| # taz.de -- Jüdisch-palästinensischer Protest: „Wir müssen uns entscheiden… | |
| > In Israel wächst der Unmut über das Vorgehen der Armee in Gaza, sagt der | |
| > Aktivist Alon-Lee Green. Einen Ausweg aus dem Krieg hält er für möglich. | |
| Bild: Tel Aviv, 24. Mai: Israelische Demonstrierende halten Fotos von in Gaza g… | |
| taz: Alon-Lee Green, wie geht es Ihnen? | |
| Alon-Lee Green: Das ist heutzutage eine komplizierte Frage. Beschäftigt. | |
| Beunruhigt. Sonnenverbrannt. Wir sind jeden Tag in der Sonne, bei Protesten | |
| oder bei der Organisation vor Ort. Aber ich habe auch das Gefühl, dass wir | |
| stärker sind, als wir es bisher waren. | |
| taz: Als Sie im Dezember 2023 in Berlin zu Gast waren, [1][haben Sie uns | |
| auch gesagt, dass Ihre Bewegung stärker wird]. Seitdem sind 18 Monate | |
| vergangen, der Krieg dauert an, und der Gazastreifen ist fast vollständig | |
| zerstört. Werden Sie nicht gehört in der israelischen Gesellschaft? | |
| Green: Nach dem 7. Oktober haben wir monatelang darum gekämpft, überhaupt | |
| einen Raum zu haben, in dem wir unsere Ablehnung der Angriffe auf Gaza zum | |
| Ausdruck bringen können, in dem wir ein Abkommen und einen Waffenstillstand | |
| fordern können. Es war schon eine große Herausforderung, überhaupt als | |
| Israelis und Palästinenser zusammen zu sein. Und natürlich begannen wir von | |
| Anfang an zu wachsen, weil es eine große Lücke gab, die wir fast allein | |
| füllten. Anderthalb Jahre später können wir die Früchte unserer Arbeit in | |
| der Gesellschaft sehen. Es ist uns nicht gelungen, das Töten und die | |
| Zerstörung zu stoppen. Aber wir haben es geschafft, unserer Gesellschaft | |
| die Frage aufzuzwingen, was für eine Art von Gesellschaft wir sein wollen. | |
| Es gibt jetzt eine wirklich heftige Diskussion über das Töten von Kindern | |
| in Gaza, über das Aushungern von zwei Millionen Menschen. Auch darüber, ob | |
| es in diesem Krieg um unsere Sicherheit geht oder um Vernichtung. | |
| taz: Von außen betrachtet scheint es so, dass auch in Israel immer weniger | |
| Menschen an die Darstellung glauben, dass es sich noch um einen | |
| Verteidigungskrieg handelt. | |
| Green: Vom ersten Moment an nach dem 7. Oktober konnte man die Absichten | |
| der Regierungsmitglieder in Israel hören. Sie benutzten Worte wie | |
| „Vernichtung“, „in die Steinzeit zurückbringen“, „Gaza auslöschen�… | |
| sie alle“, „Bombardiert sie mit Atomwaffen“. Die ganze Palette. Und langs… | |
| aber sicher gelang es ihnen, diese Absichten auch Teilen der Armee | |
| aufzuzwingen, die zurückhaltender waren und sagten, wir müssten auch | |
| Zivilisten schützen und so weiter. Es ist jetzt für jeden klar, dass die | |
| Absichten, die unsere Regierung schon früh vorgestellt hat, diesen Krieg | |
| bestimmen. Und ich glaube, dass viele Teile unserer Gesellschaft jetzt | |
| aufwachen und das erkennen. | |
| taz: Wie frustriert sind Sie, dass Menschen das heute erst merken? | |
| Green: In der Politik geht es um Macht. Es geht nicht darum, Recht zu | |
| haben. Es geht nicht darum, auf der richtigen Seite der Geschichte zu | |
| stehen. Es geht darum, Macht aufzubauen, um zu ändern, was geschieht. Und | |
| dafür brauche ich offene Arme, um strategisch zu denken und Koalitionen zu | |
| bilden. Koalitionen werden immer mit Menschen geschlossen, die nicht an | |
| dieselbe Ideologie oder dieselbe Politik glauben wie man selbst. Aber das | |
| ist die einzige Möglichkeit, Macht aufzubauen. | |
| taz: Und Sie glauben, dass Sie tatsächlich auf dem Weg zu einer breiten | |
| Koalition sind, zu einer Machtoption? | |
| Green: Wenn jetzt Wahlen stattfänden, würde Premierminister Benjamin | |
| Netanjahu nicht gewählt werden. Allerdings sind Oppositionsführer wie Benny | |
| Gantz oder Naftali Bennet zwar gegen Netanjahu, doch vertreten sie keine | |
| vollkommen andere Politik. Sie unterstützen in den meisten Fällen die | |
| Kriegsverbrechen in Gaza. Sie unterstützen die Einberufung weiterer | |
| Reservisten. Dennoch wäre es ein großer Schritt nach vorn, wenn es uns | |
| gelänge, Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir von der Macht zu entfernen … | |
| taz: … die rechtsextremen Minister für Finanzen und Innere Sicherheit … | |
| Green: … und sie durch eine Koalition zu ersetzen, die auch nur 20 Grad | |
| weiter nach links tendiert. Kompromissbereitschaft ist keine Schwäche. | |
| Kompromissbereitschaft ist die Fähigkeit, die Realität zu sehen und den | |
| besten Weg zum Ziel zu suchen. | |
| taz: Was heißt das konkret? | |
| Green: Das kann heißen, dass wir mit Teilen der Koalition zusammenarbeiten | |
| müssen, die extrem rassistisch sind, die manchmal extrem faschistische | |
| Tendenzen haben. Aber wenn so das Töten in Gaza zu stoppen ist, dann ist | |
| das ein ausreichender Grund für eine solche Zusammenarbeit. | |
| taz: Bei den großen Demos für Demokratie und gegen die umstrittene | |
| Justizreform, die es [2][vor dem 7. Oktober] gab, wurde die Besatzung fast | |
| nie angesprochen. Jetzt gehen die Menschen wieder auf die Straße – gegen | |
| Netanjahu, für die Geiseln. Aber auch für ein neues Zusammenleben zwischen | |
| Israelis und Palästinensern? | |
| Green: Wir müssen jeden Menschen zum Widerstand gegen diese Regierung | |
| bewegen, was auch immer der Grund dafür sein mag. Und Sie können jetzt | |
| jeden Samstag Hunderte, wenn nicht schon mehr als tausend Israelis sehen, | |
| die mit Bildern getöteter palästinensischer Kinder auf den Kundgebungen | |
| stehen. Wir führen diese Bilderaktion als Organisation an. Am Anfang kamen | |
| die Leute zu uns, sahen uns an und sagten: „Verräter, was macht ihr hier? | |
| Es geht um die Geiseln. Ihr beschmutzt unseren Protest!“ Und jetzt sind die | |
| Bilder der Kinder von Gaza schon auf einigen Hauptbühnen zu finden, wie bei | |
| den Protesten in Sabah und Haifa. | |
| taz: Benjamin Netanjahu arbeitet seit vielen Jahren daran, [3][eine | |
| Zweistaatenlösung] unmöglich zu machen. Jetzt ist Gaza zerstört und das | |
| Westjordanland wird immer weiter besiedelt. Welche Perspektive können Sie | |
| überhaupt noch anbieten? | |
| Green: Es gibt nur zwei mögliche Lösungen. Die eine ist, den Palästinensern | |
| einen unabhängigen Staat an der Seite Israels zu gewähren, wo sie die | |
| gleichen Rechte wie die Israelis haben. Die zweite ist, allen | |
| Palästinensern die israelische Staatsbürgerschaft zu gewähren und einfach | |
| einen Staat mit gleichberechtigten Bürgern zu haben. Wir müssen uns für | |
| eine dieser beiden Möglichkeiten entscheiden. Wenn wir das nicht tun, haben | |
| wir eine Apartheid, [4][wie wir sie jetzt schon im Westjordanland sehen]. | |
| Eine kleine Minderheit kontrolliert eine große Mehrheit. Die Minderheit hat | |
| Rechte, die Mehrheit hat keine. Diese Realität wird zu mehr Gewalt führen. | |
| Wir müssen uns entscheiden. | |
| taz: International positionieren sich immer mehr Länder kritisch gegenüber | |
| dem israelischen Vorgehen. Hilft das Ihrer Bewegung oder stärkt es eher das | |
| Narrativ, dass ohnehin immer alle gegen die Juden sind? | |
| Green: Man kann an den Staat Israel keine anderen Maßstäbe anlegen als an | |
| den Rest der Welt. Wir sind nichts Besonderes. Insofern gelten für uns die | |
| gleichen Fragen: Begeht die Regierung Kriegsverbrechen? Ist sie für | |
| Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich? Und die Antwort lautet: | |
| Ja, die israelische Regierung ist für Verbrechen gegen die Menschlichkeit | |
| und für Kriegsverbrechen verantwortlich. Regierungen in aller Welt, sogar | |
| in Europa, entscheiden, nicht mitschuldig zu sein und keine Waffen zu | |
| verkaufen. Die deutsche Regierung stolpert dabei. Sie sagt etwas, nur um zu | |
| sagen, was gesagt werden muss. Aber hat sie die Macht, diese Verbrechen zu | |
| verhindern? Die hat sie. Macht sie von dieser Macht Gebrauch? Das tut sie | |
| nicht. Aber Israel ist keine in der Geschichte gefangene Antiquität, die | |
| man nicht anfassen darf. | |
| taz: In Deutschland fühlen sich jüdische Menschen auf der Straße unsicher | |
| und vermeiden, als jüdisch erkannt zu werden. | |
| Green: Gegen Personen zu protestieren, die ein religiöses Symbol tragen, | |
| hat nichts mit unserem Kampf zu tun. Nein, das ist einfach nur Rassismus | |
| und Antisemitismus. Was haben die Menschen in der deutschen Synagoge mit | |
| dem Staat Israel zu tun? Sind sie verantwortlich, nur weil sie Juden sind? | |
| Das ist verrückt. Andersherum wird auch das Zeigen der palästinensischen | |
| Flagge in der Öffentlichkeit in Deutschland verurteilt. Da wird behauptet, | |
| jede Person, die sich für die Rettung der Palästinenser einsetzt, sei | |
| irgendwie antisemitisch. Das ist eine sehr bösartige Lüge, die gern von der | |
| Rechten verbreitet wird. | |
| taz: Aber sind die internationalen Proteste in ihrer Radikalität wirklich | |
| immer sinnvoll? | |
| Green: Hass, Gewalt und Antisemitismus haben keinerlei Legitimität, | |
| niemals. Sie sind aber auch strategisch falsch. Es gibt einen sehr großen | |
| Unterschied zwischen der Verurteilung dessen, was man nicht mag, und dem | |
| Aufbau von Macht, um es zu ändern. Was manche tun, ist eine selbstverliebte | |
| Selbstdarstellung, die oft sehr hermetisch daherkommt. Wenn man zig | |
| Kriterien erfüllen muss, um überhaupt in die Bewegung zu kommen, dann macht | |
| man die Bewegung kleiner. Mit dem Ziel, das Töten zu stoppen, werden sich | |
| mehr Menschen identifizieren, als wenn ich große Reden gegen Imperialismus, | |
| Zionismus und Kolonialismus schwinge. Wenn ihr den Kampf zur Ideologie | |
| macht, dann verliert ihr eine Menge Leute. | |
| 7 Jun 2025 | |
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