# taz.de -- Wiedersehen eines Stadtteils: Erinnerung an die Insel | |
> Der Hamburger Hafen schluckt einen Stadtteil nach dem anderen. Die | |
> ehemaligen Bewohner des Stadtteils Neuhof treffen sich alle zwei Jahre, | |
> um zu schnacken. Auch noch 40 Jahre, nachdem das Arbeiterviertel auf der | |
> Elbinsel ausgelöscht wurde, kommt jeder Fünfte. | |
Bild: Sollten nur 70 Jahre halten: Mietskasernen auf der Elbinsel Neuhof 1911. … | |
Frage: "Wie gehts Dir?" Antwort: "Wo ist Gerda?" Und: "Hallo Gerda!" Frage: | |
"Ist Rudi auch da?" Frage: "Bist Du allein gekommen?" Antwort: "Nee." | |
Vor ein paar Tagen trafen sich die Neuhofer im Bürgerhaus in | |
Hamburg-Wilhelmsburg. Zum siebten Mal. Wie das manchmal so ist: Ein Ende | |
war der Anfang. Nach der Beerdigung eines Schulfreunds im Jahr 1996 saßen | |
sie so zusammen, die Neuhofer, und als alle aufgestanden waren, um sich zu | |
verabschieden, sagte einer - heute weiß keiner mehr, wer das war - : "Wir | |
müssen uns öfter sehen." Alle nickten und die Rahns, Elke und Klaus, nahmen | |
die Sache in die Hand. Er Schiffsführer, sie Verlagskauffrau. | |
Zum ersten Treffen, dachten die Rahns, kommen 20, 30. "Erzählt es weiter", | |
sagten sie allen Neuhofern, die sie trafen. Es kamen über 100. Und zwei | |
Jahre später ein paar mehr. 2008 waren es 600 und dieses Mal, bei denkbar | |
schlechtem Wetter, an die 500. Wenn ein Hamburger Stadtteil wie Neuhof der | |
Hafenerweiterung und der Brücke über den Köhlbrand zum Opfer fällt, dann | |
hört vieles auf. Aber nicht alles. Manches fängt an. | |
Mal sehen, ob das die Altenwerder und die Moorburger, wenn es Moorburg mal | |
nicht mehr gibt, auch hinkriegen. "Wann ham sie angefangen, Altenwerder | |
platt zu machen?", fragt Klaus Rahn seine Frau. | |
"Die Neuhofer", sagen die Neuhofer, "sind ein besonderer Menschenschlag." | |
Als Insel entstanden bei der Cäcilienflut 1412, als der Gorrieswärder, die | |
eine große Insel in der Elbe, in mehrere kleine Inseln auseinander gerissen | |
wurde, wie wir sie heute kennen, unter anderem Finkenwerder, Altenwerder | |
und Neuhof. Besiedelt ist Neuhof seit etwa 1650, von Milch- und | |
Gemüsebauern. Bei der Belagerung Hamburgs durch die Heere Napoléons im Jahr | |
1813 wurden die Bewohner vertrieben, 1825 lebten wieder 400 Fischer, | |
Milchbauern, Schiffszimmerer, Handwerke und Tagelöhner mit ihren Familien | |
dort. | |
Als der Hamburger Freihafen entstand, begann Neuhofs Boom. Der hatte mit | |
den großen Werften zu tun: 1888 nahm die Schiffswerft Oelkers die Arbeit | |
auf. Ab 1906 wurde die Vulkanwerft am Rosskanal gebaut, "der Vulkan", wie | |
die Neuhofer sagen. Zwischen 1911 und 1914 baute die Neuhöfer | |
Wohnstättengesellschaft 84 vierstöckige Wohnhäuser mit 966 Wohnungen für | |
3.000 Bewohner. Viele kamen aus Stettin, wo es keine Arbeit gab, nach | |
Neuhof. Auch Klaus Rahns Großeltern. Die Meisterwohnungen in den Blocks | |
hatten das Badezimmer in der Wohnung, die Arbeiterwohnungen die Toilette | |
auf halber Treppe. | |
Die Nazis hatten es auf Neuhof nicht so leicht wie in anderen Stadtteilen | |
Hamburgs. Seit 1937 kam Neuhof mit Harburg-Wilhelmsburg im Rahmen des | |
Groß-Hamburg-Gesetzes zur gefräßigen Hansestadt. Mancher, der partout kein | |
Parteigenosse werden wollte, wurde von der SA gepresst. | |
In den 50ern war die Welt in Neuhof dann wieder in Ordnung. Zur | |
Bundestagswahl stand auf dem Schwarzen Brett in der Nippoldstraße einfach | |
nur: "Am Sonntag wählen!" Mehr musste man den Malochern von der Elbe nicht | |
sagen. "Es wussten alle, welche Partei sie wählen mussten", sagt Klaus | |
Rahn. "Einen Kommunisten hatten wir", wendet Elke ein. "Ja", sagt Klaus, | |
"aber der war in Ordnung." | |
Bei der Sturmflut 1962 "ist viel kaputt gegangen", erinnert sich Rahn. | |
Vielleicht auch die Gewissheit, dass Neuhof bleibt. Im Jahr 1970 begann der | |
Bau der Köhlbrandbrücke, die 120 Millionen Mark kostete. Die Brücke | |
verbindet seit 1974 das Hafengebiet von Wilhelmsburg mit der A 7. Die | |
Brücke geht über einen Arm der Süderelbe, der hier 325 Meter breit ist und | |
Köhlbrand heißt. | |
"Als mit dem Bau der Brücke begonnen wurde wusste jeder, was das bedeutet", | |
sagt Klaus Rahn, 73, "es gab keine rechtlichen Möglichkeiten dagegen etwas | |
zu machen." Neuhof war als Hafenerweiterungsgebiet ausgewiesen. "Jeder, der | |
hinzog, wusste: Es ist nicht auf Dauer." Alteingesessene Neuhofer zogen | |
weg, Ersatzwohnungen wurden zur Verfügung gestellt. "Der Baulärm war | |
unmenschlich", sagt Rahn, aber es haben auch noch Leute auf Neuhof gewohnt, | |
als die Brücke 53 Meter über Neuhof fertig war. Die Sturmflut 1976 | |
hinterließ unbewohnbare Parterrewohnungen, viele Geschäfte machten dicht. | |
Der Hamburger Senat beschloss, Neuhof, das im Flächennutzungsplan des | |
Jahres 1973 als Industriegebiet ausgewiesen war, als Wohngebiet aufzugeben. | |
Im Jahr 1979 wurde das Wohnviertel abgerissen. Nur ein Haus blieb stehen: | |
Nippoldstraße 113. Heute wird Neuhof von einer Ölmühle beherrscht. | |
Neuhofer wohnen in Harburg, Wilhelmsburg, Seevetal, Richtung Winsen an der | |
Luhe, in San Francisco und Kanada. Die in der Nähe geblieben sind, treffen | |
sich jeden zweiten Sonntag im Café "Pianola" von Willi Adomeit am | |
Wilhemsburger Vogelhüttendeich, zum Jazzfrühschoppen. Der Wirt hatte in | |
Neuhof die Gaststätte "Adomeit", in der den Neuhofern erklärt wurde, dass | |
Essig ist mit ihrem Stadtteil. Alle zwei Jahre ist das große Treffen im | |
Bürgerhaus. Da kommt jeder Fünfte, der in den siebziger Jahren auf Neuhof | |
gewohnt hat. Bei den Treffen gibt es kein Programm. "Das Programm sind die | |
Leute", sagt Klaus Rahn, "sonst passiert hier nichts." Außer, dass man sich | |
gegenseitig erzählt, was in den vergangenen zwei Jahren passiert ist, bevor | |
man sich das erzählt, was vor dreißig, vierzig Jahren passiert ist. | |
Das Treffen kommt zustande, weil Elke Rahn die Adressen fast aller Neuhofer | |
hat. Eine Dokumentation der Geschichte Neuhofs mit Fotoalbum hat sie auch. | |
Und die Hoffnung, alles mal in einer Ausstellung zu zeigen. | |
Frage: "Sag mal, wer ist das?" Antwort: "Ja. Das sag ich Dir." Frage: "Ja?" | |
Antwort: "Ja. Da war ich zwei, drei." Antwort: "Ja." Frage: "Wo ist | |
eigentlich Blondie?" | |
So sitzen die Neuhofer im Bürgerhaus in Wilhelmsburg und reden. Die Damen | |
trinken ein Gläschen Wein, die Herren Pils. Und dann ist es so, als ob | |
Neuhof für diesen Abend wieder steht. | |
26 Feb 2010 | |
## AUTOREN | |
Roger Repplinger | |
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Flut | |
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