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# taz.de -- Jüdische Traditionen im Berliner Fußball: Hakoah bedeutet Kraft
> Der WFC Corso99/Vineta 05 hat verschiedene Vergangenheiten. Jetzt will
> der Klub im multikulturellen Wedding auch an seine jüdische Tradition
> erinnern.
Bild: Entscheidend ist auf’m Platz: beim Training vom WFC Corso 99/Vineta 05
Der Junge will schnell zum Fußballtraining. Das hat schon begonnen, aber er
bleibt unsicher stehen. „Von dir krieg’ ich noch was“, sagt Detlef Schach…
Der 69-Jährige ist bei einem kleinen Fußballverein im Berliner Norden
Jugendleiter. Er ist so einer mit Herz und Schnäuzer. Der 9-jährige Junge
lächelt nur schüchtern aus seinem Ronaldo-Trikot. „Polizeiliche
Meldebescheinigung“, setzt Schache nach. „Sagt dir dit was? Die muss ick
von dir haben.“ Leise antwortet der Junge: „Am Donnerstag.“ Dann darf er
endlich zum Training.
Es ist der WFC Corso 99/Vineta 05, der hier auf dem Sportplatz an der
Ofener Straße im Berliner Ortsteil Wedding zu Hause ist. Der komplizierte
Vereinsname verweist auf eine verwinkelte Fusionsgeschichte des Klubs, zu
der auch der SC Hakoah Berlin gehört, ein jüdischer Verein. Seit März 2025
hat Corso/Vineta einen neuen Vorstand, und der will nun die jüdische
Tradition stärker betonen. Der 2. Vorsitzende Ferdinand Houben, der
Geschäftsführer Gergö Hornburg und der Kassierer Johannes Refle sind drei
engagierte Studenten, die den Klub öffnen wollen, auch für [1][die
Geschichte von Hakoah].
Detlef Schache, der von seiner Bank aus breitbeinig das Training
beobachtet, sagt dazu: „Den Jungs aus der D- und C-Jugend muss man die
Geschichte nicht erzählen, die sind noch zu klein.“ Nahe der Müllerstraße
ist der Klub angesiedelt, hier ist das [2][Afrikanische Viertel], hier
leben Menschen aus der Türkei, aus arabischen Ländern, aus Afrika.
Im Amtsdeutsch heißt die Gegend „Bezirksregion Parkviertel“. 48 Prozent der
Menschen haben einen Migrationshintergrund, der sogenannte Ausländeranteil
an der Gesamtbevölkerung beträgt über 30 Prozent. Etwa ein Viertel der
Menschen ist von Transferleistungen abhängig. Das gilt als problematisch.
Dabei ist die Gegend hier hübsch: die Häuser, der Fußballplatz, der
imposante Altbau einer Schule. Einen Brennpunkt stellt man sich anders vor.
Hässlicher. Nur eine Baustelle neben dem Sportplatz, wo ein neues Haus
entsteht, stört ein bisschen die Idylle.
Ist es nicht gefährlich, als Klub aus der Müllerstraße bewusst seine
jüdische Tradition nach außen zu tragen? „Es stellt ein gewisses Risiko
dar“, sagt Ferdinand Houben. Haben sie Angst? „Das ist der falsche
Begriff“, antwortet er bestimmt und fügt hinzu: „Wir wollen da nur nicht
unvorbereitet reingehen.“
Houben führt das Gespräch in einer Umkleidekabine, mit Schweißgeruch und
wackeligen Bänken. Zusammen mit seinen Vorstandskollegen erklärt er dort,
was sie mit dem Verein vorhaben. „Unsere Pläne haben wir bislang nur
innerhalb des Vorstands besprochen.“ Während des Gesprächs klopft es immer
wieder an die Kabinentür. Die D-Jugend will sich umziehen, aber Houben hat
die Tür abgeschlossen.
Houben, Hornburg und Refle sind alle drei unter 25 Jahre alt, studieren an
der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft, wohnen im Kiez, im
Verein sind sie seit einem oder zwei Jahren aktiv, als Trainer betreuen sie
Jugendteams, und sie selbst kicken gemeinsam bei Roter Sterni – mit „i“ am
Ende, wie sie betonen. Das ist ein Freizeitteam, das in der 4. Berliner
Uni-Liga mitmischt und sich Corso/Vineta angeschlossen hat.
Mit ihrem Vorstandsengagement wollen sie den Verein modernisieren: digitale
Mitgliederverwaltung, Informationen sollen per E-Mail verschickt und
Whatsapp-Gruppen eingerichtet werden. Und die drei recherchieren die
Geschichte des Vereins, für den sie sich so engagieren.
Den SC Hakoah Berlin hat es von 1924 bis 1938 gegeben, bis die Nazis ihn
verboten haben. 1947 wurde er wiedergegründet, doch 1953 nannte sich Hakoah
in Vineta um. Die einen sagen, das habe daran gelegen, dass die meisten
Mitglieder – es waren Juden, die den Holocaust überleben konnten –
Deutschland verlassen hatten. Eine andere Version steht [3][auf der Website
von Corso/Vineta]: „Auf Grund der hohen Schulden des Vereins entschloss man
sich schweren Herzens, den Namen zu ändern. Damit dem neuen Verein
keinerlei Belastungen auferlegt werden konnten, übernahm der Spk. Rotholz
die Schulden des SC Hakoah.“
Als neue Namen seien Olympia, Fortuna, Berolina oder Vineta gehandelt
worden. Das Fachblatt Fußballwoche schrieb 1953: „Etwas traurig nahm man
Abschied von einem Namen, der jahrzehntelang an Fairness und
Sportkameradschaft erinnerte.“ „Hakoah“ ist das hebräische Wort für
„Kraft“, Vineta hingegen ist der Name einer Stadt an der Ostsee, die laut
Sage untergegangen ist.
## Mit der Vielfalt ist es vorbei
Detlef Schache, der Jugendleiter, der immer noch am Spielfeldrand die
Spielerpässe sortiert, kennt die Geschichte, weil er schon als Kind hier
kickte und fast sein ganzes Leben im Verein verbracht hat. „Es gab Corso 99
und Vineta 05, was vorher Hakoah war“, erklärt er. „Dann gab es noch den
Weddinger FC, der aus Columbia 06 und aus Athen 14 hervorging.“ Doch es
geht noch ein bisschen komplizierter: Hakoah, das sich 1924 gegründet
hatte, fusionierte 1929 mit dem traditionsreichen Bar Kochba – und der
wiederum war 1898 der erste jüdische Turnverein in Deutschland.
Viel Interessantes wird bei den Recherchen zutage gefördert. Doch bei den
drei Neuen im Vorstand ist auch eine Verunsicherung zu spüren, was nun aus
dem Wissen werden soll. „Wir haben ja auch nichts Konkretes“, sagt Johannes
Refle. Auf der Website, die sie gründlich überarbeitet haben, wird etwas
über die Vereinshistorie berichtet, aber wie viel Beachtung dieser Text
findet, wissen sie nicht.
Wie war es denn bisher? Detlef Schache sagt: „Die jüdische Geschichte
spielte bei uns nie ’ne Rolle.“ Man kannte sie, man nahm sie an. Mehr
nicht. Ferdinand Houben erinnert sich, dass er vor einem Jahr ein kleines
Turnier ausrichten wollte. „Als wir dem damaligen Vorstand die Teams
vorstellten, die wir einladen wollten, fragte jemand: Und was ist mit
Makkabi? Die könnt Ihr doch fragen. Wir haben doch auch eine jüdische
Tradition.“
Gemeint war der [4][TuS Makkabi]. Der existiert in Berlin seit 1970 und ist
der einzige jüdische Sportverein der Stadt. Doch als sich der SC Hakoah
Berlin 1924 gründete, sah die Welt des jüdischen Sports noch anders aus. Im
Unterschied zu Deutschland begann in Österreich schon der Profifußball, und
Hakoah Wien kickte ganz oben mit – als einer der besten Fußballvereine
Europas. Im März 1924 waren die legendären Hakoahner zu Gast in Berlin. Am
Gesundbrunnen im Wedding vor 7.000 Zuschauern spielte Wien gegen Tennis
Borussia. Die B.Z. am Mittag, das größte Boulevardblatt der Stadt, staunte,
welch unglaubliche Leistung Hakoah erst jüngst vollbracht hatte, „indem sie
in England die Berufsspieler-Mannschaft Westham United mit 5:0
niederkanteten“. Das Spiel gegen Tennis Borussia endete 3:3.
Bei dem Spiel 1924 war auch Eric Gumpert dabei, ein Junge aus dem Wedding,
der mit Freunden ins Stadion an der Pumpe gegangen war. „Als die Hakoahner
mit dem Davidstern auf der Brust auf den Sportplatz liefen, hüpfte mein
Herz vor Freude und Stolz, ein Jude zu sein“, berichtete er Jahre später.
Gumpert und ein paar Freunde gründeten den SC Hakoah Berlin.
Sie gehörten zu einer breiten jüdischen Sportbewegung in Deutschland:
Makkabi war die zionistisch orientierte Sportbewegung, der auch Hakoah
verbunden war. Eher nationaljüdisch war „Schild“ ausgerichtet, die
Sportbewegung des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten. Und links waren die
Hapoel-Vereine des jüdischen Arbeitersports.
Mit dieser Vielfalt ist es vorbei. Es gibt nur noch Makkabi Deutschland,
der einzige jüdische Sportdachverband hierzulande. Die Fußballer des TuS
Makkabi Berlin gewannen im Juni 2023 den Berliner Landespokal und empfingen
zwei Monate später in der Hauptrunde des DFB-Pokals den VfL Wolfsburg, sie
verloren 0:6. Im Jahr darauf erreichte Makkabi wieder das
Landespokalfinale, diesmal verlor man gegen Viktoria 0:3. Es war erneut ein
Achtungserfolg für den Klub, der sich mittlerweile gut in der Oberliga
Nordost hält, der fünften Klasse im deutschen Fußball.
Doch nicht nur fußballerisch ist Makkabi in den Schlagzeilen. Vor allem
nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 haben
antisemitische Übergriffe wieder zugenommen. Im November 2024 wurden
B-Jugend-Kicker bei einem Auswärtsspiel in Neukölln erst beleidigt, später
jagte eine Gruppe Jugendlicher die Nachwuchsfußballer mit Stöcken und
Messern. Alon Meyer, Präsident von Makkabi Deutschland, sagte: „Wir werden
beschimpft, attackiert und gejagt.“ Meyer fügte hinzu, fast alle Übergriffe
gegen Makkabi-Teams gingen von Tätern muslimisch-arabischer Herkunft aus.
Droht der Bezug auf die jüdische Historie den von migrantischen
Jugendlichen geprägten Kiezklub zu zerreißen? Das glaubt hier im Wedding
keiner. Es ist und bleibt ein Fußballverein, und zwar einer, der sich schon
vor langer Zeit ein Motto gegeben hat: „Wir im Wedding! Fußball für alle!“
Daran halten auch Houben, Hornburg und Refle fest. „Wir wollen ein Verein
sein, der soziale Verantwortung teilt“, sagt Houben, und spricht von einer
„Identität und Philosophie“, die es zu entwickeln gilt. Konkret ist der
Verein an Schulen in der Umgebung herangetreten. „Wir wollen für Lehrkräfte
Ansprechpartner sein“, sagt er, „und wir wollen für Kinder und Jugendliche
da sein, die Diskriminierung erlebt haben.“ Ein besonderer Klub für diesen
besonderen Kiez. „Das Kind, das die längste Anreise hat, kommt von der
Bornholmer Straße“, sagt Johannes Refle. Die Bornholmer liegt auch im
Wedding, ist aber mit Tram und U-Bahn immerhin sieben Stationen entfernt.
„Ich wüsste hier kein Kind, das keinen migrantischen Hintergrund hat“,
ergänzt Gergö Hornburg, der ungarische Wurzeln hat.
## Es fehlt Mädchen- und Frauenfußball
Bald findet in der Erika-Mann-Grundschule im Wedding ein Fußballturnier
statt. „Wir werden als Verein präsent sein“, berichtet Johannes Refle, „…
Stand, mit Flyer, mit Angeboten.“ Gergö Homburg sagt: „Perspektivisch
wollen wir die Jugendarbeit verdoppeln, von aktuell vier auf sieben oder
acht Teams.“ Dass das eine Herausforderung ist, dass sie dafür noch
Menschen brauchen, die betreuen, die Training abhalten und bereit sind,
sich dafür zu qualifizieren, ist den dreien klar. „Aber“, sagt Ferdinand
Houben selbstbewusst, „wir haben noch Wachstumspotenzial.“
Etwas fehlt überdeutlich: Mädchen- und Frauenfußball. „Das ist ein
wunderbares Szenario, aber wir müssen im Rahmen unserer Kapazitäten
planen“, bedauert Johannes Refle. Über den Kontakt zu Schulen wollen sie
Mädchen finden, die dort bereits kicken. Gergö Hornburg erzählt, vor etwa
zehn Jahren habe es noch eine recht große Mädchenabteilung gegeben. „Die
ist dann zu einem anderen Verein gegangen.“ Immerhin, darauf sind die drei
stolz, in den Freizeitteams von Corso/Vineta sind Frauen beziehungsweise
Flinta* gut vertreten. „Bei unserem Roter Sterni sind es 30 bis 40
Prozent.“
Houben berichtet auch, dass er in seinem Politologiestudium eine Arbeit zu
Fußball und Klassismus geschrieben hat. „Da habe ich versucht, für
Fußballvereine ein solidarisches Beitragsmodell zu entwickeln.“ Es geht
darum, für Kinder aus Familien, für die der Mitgliedsbeitrag, ein Paar neue
Fußballschuhe oder die Reise zu einem Turnier eine große finanzielle
Belastung darstellt, den Sport zu ermöglichen. Diese Ideen versuchen sie in
nächster Zeit umzusetzen. Eine ganz konkrete Sache soll bald kommen: eine
Tauschbörse für Trainingsausrüstung unter Mitgliedern.
Unterstützung erhält Corso/Vineta vom Berliner Fußballverband (BFV). Von
dort kam der Vorschlag, sich mit anderen Vereinen, die einen ähnlichen
Ansatz haben, zu beratschlagen. Das sind Klubs wie der FC Internationale,
Polar Pinguin oder Hansa 07. BFV-Präsident Bernd Schultz will bald im
Wedding vorbeikommen. Vom BFV kam auch der Vorschlag: Redet doch mal mit
Makkabi! Diese Gespräche laufen. „Bislang ist alles positiv“, sagt Gergö
Hornburg, „dabei stehen wir ja noch sehr am Anfang.“
Der WFC Corso 99/Vineta 05 repräsentiert das Englische und das Afrikanische
Viertel links und rechts der Müllerstraße ziemlich gut. Eine Weddinger
Mischung, die allerdings vor enormen Herausforderungen steht. „Der Anteil
deutscher Personen ohne Migrationshintergrund nimmt weiter kontinuierlich
ab“, heißt es im offiziellen „Bezirksregionenprofil“ über das Parkviert…
„Über 79 Prozent der Grundschüler*innen haben eine nichtdeutsche
Herkunftssprache.“
Dass der Fußball eine große verbindende Kraft hat, davon sind bei
Corso/Vineta alle überzeugt. Umso wichtiger ist, dass die Modernisierung
gelingt: Das ist die Digitalisierung, aber das ist auch das Freilegen der
historischen Wurzeln dieses Klubs, bei dem nicht nur die Geschichte der
ständigen Vereinsfusionen zeigt, wie wichtig Zusammengehen ist.
Draußen läuft derweil das Training der D-Jugend. Ein Vater steht am Rand,
schaut zu und verwaltet die Handys, die ihm die Kinder gegeben haben. „Mein
Junge war früher schon mal im Verein, aber dann ist er raus“, erzählt er.
„Es waren ihm zu viele Araber hier.“ Der Vater, ein gebürtiger Kurde, der
auch in der Nachbarschaft lebt, hat den Kleinen im Kickboxverein
angemeldet, aber dann wollte er doch zurück zum Fußball. Und die arabischen
Kinder? „Die stören ihn nicht mehr. Er hat jetzt Freunde hier.“
29 May 2025
## LINKS
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[4] /Finale-im-Berliner-Landespokal/!6012624
## AUTOREN
Martin Krauss
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