash in a стог / squish oneself in a | |
стог / stack onto / ac cumulate / ak upunktur“ | |
Wer experimentiert, muss Gelerntes loslassen. Yessica Klein liest auf | |
Englisch. Eine Sprache, die sie sich vor allem online aneignete und als | |
„Niemandsland“ beschreibt: Einen noch nicht voll erschlossenen | |
Poesiekosmos, auf dem sie tun und lassen kann, was sie will. | |
Grammatikregeln brechen und dabei trotzdem irgendwie alles zusammenhalten. | |
Ihre Muttersprache – brasilianisches Portugiesisch – fließe indirekt, über | |
Bedeutungen, Klang oder Rhythmus in ihre englischen Texte ein. | |
„Wir müssen lernen, anderen Sprachen zuzuhören, uns für ihre Schönheit zu | |
öffnen“, sagt die Co-Kuratorin Katarina Gotic Damiani, die selbst Dichterin | |
ist und aus Bosnien kommt. In den Ländern Ex-Jugoslawiens sei die Idee der | |
sprachlichen Reinheit gezielt eingesetzt worden, um Menschen voneinander | |
abzugrenzen. Die Lesereihe will das Gegenteil: Sie zeigt, dass Sprache | |
nicht trennt, sondern verbindet. Und dass es noch nicht zu spät ist, ihr | |
zuzuhören. | |
9 Jul 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Mehrsprachliche-Bildung/!5772834 | |
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[3] /Berliner-Spaetkauflaeden-/!5781543 | |
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## AUTOREN | |
Emilia Papadakis | |
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