# taz.de -- Heimatvertriebene mitten in Hamburg: Schwarz-Weiß-Fotos vom Paradi… | |
> Am heutigen Industriestandort Hamburg-Waltershof lebten mal mehr als | |
> 4.000 Menschen – bis Flut und Container kamen. Einmal im Jahr treffen | |
> sich ehemalige Nachbarn. | |
Bild: Erinnern sich an Gemeinsmes: Waltershoferinnen | |
Auf dem Tisch stehen Teller mit Butterkuchen, halbvolle Tassen Kaffee, | |
Wasser. Alle Plätze drum herum sind besetzt. Die Männer und Frauen | |
unterhalten sich, tauschen Schwarz-Weiß-Fotos aus. Sie lachen oft. | |
Günther Lühmann sagt nicht viel, ab und zu huscht ihm ein Lächeln übers | |
Gesicht. „Neben ihm, das ist Erika. Die wollte ihn mal heiraten“, erzählt | |
Lühmanns Tochter. Er hat sich dann aber für eine andere Frau entschieden. | |
Angela Rehders beobachtet ihren Vater mit ein bisschen Abstand. Sie freut | |
sich, dass er offensichtlich eine gute Zeit hat, musste sie ihn doch | |
überreden, zu dem Treffen der ehemaligen Waltershofer zu gehen. | |
Etwa 150 Menschen sind an diesem Samstag im Seemannsklub Duckdalben | |
zusammengekommen. Die meisten sind im Rentenalter. Einige sind extra aus | |
Bayern, Dänemark und Gran Canaria angereist. Fast alle lebten in den 50er- | |
und 60er-Jahren in Waltershof, erlebten die große Sturmflut von 1962 und | |
mussten früher oder später ihr Zuhause verlassen. Doch obwohl sie seit mehr | |
als 40 Jahren weit verstreut wohnen, wollen sie sich gemeinsam an das Leben | |
in ihrem Stadtteil erinnern. | |
## Von der Laube zum Wohnhaus | |
Waltershof kennen die meisten Hamburger heute wegen seiner zwei großen | |
Containerterminals, der Köhlbrandbrücke und des Elbtunnels. Doch früher war | |
hier ein lebendiges Wohnviertel. Vor dem zweiten Weltkrieg der grüne, | |
entschleunigte Rückzugsort der Städter, wurde Waltershof nach 1945 das | |
Zuhause vieler, deren Häuser und Wohnungen durch Bomben zerstört worden | |
waren. | |
Die als Wochenenddomizil errichteten Lauben und Häuschen in den | |
Schrebergärten bauten sich die neuen Bewohner zu kleinen Wohnhäusern um. In | |
den 50er- und 60er-Jahren lebten schließlich mehr als 4.000 Menschen auf | |
der Elbinsel. Es gab eine Kneipe, einen Schlachter, eine Drogerie. | |
„Waltershof war ein kleines Paradies“, erinnert sich Detlef Baade. | |
„Besonders für die Kinder.“ Das Bild der spielenden und badenden Kinder am | |
weißen Sandstrand am Maakendamm hat sich in viele Köpfe eingeprägt. Baade | |
organisiert gemeinsam mit zwei weiteren ehemaligen Bewohnern seit sechs | |
Jahren das jährliche Treffen der ehemaligen Waltershofer. Er hat hier | |
gelebt, bis er 21 war. | |
Der heute 63-Jährige erinnert sich noch gut an diese Zeit und auch an die | |
Nacht, die so vielen Waltershofern das Leben kostete. Baade war sieben | |
Jahre alt. „Mein Vater hat mich aus dem Bett geholt, als das Wasser schon | |
in meinem Zimmer stand“, erzählt er. Für Baade damals besonders aufregend: | |
Er durfte aus dem Fenster pinkeln. „Es war ja eh überall Wasser.“ Als der | |
Siebenjährige am nächsten Tag tote Tiere und tote Menschen sah, wurde ihm | |
bewusst, was da eigentlich passiert war. | |
Die Sturmflut, die in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 über | |
Hamburg hereinbrach, richtete besonders südlich der Elbe enorme Schäden an. | |
Die Menschen wurden im Schlaf von den Wassermassen überrascht. 44 Menschen | |
starben allein in Waltershof. An sie erinnert heute ein Denkmal vor dem | |
Duckdalben. | |
Nachdem Baades Vater, der Waltershofer Friseur Herbert Baade, in der | |
Flutnacht seine eigene Familie in Sicherheit gebracht hatte, begann er mit | |
der Rettung anderer. Mit seinem VW Käfer fuhr er durch Waltershof und half | |
30 Menschen, dem Wasser zu entkommen. „Dafür hat er später auch eine | |
Auszeichnung bekommen“, erzählt Baade. „Aber die war ihm egal. Es ging ihm | |
um die Menschen.“ | |
Viele Bewohner Waltershofs konnten nie in ihr Zuhause zurückkehren, ihre | |
Häuser und Lauben waren zerstört. Im Haus von Familie Baade am Rugenberger | |
Damm stand das Wasser dreißig Zentimeter hoch, vergleichsweise niedrig. Die | |
Familie blieb in Waltershof. | |
## Die Fluten haben alles aufgelöst | |
Aber der Stadtteil veränderte sich. „Die Hälfte meine Schulklasse ist | |
weggezogen“, erzählt Baade. „Alles hat sich immer mehr aufgelöst.“ | |
Waltershof wurde als Siedlungsgebiet aufgegeben. Stattdessen schritt die | |
Industrialisierung voran, das Hafengebiet wurde ausgeweitet. 1968 legte das | |
erste Containerschiff an, 1974 wurde die Köhlbrandbrücke eingeweiht. | |
Und im Januar 1976 kam wieder das Wasser. Bei den Baades stand es diesmal | |
1,80 Meter hoch. Umherschwimmende Container zerstörten die Hauswände, das | |
Zuhause wurde unbewohnbar. Familie Baade zog weg. Erst nach Neuwiedenthal, | |
heute lebt Detlef Baade in Neugraben. „Auf 56 Zentimetern Höhe“, sagt er | |
lachend. „Es klingt ein bisschen verrückt, aber ich möchte nur noch da | |
wohnen, wo kein Wasser hinkommen kann.“ | |
In Waltershof ist er trotzdem fast täglich – im Jahr der Sturmflut fing | |
Baade beim heutigen Containerlogistikunternehmen Eurogate an, wo er heute | |
noch arbeitet. Wenn er vom Seemannsklub Duckdalben zu Eurogate rüberblickt, | |
sieht er die Stelle, wo sein Vater einen Kleingarten hatte. „Da wo heute | |
die zweite Containerbrücke steht, da war das Erdbeerfeld. Ich denke dann | |
immer, dieses Stück Eurogate gehört auch ein bisschen mir.“ | |
In diesem Jahr will Baade vorzeitig aus seinem Beruf ausscheiden. | |
Langeweile wird er als Rentner nicht haben: „Ich habe schon zugesagt, dass | |
ich hier im Duckdalben ehrenamtlich arbeite“, erzählt er. Und die | |
jährlichen Treffen der Waltershofer organisiert er natürlich weiter. | |
24 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Marthe Ruddat | |
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