| # taz.de -- Im Schatten des Schwerlastverkehrs: Die verschwundene Siedlung | |
| > Mitten im Hamburger Hafen existierte einmal eine kleine Welt für sich: | |
| > die Siedlung Neuhof. Elke Rahn lässt sie nicht mehr los. | |
| Bild: Elke Rahn mit einem der Ordner, in denen sie Material zu Neuhof sammelt | |
| Hier hat schon lange kein Kind mehr den Unterricht besucht. Das Erdgeschoss | |
| der alten Schule ist mit Graffiti besprüht, das Ziegeldach bewachsen von | |
| Flechten und Moos. Der Rotklinkerbau mit weißen Sprossenfenstern, von denen | |
| die meisten eingeschlagen sind, ist heute nur noch ein Überbleibsel aus der | |
| Zeit, als Hamburg-Neuhof ein lebendiges Viertel war. Heute qualmt und lärmt | |
| es in dem Industriegebiet eigentlich nur noch. | |
| Etwa einen Kilometer von der alten Schule entfernt [1][befindet sich die | |
| Köhlbrandbrücke]. Eine markante Schrägseilkonstruktion im Hamburger Hafen, | |
| die Wilhelmsburg mit der A7 verbindet. Sie überspannt den Köhlbrand, einen | |
| Seitenarm der Elbe, und ist eines der bekanntesten Wahrzeichen Hamburgs – | |
| steht aber wegen baulicher Mängel [2][vor dem Abriss]. Sie beginnt mit der | |
| ansteigenden östlichen Rampenbrücke, ehe Autos und LKW in über 50 Metern | |
| Höhe den Köhlbrand überqueren. | |
| Was nur wenige wissen: Unmittelbar neben der Köhlbrandbrücke lebten einst | |
| über 3.000 Menschen, ein wenig abgekapselt in ihrem eigenen Habitat. | |
| Zwischen der Nippoldstraße und der Köhlbrandstraße, die es heute nicht mehr | |
| gibt, standen 87 vierstöckige Wohnhäuser in zwei Blocks. 1979 wurden die | |
| Häuser abgerissen. Vom alten Leben ist bis auf zwei Gebäude nicht viel | |
| geblieben – Neuhof wirkt heute wie eine Geisterstadt mitten im Hamburger | |
| Hafen. | |
| Elke Rahn geht mit kleinen Schritten die Straße entlang. Ihr graues Haar | |
| trägt die 80-Jährige kurz, ihren Fiat 500 hat sie direkt unter der Brücke | |
| geparkt. Dort stand früher ein Zaun, dahinter der Freihafen. Die Kinder | |
| hätten dort immer Essen geklaut, im Krieg, erzählt sie. Rahn kennt sich | |
| hier aus. Die Großeltern ihres Mannes sind 1912 als erste Bewohner des | |
| ersten Blocks eingezogen. | |
| ## Der Boden vibriert | |
| Dort, wo Familie Rahn damals mit sechs Kindern in einer 2-Zimmer-Wohnung | |
| gelebt hat, ragen nun eierschalenfarbene Silos der Firma ADM in die Höhe. | |
| Alle paar Minuten donnern LKW vorbei, dumpfes Dröhnen hallt zwischen den | |
| Pfeilern der Brücke, wenn Autos darüberfahren, und das nahe gelegene | |
| Fabrikgelände verursacht ein Grollen, dass der Boden vibriert. Dass dieser | |
| Ort einst ein vorstädtisches Idyll war, bleibt allein in den Erinnerungen | |
| alter Neuhofer erhalten. | |
| Neuhof boomte mit dem Aufschwung der Werften in der Nachbarschaft. 1888 | |
| nahm die Oelkers-Werft die Arbeit auf, ab 1906 wurde die Vulcanwerft | |
| gebaut, die zur Stettiner Maschinenbau AG „Vulcan“ gehörte. Viele Arbeiter | |
| kamen aus Stettin nach Hamburg. Neuhof wurde zu einer Siedlung für die | |
| Arbeiter aus Pommern. | |
| Auch Elke Rahns Schwiegergroßeltern sind auf diese Weise nach Neuhof | |
| gekommen. Die gesamte Familie ihres Mannes Klaus wohnte in den Wohnblocks. | |
| Das Leben hier sei einfach und fröhlich gewesen, sagt Elke Rahn. Die | |
| Neuhofer waren zufrieden in ihrem Areal direkt an der Elbe. „Ruhig, | |
| freundlich, hilfsbereit. Pommern halt, nä.“ | |
| Während sie ihren Blick über das Fabrikgelände schweifen lässt und mit dem | |
| Finger markiert, wo die Häuserblocks gestanden haben, erzählt sie von | |
| Kleingärten am Ufer, einem Deich mit alten Fischerhäuschen und Sandstrand, | |
| dem Kino im alten Kuhstall und von Einkaufstouren mit dem Ruderboot. | |
| Es habe hier alles gegeben: einen Milchmann, Gemüse- und Blumenläden, einen | |
| Herrenschneider, einen Friseur. Insgesamt waren es 59 Kleingewerbe und | |
| Ladengeschäfte, inklusive Arztpraxen und Kneipen. „Und es gab eine | |
| Bäckerei, einen Stettiner, der hatte Stettiner Salzbrötchen. Die waren | |
| lecker.“ | |
| Elke Rahn hat ihr Leben lang als Verlagskauffrau gearbeitet. 1964 | |
| heirateten sie und ihr Mann. „Wir wollten gerne nach Neuhof ziehen, da die | |
| Wohnungen auch damals schon sehr preiswert waren“, erklärt sie. Das habe | |
| allerdings nie geklappt, aber „wir waren trotzdem immer auf Neuhof | |
| unterwegs“. | |
| ## Gäste aus Kanada und der Schweiz | |
| Um die Erinnerungen lebendig zu halten, [3][organisierten ihr Mann und sie | |
| das „Neuhof-Treffen“], zu dem alle zwei Jahre mehrere Hundert Neuhofer | |
| kamen. Teilweise reisten sie extra aus Kanada oder der Schweiz an. Elke | |
| Rahn hat die Geschichte Neuhofs recherchiert, sortiert, archiviert. Aus | |
| ihrem kleinen Fiat 500 holt sie drei Aktenordner. Elke Rahn muss sie | |
| hochhieven, so schwer sind sie. Diese drei Ordner seien nur ein kleiner | |
| Teil, sagt sie. „Die anderen Ordner waren zu schwer.“ Sie stehen im Keller | |
| ihres Reihenhauses in Hamburg-Niendorf, den sie später zeigen wird. | |
| Jetzt, im Auto, blättert Elke Rahn durch Fotografien von Neuhof mit und | |
| ohne Köhlbrandbrücke, die sie sorgfältig auf Pappe geklebt hat. Durch | |
| Luftaufnahmen, die sie von einer Quelle bekommt, die sie geheim halten | |
| möchte, alte Schulfotos aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts mit ernst | |
| dreinblickenden Kindern, Schriftstücke in Sütterlin, Mietverträge aus den | |
| 1930er-Jahren, Landkarten, die die Hamburger Inseln vor und nach der | |
| Cäcilienflut 1412 zeigen. Auch den Bau der Köhlbrandbrücke 1970 hat sie | |
| kleinteilig dokumentiert. Auf den Fotos ist zu erkennen, wie sich die Lücke | |
| zwischen den beiden Enden allmählich schließt. | |
| Auch der Verfall der Neuhof-Siedlung ist zu sehen. Auf einem Foto ist neben | |
| der fast fertig gestellten Köhlbrandbrücke ein halb abgerissenes Haus | |
| abgebildet. Die Fassade ist schon entfernt, Fenster sind eingeschlagen, ein | |
| Querschnitt der Wohnungen ist entstanden. Die Tapeten sind in typischem | |
| 70er-Jahre-Design grün, lila, braun und gelb gemustert. Darum herum die | |
| ausgefransten Reste der einstigen Wände. | |
| In ihrem Keller in Niendorf hat Elke Rahn Zeitungsausschnitte gesammelt, | |
| die das Schicksal von Neuhof dokumentieren. Ihren Keller nennt sie | |
| „Kontor“, sie hat ihn gemütlich eingerichtet. Bilder von Schiffen zieren | |
| die Wände, dazwischen hängen Regale mit Ordnern. „Alles, was irgendwie mit | |
| Neuhof zu tun hat,“ sagt sie, während sie die Ordner auf den Schreibtisch | |
| legt. Die Dokumente möchte Rahn irgendwann [4][dem Kulturzentrum | |
| Honigfabrik in Wilhelmsburg] schenken. | |
| ## Versammlung in der Schule | |
| Die Wilhelmsburger Zeitung berichtete ab den späten 1960er-Jahren | |
| regelmäßig von den Veränderungen im Stadtteil durch den Brückenbau. „Wer | |
| will, kann wegziehen“, titelte das Blatt im Juli 1968. Damals fand eine | |
| Versammlung in der Schule statt. 500 Bewohner drängten sich in die Aula, um | |
| von den Hamburger Senatoren Helmuth Kern und Cäsar Meister zu erfahren, | |
| dass der Brückenbau unumstößlich sei. Ein Abriss der Häuser würde aufgrund | |
| der guten Bausubstanz nicht erfolgen, wer jedoch umziehen wolle, könne | |
| seine Wünsche für eine neue Bleibe postalisch äußern und würde dann eine | |
| Sozialwohnung an anderer Stelle bekommen. | |
| Damals wurde auf Neuhof nicht nur die Köhlbrandbrücke gebaut, es wurden | |
| auch viele Industrieanlagen errichtet. Verkehrs- und Baulärm, nächtlich | |
| vorbeifahrende Güterzüge, Schmutz und Abgase bestimmten von da an den | |
| Alltag. „Man kann nicht mehr spazieren gehen, der Verkehr wird immer | |
| stärker,“ sagte ein Bewohner gegenüber der Wilhelmsburger Zeitung. Er würde | |
| ja gern von Neuhof fortgehen, aber auf der Elbinsel Wilhelmsburg wolle er | |
| bleiben: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr.“ | |
| 1971 dann erschien in der Wilhelmsburger Zeitung ein Artikel mit der | |
| Überschrift „Auf der Elbinsel halten alle zusammen“. Von gut erhaltener | |
| Bausubstanz ist nicht mehr die Rede. Stattdessen von „unfreundlichen, vom | |
| Zahn der Zeit angenagten Hauswänden“. Und von Eingängen, an denen Namen von | |
| Generationen stehen. | |
| ## Stille im Kontor | |
| Es ist still in Elke Rahns Kontor. Man hört nur das Blättern der Seiten in | |
| den Ordnern. Auf den Fotos sitzen Menschen in kleinen Booten an ihrem | |
| Strand. Sie stehen vor ihren Läden, sitzen in ihren Kneipen, Kinder spielen | |
| auf der Straße. | |
| All das gibt es nicht mehr, die meisten Spuren sind verwischt. Eine ganze | |
| Nachbarschaft ist verschwunden. Nur den Straßenzug unter der | |
| Köhlbrandbrücke gibt es noch. Das Eckhaus am Neuhofer Damm ebenfalls. Und | |
| die alte Schule, in der niemand mehr lernt. | |
| 22 May 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Karoline Gebhardt | |
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