| # taz.de -- Seeleute in der Corona-Krise: In Blechbüchsen auf See eingesperrt | |
| > Die Männer und Frauen auf den Container- und Massengutschiffen sind | |
| > während der Coronapandemie an Bord kaserniert – und das auf unbestimmte | |
| > Zeit. | |
| Bild: Für Seeleute essenziell: Telefonkartenverkauf an Bord | |
| Hamburg taz | Jörn Hille winkt dem wachhabenden Matrosen, dem Watchman, an | |
| der Gangway zu. Der mustert seine signalgelbe Weste mit dem Emblem der | |
| Deutschen Seemannsmission, lächelt erfreut und gibt ihm mit einem Winken | |
| das Okay, an Bord des Massengutfrachters kommen zu dürfen. Hille streift | |
| Maske und Handschuhe über, schultert den Rucksack und stapft die wacklige | |
| Gangway hoch. | |
| Täglich ist Hille, ein kräftiger Mann mit metallgerahmter Brille und grau | |
| meliertem Kinnbart, zwischen den Terminals und Kais im Hamburger Hafen | |
| unterwegs. In Waltershof, nur einen Steinwurf vom Eurogate-Terminal, steht | |
| sein Schreibtisch im Seemannsklub „[1][Duckdalben]“. Dort koordiniert er | |
| täglich bis zu zwei Dutzend Bordbesuche. „Der [2][Klub] ist zwar seit dem | |
| 23. März geschlossen, aber wir lassen die Seeleute an Bord nicht im Stich“, | |
| sagt er und setzt seinen Rucksack an Deck des Frachters ab. | |
| Als erstes zieht Hille die Aufladekarten für die Mobiltelefone, dann die | |
| Bestellliste hervor und legt sie auf einen Poller an Deck. Seit Anfang März | |
| ist den Seeleuten der Landgang und damit der Besuch im Seemannsklub | |
| verwehrt. [3][Die Klubs sind so etwas wie Tankstellen] fern der Heimat: Her | |
| bunkern die Seeleute Telefonkarten, Schokolade, Chips und Co. für die Zeit | |
| auf See. All das und etwas mehr hat Hille dabei. Das wichtigste im Rucksack | |
| und den Rest im VW-Bus unten an der Kaikante. | |
| Der wachhabende Matrose, mittlerweile mit Maske über Mund und Nase, hat | |
| Crew und Offiziere per Funk über den Besuch des Seemannsdiakons informiert. | |
| Bootsmann Nicanor Cadeliña ist als erstes an Deck, begrüßt Hille und fragt | |
| ihn leise in holprigem Englisch, ob er ihm auch eine Lesebrille besorgen | |
| könne. Die Antwort fällt positiv aus. Über das gegerbte Gesicht des | |
| philippinischen Seemanns huscht ein Lächeln, als Hille ihn auffordert, Name | |
| und Dioptrien-Zahl auf der Bestellliste zu notieren. | |
| ## Offiziere zuerst | |
| Dann wird es lebendig an Deck. Die ersten Crew-Mitglieder in ihren | |
| orangefarbenen Overalls mit dem Aufdruck der Reederei werfen einen Blick | |
| auf die Bestelllisten, machen dann Platz für die Offiziere in sportlicher | |
| Freizeitkleidung. Die Besatzung besteht aus 19 Männern: 14 von den | |
| Philippinen und fünf Offiziere aus der Ukraine, Russland und der Türkei, so | |
| Bootsmann Cadeliña. | |
| Der kleingewachsene, kräftige Mann mit den ersten grauen Strähnen im | |
| pechschwarzen Haarschopf wartet, bis die Offiziere sich mit den | |
| Telefonkarten versorgt haben. Die Hierarchien an Bord sind streng. Gut fünf | |
| Monate sind Bootsmann Cadeliña und Matrose Iven Delgado an Bord des | |
| Frachters unterwegs. Kohle haben sie nach Europa gebracht und hoffen, Ende | |
| Mai, wenn die Verträge auslaufen, wieder zurück zu ihren Familien auf die | |
| Philippinen zu kommen. | |
| Doch die Chancen dafür stehen schlecht und das weiß auch Cadeliña. Denn die | |
| Philippinen haben ähnlich wie Indien, beides wichtige Seefahrernationen, | |
| ihre Grenzen komplett dichtgemacht. In Manila sitzen Seeleute fest, die | |
| Kollegen hätten ablösen sollen. Der Crew-Wechsel ist derzeit das | |
| gravierende Problem in der Seeschifffahrt. | |
| Weltweit sitzen laut der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) | |
| rund 150.000 Seeleute auf den Frachtschiffen zwischen Hamburg und Haiti | |
| fest, weitere 150.000 an Land. Letztere kommen nicht an Bord, um ihre | |
| Heuerverträge zu erfüllen, sagt ITF-Inspekteur Sven Hemme aus Bremerhaven. | |
| „Die Seeleute sind heutzutage nahezu unsichtbar, sie wurden schlicht | |
| vergessen, obwohl ohne sie der Nachschub zusammenbrechen würde. Wir | |
| brauchen politische Lösungen“, so der 41-jährige am Telefon vor dem | |
| Bordbesuch. | |
| Das weiß auch die Crew an Bord des Kohlefrachters. Die Unsicherheit nagt an | |
| ihnen und die Kommunikation mit den Familien ist jetzt noch wichtiger als | |
| gewöhnlich. Aufladekarten, um zumindest im Hafen ins Internet zu kommen, um | |
| mit der Familie zu skypen, sind extrem wichtig. Nicht nur im Hamburger | |
| Hafen gibt es keinen freien Internetzugang, und auf See läuft die | |
| Kommunikation über teure Satelliten. Da habe die Crew bestenfalls | |
| beschränkten Zugang, sagt Hemme. | |
| Kasernierung an Bord lautet die bittere Realität für rund 1,7 Millionen | |
| Seeleute, die weltweit im Einsatz sind. Sie sorgen dafür, dass von | |
| Autoteilen über Steinkohle bis zum T-Shirt alles weltweit verfügbar ist. | |
| Ohne sie würden die Produktionsprozesse ins Stocken geraten, Nahrungsmittel | |
| genauso wie Benzin knapp werden. | |
| Doch an die Transportarbeiter auf hoher See hat kaum jemand gedacht, als | |
| die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus beschlossen wurden. Nun sind | |
| sie auf den Blechbüchsen eingesperrt, jeden Tag die gleichen Gesichter, die | |
| immer gleiche Messe, Schoten, Aufgänge und Kabinen. Ein Seemannsdiakon wie | |
| Hille ist dann eine mehr als willkommene Abwechslung. | |
| Gemeinsam mit den Gewerkschaften und den Reedern macht die Seemannsmission | |
| auf die prekäre Situation an Bord aufmerksam, die Diakone und Diakoninnen | |
| registrieren die Missstände an Bord am ehesten. Das funktioniert während | |
| der Coronapandemie nur noch bedingt, denn die vertraulichen, | |
| seelsorgerischen Gespräche in der Messe sind gestrichen, Handschuhe und | |
| Maske sorgen für zusätzliche Distanz. | |
| Heute erfährt Hille nebenbei, dass Masken an Bord knapp sind, und Iven | |
| Delgado nutzt die Chance, Hille zum VW-Bus zu begleiten, um Chips | |
| einzukaufen: „Bisher wissen wir nicht, wie es weitergeht. Ob die Ablösung | |
| kommt, ob wir an Bord bleiben und ob die Verträge verlängert werden“, klagt | |
| er. Das gehe den meisten von der Crew so. Hille drückt ihm den Flyer von | |
| der neuen Chatplattform der Seemannsmission in die Hand, und bittet ihn, | |
| sich später online zu melden. | |
| Seit vier Wochen ist die Chatplattform dms.care nun im Netz. Dort können | |
| sich Seeleute wie Delgado zum vertraulichen Gespräch einloggen. Eine neue | |
| Option, um den Kontakt an Bord zu halten und über Sorgen zu sprechen. Die | |
| sind mit der Pandemie größer geworden. | |
| Dann verabschiedet sich Diakon Hille von Delgado, kündigt seinen | |
| Folgebesuch für den späten Nachmittag an und steigt in den Bus. Zurück im | |
| Duckdalben wird er die Kollegen von der ITF kontaktieren. Die können sich | |
| am besten um die Verlängerung der Arbeitsverträge kümmern. Für Delgado und | |
| Cadeliña wäre das eine Sorge weniger. | |
| 23 May 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Knut Henkel | |
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