# taz.de -- Sonderbeauftragter für Recht auf Nahrung: „Die UNO ist an der Gr… | |
> Israel zählte schon vor dem 7. Oktober die Kalorien, die nach Gaza | |
> gelassen wurden, sagt Michael Fakhri. Ein Gespräch über den Hunger als | |
> Waffe. | |
Bild: Eine Szene aus einem Flüchtlingslager in Dschabaliya, Gaza am 19. Mai | |
taz: Vor sieben Jahren verabschiedete der UN-Sicherheitsrat einstimmig | |
[1][die Resolution 2417], die den Einsatz von Hunger als Waffe verhindern | |
sollte. Was ist sie heute wert? | |
Michael Fakhri: Viele waren begeistert, dass damit ein Verfahren geschaffen | |
wurde, um den Sicherheitsrat rechtzeitig über die Gefahr des Aushungerns zu | |
informieren und ihm die Möglichkeit zu geben, so schnell wie möglich zu | |
handeln. Nicht überraschend sehen wir jedoch, dass der Sicherheitsrat je | |
nach Konflikt durch unterschiedliche Vetos blockiert wird. | |
taz: Wann kam die Resolution bisher zum Einsatz? | |
Fakhri: Nachdem Russland die Ukraine überfallen hatte, warfen die USA und | |
Europa Russland vor, durch die Blockade ukrainischer Weizenexporte eine | |
weltweite Nahrungsmittelkrise ausgelöst zu haben. Ich wurde vom | |
Sicherheitsrat eingeladen und erklärte, dass Russlands Vorgehen nur die | |
bestehende Nahrungsmittelkrise verschlimmert hatte, die durch Covid-19 | |
verursacht wurde. Gleichzeitig hat das Welternährungsprogramm, einer der | |
größten Einkäufer von Weizen auf der Welt, während des Kriegs mehr Weizen | |
von der Ukraine eingekauft, obwohl es wusste, dass die Lieferketten | |
unterbrochen waren. Das Welternährungsprogramm wollte auf diese Weise die | |
Ukraine gegen Russland unterstützen. Dies ist ein Beispiel für die | |
Militarisierung der humanitären Hilfe, die nicht diskutiert wird. | |
taz: Wenn die Resolution ernst genommen würde, was müsste dann für Gaza | |
folgen? | |
Fakhri: Israel hat 78 Tage lang die Einfuhr humanitäre Hilfe nach Gaza | |
verweigert. Allein im März hat dies zu einem Anstieg der akuten | |
Unterernährung bei Kindern um 80 Prozent geführt. Israel sagte, es wolle | |
Druck auf die Hamas ausüben, damit diese verhandelt und die Geiseln | |
freilässt. Mit anderen Worten: Israel hat zugegeben, die humanitäre Hilfe | |
für Zivilisten als Druckmittel einzusetzen. Das ist ein Kriegsverbrechen | |
und ein Verstoß gegen das Völkerrecht. | |
taz: Was hätte der Sicherheitsrat dagegen tun können? | |
Fakhri: Der Sicherheitsrat hätte im Rahmen der UN-Resolution 2417 Israel | |
auffordern können, die Blockade zu beenden. Er könnte UN-Friedenstruppen | |
ermächtigen, die Blockade zu durchbrechen. Sie könnten die humanitären | |
Konvois begleiten, die an der Grenze warten, wo die Lebensmittel schlecht | |
werden. Das hätte geschehen müssen, um zu verhindern, dass all diese | |
Menschen verhungern und sterben. | |
taz: [2][Israel hat vergangene Woche die Blockade aufgehoben]. Was bedeutet | |
das für die Menschen in Gaza? | |
Fakhri: Die Berichte sind unklar, was tatsächlich hineingelassen werden | |
soll. Bislang sind es knapp 200 Lieferwagen – viel zu wenige, um die | |
Hungerkatastrophe abzuwenden. Israel hätte ankündigen sollen: Wir öffnen | |
die Grenzen für alle humanitären Hilfsgüter, um so viel wie möglich | |
durchzulassen. Das wäre korrekt gewesen. Die UNO ist an der Grenze bereit. | |
Wir haben Verteilersysteme. Lasst uns rein. | |
taz: Israel behauptet, dass sich die Hamas die Hilfslieferungen schnappt, | |
die ins Land kommen. | |
Fakhri: Israel hat keine Beweise für diese Behauptung vorgelegt. Alle | |
UN-Organisationen, die in Gaza präsent sind, haben ebenfalls erklärt, es | |
stimme nicht, dass humanitäre Hilfe an die Hamas umgeleitet wird. Aber | |
letztlich ist das auch fast egal. Israel ist dafür verantwortlich, dass die | |
Zivilbevölkerung im Gazastreifen humanitäre Hilfe erhält, da es dort die | |
Besatzungsmacht ist. Dies wurde vom Internationalen Gerichtshof bestätigt. | |
Sie sollen die UNO ihre Arbeit machen lassen. Das ist meine Antwort auf | |
diese Frage. | |
taz: Was halten Sie von dem Vorschlag der USA und Israels, private | |
Sicherheitsfirmen mit der Verteilung von Hilfsgütern in Gaza zu | |
beauftragen? | |
Fakhri: Nach dem Plan sollen private Sicherheitsfirmen Verteilungszentren | |
schützen. Das heißt, Zivilisten müssen in ein bestimmtes Gebiet kommen, um | |
humanitäre Hilfe zu erhalten. Auf diese Weise werden sie jedoch vertrieben | |
und in einem Gebiet konzentriert. Gleichzeitig hat Israel in der | |
Vergangenheit immer wieder Zivilisten angegriffen, während sie humanitäre | |
Hilfe erhielten. Das Kinderhilfswerk Unicef, das sich nie einer scharfen | |
Sprache bedient, sagte, Israel mache damit Zivilisten zu Ködern. | |
taz: Warum schlägt Israel dieses Vorgehen vor? | |
Fakhri: Ich denke, es ist schwieriger, private Sicherheitsfirmen zur | |
Verantwortung zu ziehen. Warum haben die Vereinigten Staaten eine private | |
Stiftung in der Schweiz gegründet, um humanitäre Hilfe in Gaza zu | |
finanzieren? Weil es damit an Transparenz mangelt. | |
taz: In einem Bericht schreiben Sie, dass Israel schon vor dem 7. Oktober | |
Hunger als Kriegswaffe eingesetzt hat. Was meinen Sie damit? | |
Fakhri: Schon vor 25 Jahren hat Israel begonnen, den Personen- und | |
Warenverkehr nach Gaza erheblich einzuschränken. 2006 zog Israel seine | |
Truppen zurück und evakuierte die Siedler. Wie der Internationale | |
Gerichtshof feststellte, blieb Israel dennoch weiterhin Besatzungsmacht, | |
weil es jeden Aspekt des täglichen Lebens in Gaza kontrollierte. Im Jahr | |
2007 begann Israel mit der Zählung von Kalorien auf der Grundlage einer | |
Pro-Kopf-Messung. Man wollte alle Menschen im Gazastreifen hungrig halten | |
– aber nicht so hungrig, dass eine humanitäre Krise drohte. Dies nannte | |
Israel „Gaza-Diät“. Am 6. Oktober 2023 waren 50 Prozent der Menschen in | |
Gaza hungrig und 80 Prozent auf humanitäre Hilfe angewiesen. | |
taz: Hatte Gaza kein Ernährungssystem? | |
Fakhri: Sie waren Selbstversorger mit Obst und Gemüse und hatten Vieh. Doch | |
ab dem 9. Oktober 2023 begann Israel, das Nahrungsmittelsystem zu | |
zerstören: Obstgärten, Gewächshäuser, Farmen und Fischerboote wurden in 19 | |
Monaten vernichtet. Das macht es den Menschen jetzt und in Zukunft | |
unmöglich, sich selbst zu ernähren. | |
taz: Hat Israel das Nahrungsmittelsystem gezielt zerstört? | |
Fakhri: Am 9. Oktober 2023 verhängte Israel eine vollständige Blockade und | |
kündigte eine Hungerkampagne an. Dann ließ es wieder Hilfslieferungen zu, | |
schränkte sie aber erheblich ein, was es nicht darf. Und wenn schließlich | |
Konvois durchkamen, mussten sie sich mit der israelischen Armee abstimmen. | |
Dennoch liegen uns mehr als 15 Berichte der Vereinten Nationen vor, wonach | |
israelische Streitkräften gezielt und direkt humanitäre Konvois angegriffen | |
haben. Es gibt kaum noch Krankenhäuser in Gaza, und Israel bombardiert | |
weiterhin Schulen. Die übergeordnete Strategie besteht darin, Gaza zu | |
annektieren. Und wir sehen verschiedene Taktiken. Es handelt sich also um | |
eine Mischung aus Hungersnot und Vertreibung, und die Infrastruktur wird | |
grundlegend zerstört. Es ist ein Genozid. | |
taz: Wie hängt das Aushungern als Methode mit der Absicht zusammen, den | |
Gazastreifen zu besetzen? | |
Fakhri: Aushungern als Kriegswaffe hat den Zweck, Menschen zu vertreiben. | |
Im Oktober 2023 kündigte Israel seine klare Absicht an, den nördlichen | |
Gazastreifen ethnisch zu säubern und alle Menschen in den Süden zu drängen. | |
Erst kürzlich hat Israel seinen Annexionsplan öffentlich angekündigt. Aber | |
wir wussten bereits im September 2023, dass Israel die Absicht hatte, den | |
Gazastreifen zu annektieren. In der UN-Generalversammlung hielt | |
Premierminister Netanjahu eine Karte hoch von dem, was er Israel nannte. | |
Auf dieser Karte war eine vollständige Annexion aller palästinensischen | |
Gebiete eingezeichnet, also des Gazastreifens, des Westjordanlands und | |
Ostjerusalems. Von Anfang an hat Israel den Hunger genutzt, um Menschen zu | |
vertreiben, zu töten und zur Flucht zu bewegen. | |
taz: Der Gazastreifen ist nicht der einzige Ort, an dem Hunger als | |
Kriegswaffe eingesetzt wird. Wie ist die Lage [3][in Sudan]? | |
Fakhri: Wenn Israels Hungerkampagne in Gaza die schnellste Hungersnot ist, | |
die wir je gesehen haben, dann ist Sudan die größte Hungerkampagne, die es | |
in der modernen Geschichte gibt. 24 Millionen Menschen leiden entweder an | |
einer Hungersnot oder sind von einer Hungersnot bedroht. | |
taz: Woran liegt das? | |
Fakhri: In Sudan setzen beide Seiten des Bürgerkriegs den Hunger als Waffe | |
ein, sowohl die sudanesischen Streitkräfte als auch die Rapid Support | |
Forces, die RSF. Viele sagen, das sei kein Bürgerkrieg, sondern ein Krieg | |
gegen Zivilisten. | |
taz: Die UNO braucht die Erlaubnis der Weltgemeinschaft, um einzugreifen. | |
Wie kann der Hunger in Sudan gestoppt werden? | |
Fakhri: Die Zivilgesellschaft in Sudan hat das Welternährungsprogramm dafür | |
kritisiert, dass es keine alternativen Wege gefunden hat, um humanitäre | |
Hilfe in die verschiedenen Teile Sudans zu bringen. Ich fordere den | |
Sicherheitsrat auf, das Welternährungsprogramm und die UN-Organisationen in | |
den Sudan zu entsenden, damit sie ihre Arbeit machen, und sie mit | |
Friedenstruppen zu schützen. Es ist an der Zeit, zu erkennen: Je länger wir | |
dies zulassen, desto mehr wird Hunger als Kriegswaffe eingesetzt werden. | |
25 May 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.un.org/depts/german/sr/sr_18/sr2417.pdf | |
[2] /-Nachrichten-im-Nahost-Krieg-/!6088897 | |
[3] /Schwerpunkt-Krieg-in-Sudan/!t5930698 | |
## AUTOREN | |
Leila van Rinsum | |
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