| # taz.de -- Juden in Ostdeutschland: Gehen oder bleiben | |
| > Jüdische Gemeinden in Ostdeutschland schrumpfen, die Jungen ziehen weg. | |
| > Was bleibt, sind überalterte Strukturen. Haben junge Juden dort eine | |
| > Zukunft? | |
| Bild: Bei einem Festakt der Gemeinde Schwerins spricht Josef Schuster vom Zentr… | |
| Als Daniella L. endlich alt genug ist, schließt das Jugendzentrum. Sie weiß | |
| noch, wie groß ihr die jüdische Gemeinde damals vorkommt und wie groß die | |
| Möglichkeiten sind – für alle, nur für sie nicht. Die Jugendlichen gehen in | |
| die Sonntagsschule. Daniella ist noch zu klein. Die Jugendlichen fahren auf | |
| Ferienfreizeiten. Daniella darf noch nicht mit. | |
| Ihre Mutter gründet das Zentrum Ende der Neunziger für jüdische Jugendliche | |
| in Schwerin. Es ist einer der wenigen Orte, an denen sich die Jugendlichen | |
| nicht assimilieren oder rechtfertigen mussten. „Hier hatten alle einen | |
| sowjetisch-jüdischen Hintergrund“, sagt Daniella L. | |
| Sie erinnert sich nur noch an die Tür zum Zentrum. Jemand hat darauf einen | |
| Luftballon gemalt und eine Hand, die ihn festhält. | |
| Als sie in die dritte Klasse kommt, bleibt die Tür geschlossen – bis heute. | |
| Der Grund: Viele sind weggezogen. Nach Hamburg, Frankfurt, Berlin. Weil in | |
| Schwerin, „da gibt es nichts“, sagt sie. Yuriy Kadnykov, der Landesrabbiner | |
| von Mecklenburg-Vorpommern, erzählte im [1][Deutschlandfunk], er müsse | |
| ständig auf den Friedhof gehen, anstatt Bar Mizwas oder Bat Mizwas zu | |
| feiern – eine Art „Jugendweihe“ für Juden und Jüdinnen. | |
| Am Ende bleiben bei Daniella L. außer ihr nur noch zwei, drei Kinder. Auch | |
| sie wird nach dem Abitur nach Berlin ziehen. | |
| ## Schrumpfen bedroht die Existenz | |
| Was in Schwerin passiert, passiert in vielen jüdischen Gemeinden. Vor allem | |
| in den ostdeutschen Bundesländern. Im Vergleich zu Westdeutschland haben | |
| die Gemeinden laut Zentralrat der Juden dort deutlich weniger Mitglieder. | |
| Der Zentralrat ist die größte Vertretung der Jüdinnen und Juden in | |
| Deutschland. Die Union progressiver Juden ist deutlich kleiner und hat nur | |
| eine Gemeinde in Ostdeutschland, in Magdeburg. | |
| Die jüdischen Gemeinden in Ostdeutschland ohne Berlin haben nur etwa 800 | |
| Mitglieder mehr als die Gemeinde [2][Frankfurt am Main] allein. Schrumpfen | |
| die ostdeutschen Gemeinden, bedroht das schnell ihre Existenz. Für junge | |
| Juden ist das ein Problem. Laut [3][Mitgliederstatistik 2023 der | |
| Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland] machen die 22- bis | |
| 30-Jährigen nur sieben Prozent in den Gemeinden aus. Aber wohin gehen, wenn | |
| sie jüdische Gemeinschaft suchen? | |
| Dass es in Schwerin eine Zeit lang ein Jugendzentrum und viele Kinder gab, | |
| liegt an den sogenannten „Kontingentflüchtlingen“: Jüdinnen und Juden, die | |
| zwischen 1990 und 2005 die ehemalige Sowjetunion verließen, weil die | |
| Regierung unter Helmut Kohl das jüdische Leben in Deutschland | |
| revitalisieren wollte. Ohne sie lässt sich die Geschichte jüdischen Lebens | |
| in Deutschland nicht erzählen. Erst durch die rund [4][220.000 | |
| Migrant*innen] wuchs die Gemeinschaft in Deutschland nach der Schoah | |
| wieder. Der Historiker Dmitrij Belkin schreibt dazu: Hätte die Einwanderung | |
| nicht stattgefunden, gäbe es im heutigen Deutschland keine jüdischen | |
| Gemeinden jenseits der Großstädte. | |
| Als die Kontingentflüchtlinge nach Schwerin kamen, titelte die Schweriner | |
| Volkszeitung: „Zu Hause in Schwerin – Die Jüdische Gemeinde begrüßt ihr | |
| tausendstes Mitglied“. Das tausendste Mitglied, das war Daniella L. Auf dem | |
| Foto ist sie ein Jahr alt, sitzt auf dem Arm ihrer Mutter und schaut in die | |
| Kamera. Daniellas Familie war 1996 aus der Ukraine nach Deutschland | |
| gekommen. Spricht Daniella L. heute darüber, lacht sie: „Es ist | |
| interessant, wie damals über uns berichtet wurde. Endlich wieder Juden in | |
| Schwerin.“ | |
| 2021 waren es nur noch knapp 600. Dass heute die Mitgliederzahlen in den | |
| jüdischen Gemeinden wieder sinken, sei leider nicht ungewöhnlich, sagt | |
| Zsolt Balla. Er ist Landesrabbiner in Sachsen und Gemeinderabbiner in | |
| Leipzig. Viele Kontingentflüchtlinge hätten ihre jüdische Identität nur auf | |
| der Geburtsurkunde stehen. Durch die starke Säkularisierung in der | |
| Sowjetunion wussten die Kontingentflüchtlinge wenig über jüdische Religion | |
| und Kultur. „Daher ist auch die Bildungsarbeit in den Gemeinden wichtig“, | |
| sagt Balla. | |
| Trotzdem ist er sich sicher: Jüdisches Leben hat in Sachsen eine Zukunft. | |
| ## Niedrigschwellige Angebote | |
| Das gilt insbesondere für Leipzig. Katrin I. ist der Beweis. Schon als Kind | |
| probierte sie in der jüdischen Gemeinde Leipzig ungefähr jedes Hobby einmal | |
| aus. Sie singt im Chor, spielt Klavier, nimmt am Kunstunterricht teil, | |
| fährt auf Ausflüge. Heute ist sie 24 Jahre alt, seit 2019 hilft sie beim | |
| wöchentlichen Schabbat und an Feiertagen. Deckt den Tisch, lädt Leute ein, | |
| überlegt sich Spiele für die Abende. | |
| Wie sie engagieren sich auch andere – die Gemeinde wächst. Auch „weil das | |
| Angebot niedrigschwelliger wird, von jungen Menschen für junge Menschen“, | |
| sagt sie. Die Besucher werden diverser. Während früher viele | |
| russischsprachig aufgewachsen sind, ändert sich das. „Wir haben jetzt viele | |
| internationale Studierende. Hauptsächlich sprechen wir weder Deutsch noch | |
| Russisch noch Hebräisch, sondern Englisch.“ | |
| Leipzig ist die ostdeutsche Stadt, die seit 1996 am stärksten wächst. „Ich | |
| habe das Gefühl, dass Leipzig besonders ist“, sagt Katrin I. Die Gemeinde | |
| vereine viele Perspektiven, von orthodox bis nicht religiös. | |
| Inzwischen arbeiten für die Gemeinde drei studentische Hilfskräfte. Eine | |
| davon ist Katrin I. Angestellt sind sie bei Hillel, einer jüdischen | |
| Bildungsinitiative, die Gemeinden unterstützt. „Vor fünf Jahren wäre das | |
| noch nicht möglich gewesen“, sagt sie. Doch obwohl die Gemeinde wächst, | |
| fehlt in der Stadt das jüdische Angebot. Anders als in München, Frankfurt | |
| am Main oder Berlin gibt es keine jüdischen Schulen, keine Kindergärten, | |
| keine koscheren Restaurants und Lebensmittelläden. | |
| Katrin I. erzählt, sie pendle gerade viel zwischen Leipzig und Berlin, | |
| „weil ich dort koscher einkaufen kann oder wenn ich mal einen schönen Abend | |
| verbringen möchte in einem Restaurant“. Andere Gemeindemitglieder haben | |
| Kinder, die nach Berlin zur Schule pendeln. „Wenn man ein religiöses oder | |
| ein kulturelles jüdisches Leben führen möchte, dann wird man früher oder | |
| später in eine der größeren jüdischen Städte ziehen.“ | |
| Dass das Angebot in Westdeutschland besser ist, hat auch historische | |
| Gründe. Nach 1945 gab es dort einen wirtschaftlichen Aufschwung, das wirkte | |
| sich auch auf die finanzielle Unterstützung der Gemeinden aus. In der DDR | |
| war das anders – die wirtschaftliche Lage war schlecht, in die Gemeinden | |
| floss kaum Geld. Die DDR verstand sich zwar als „antifaschistischer“ Staat, | |
| antisemitische Vorfälle verschwieg sie aber. Spätestens ab 1950 nahm | |
| antisemitische Propaganda zu. Seitdem verbot die SED kulturelle | |
| Veranstaltungen, verhörte Vorsitzende jüdischer Gemeinden und verlangte | |
| Mitgliederlisten. [5][400 Juden verließen 1953 die DDR] – auch fünf der | |
| insgesamt acht Gemeindevorsitzenden. | |
| ## Eine Allianz für Mitteldeutschland | |
| Um junge Juden und Jüdinnen in Ostdeutschland auch außerhalb von Leipzig | |
| und Berlin zu erreichen, hat Alexander Tsyterer im Oktober 2023 JAM | |
| gegründet, die „Jüdische Allianz Mitteldeutschland“. Der Verein wendet si… | |
| an Leute zwischen 18 und 35, die eine junge jüdische Community suchen, und | |
| ist in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg oder Thüringen aktiv. | |
| Alexander Tsyterer will zeigen: Es gibt vielfältiges jüdisches Leben in | |
| Ostdeutschland. Zumindest ist der 21-Jährige aus Chemnitz gerade dabei, es | |
| aufzubauen. „Junge Menschen verschwinden am Ende“, befürchtet Tsyterer. Er | |
| will die Community öffnen – auch für Menschen, die nicht religiös sind und | |
| für Kinder jüdischer Väter und Großeltern, die nach jüdischem | |
| Religionsgesetz nicht jüdisch sind. Viele Gemeinden akzeptierten sie ohne | |
| jüdische Mutter nicht als Mitglieder. „Wir können uns das nicht erlauben, | |
| da wir in Ostdeutschland so wenige sind“, sagt Tsyterer. | |
| Wie wichtig Gemeinschaft ist, lässt sich an David sehen. Er muss aus einer | |
| kleinen Gemeinde in Ostdeutschland nach Leipzig fahren und möchte anonym | |
| bleiben. Das Problem in seiner Gemeinde: „Ich mag ältere Menschen, aber ich | |
| bin jung, und sie sind alt – und sie wissen es, und ich weiß es.“ | |
| Es sei eine schwermütige Atmosphäre, auch weil der Mangel an jungen Leuten | |
| das Aussterben der Institution ankündige, sagt er. Hinzu kommt, dass die | |
| meisten Mitglieder untereinander nur Russisch sprechen. „Es fällt mir | |
| schwer, mit vielen in Kontakt zu treten, weil ich kein Russisch kann.“ | |
| Dass in Davids Stadt die meisten Leute nicht wissen, dass es eine Gemeinde | |
| gibt, sei auch gewollt. Die Gemeinde legt keinen Wert darauf, sichtbar zu | |
| sein, auch weil die Angst sehr groß sei. „Es gibt einfach eine krass | |
| latente Bedrohung durch Rechtsextremismus. Hier sind Hunderte | |
| untergetauchte Rechtsextreme unterwegs, im Zweifelsfall bewaffnet – und das | |
| sind die Bedingungen, unter denen jüdisches Leben hier stattfindet.“ | |
| David fürchtet, dass „der Rechtsextremismus das demografische Problem | |
| überholt.“ Die Meldestelle RIAS Sachsen, die für 2023 deutschlandweit | |
| antisemitische Vorfälle erfasst, führt Sachsen und Thüringen als | |
| [6][„Spitzenreiter“]. | |
| David weiß nicht, ob es in zehn Jahren überhaupt noch Juden in | |
| Ostdeutschland gibt. „Ich würde sofort meine Sachen packen, wenn es hier | |
| eine AfD-Regierungsbeteiligung gibt.“ Daher hält er es für | |
| unwahrscheinlich, dass junge Menschen in seine Stadt ziehen. Leute, denen | |
| ein jüdisches Gemeindeleben wichtig sei, blieben nicht hier. | |
| David bleibt. Sein Zuhause sei die Gemeinde hier aber nicht – schon eher | |
| Leipzig. Wenn er dort ist, trifft er auch junge Menschen, die seine Sprache | |
| sprechen. „Ich kenne schon ein paar, freue mich, sie zu sehen. Und das ist | |
| einfach nett.“ | |
| 7 Jul 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/juedische-gemeinden-mit-nachwuchssorge… | |
| [2] https://www.zentralratderjuden.de/gemeinden/juedische-gemeinde-frankfurt-am… | |
| [3] https://zwst.org/sites/default/files/2024-06/ZWST-Mitgliederstatistik-2023-… | |
| [4] https://mediendienst-integration.de/gruppen/postsowjetische-migranten.html/ | |
| [5] https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/37957/antis… | |
| [6] https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/pressemitteilungen/schwerpunkt-oeffe… | |
| ## AUTOREN | |
| Jana Laborenz | |
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