| # taz.de -- Seemannsdiakon über Krisenbewältigung: „Oft sitzen wir erst mal… | |
| > Seemannsdiakon Dirk Obermann koordiniert die Hamburger Notfallbetreuung | |
| > für Seeleute. Nach Unglücken geht er an Bord. | |
| Bild: Fasziniert von der Arbeit mit den Seeleuten, aber ohne Illusionen über d… | |
| taz: Herr Obermann, warum braucht man Sie plötzlich als Koordinator für | |
| MatrosInnen-Seelsorge – gab es das bisher nicht? | |
| Dirk Obermann: Den Koordinator nicht, die Seelsorge schon: Die | |
| Seemannsmission besteht seit 134 Jahren. Sie hat sich aber | |
| professionalisiert: Inzwischen bieten wir eine PSNV – psychosoziale | |
| Notfallversorgung – nach bundesdeutschen Standards, für die die | |
| MitarbeiterInnen extra Fortbildungen absolviert haben. Meine Aufgabe ist, | |
| das weiter zu forcieren und unser Angebot auch bei Reedereien noch | |
| bekannter zu machen, überhaupt die Notwendigkeit psychologischer Betreuung | |
| von Seeleuten noch klarer zu kommunizieren. Außerdem soll es eine | |
| international einheitliche Rufnummer geben, über die unsere Leitstelle noch | |
| schneller MitarbeiterInnen in die Häfen schicken kann. | |
| Sie haben lange selbst Krisenintervention auf Schiffen geleistet. Was wäre | |
| eine klassische Situation? | |
| Schlimme Unfälle passieren zum Beispiel immer wieder beim Festmachen. Wenn | |
| das Tau reißt und auseinanderspringt, ist darauf eine so starke Zugkraft, | |
| dass Menschen erschlagen werden können oder Gliedmaßen abgetrennt werden. | |
| Da leisten wir [1][psychosoziale Notfallversorgung] – einmal für das | |
| Unfallopfer, das hoffentlich überlebt hat. Vor allem aber für diejenigen, | |
| die das gesehen haben und mit diesen Eindrücken fertig werden müssen. | |
| Auch eine Fast-Havarie kann einen Schock auslösen. | |
| Ja. Einmal habe ich bei einem Routinebesuch bemerkt, dass das Schiff ein | |
| Loch im Heck hatte. Es hatte einen Durchmesser von mindestens zwei Metern | |
| und lag direkt hinter den Mannschaftskabinen, nur durch ein Schott gegen | |
| eindringendes Wasser geschützt. Das Schiff war im Ärmelkanal mit einem | |
| Autotransporter kollidiert. Die Mannschaft war unverletzt, und als ich an | |
| Bord kam, herrschte eine euphorische Stimmung nach dem Motto „Wir haben es | |
| geschafft“ und „Uns kriegt nichts klein“. Ein paar Stunden später war es | |
| plötzlich still, da sprach kaum noch einer. Da wurde ihnen bewusst, wie | |
| knapp sie entronnen waren. Ich bin mit ihnen dann noch in den | |
| [2][Seemannsclub] gefahren und hab nochmal mit dem Kapitän gesprochen, der | |
| mir immer wieder den Unfallhergang erzählte. | |
| Es war seine Art zu verarbeiten. | |
| Ja. Wobei ich am wichtigsten finde, dass es den Leuten gelingt, überhaupt | |
| etwas zu sagen. Denn in dem Moment, wo ich es ausdrücke, bekomme ich | |
| Abstand, es wird real, und ich kann es mitteilen. Solange ich den | |
| [3][Unfall] aber nur im Kopf rekapituliere, verselbständigt sich das. Dann | |
| wird die Geschichte immer ausgeschmückter und man hat kein Korrektiv. | |
| Keinen, der fragt: Kann das überhaupt so gewesen sein? Deshalb finde ich | |
| wichtig, dass die Menschen sprechfähig bleiben – oder wieder werden. | |
| Wie bringen Sie sie dazu? | |
| Es gibt nicht die eine oder die einzig richtige „Methode“. Wichtig ist, | |
| dass sich die Leute die Zeit nehmen, die sie brauchen. Oft sitzen wir erst | |
| mal nur da und haben keine Worte. Aber dadurch, dass ich da bin, entsteht | |
| eine Form von Vertrauen. Und oft wollen die Leute das Geschehene ja | |
| verarbeiten und sprechen irgendwann von allein. Ich dränge niemanden. | |
| Haben Sie auch Menschen erlebt, die sich nicht öffneten? | |
| Manche tun sich schwer. Einmal ist an Bord eines kleinen Schleppers der | |
| Ingenieur an einem Herzinfarkt gestorben. Auf diesen kleinen Schiffen sind | |
| die Leute oft jahrelang zusammen unterwegs, werden gute Kollegen oder | |
| Freunde. In diesem Fall hatte mich die Reederei gebeten, nach dem Kapitän | |
| zu schauen. Bei ihm kam allerdings zweierlei zusammen: Er war zum einen | |
| Seemann und zum andern Ostfriese. Als ich aufs Schiff kam und sagte: „Ich | |
| bin von der Seemannsmission, sagte er: „Jo“. Als ich sagte: „Ich habe | |
| gehört, Sie haben das und das erlebt“, kam wieder: „Jo“. Das ging eine | |
| ganze Zeit. Das muss ich dann aushalten, das ist nicht ganz einfach. Nach | |
| meiner Erfahrung gibt es aber irgendwann einen Satz, ein Wort, und dann | |
| öffnet sich derjenige doch ein bisschen. Aber man kann es nicht erzwingen. | |
| Leiten Sie auch Trauerrituale an Bord an? | |
| Ja, wenn es möglich ist. Denn in der Seefahrt ist der Kostendruck immens, | |
| und die Schiffe müssen alles daran setzen, ihren eng getakteten Fahrplan | |
| einzuhalten. Wenn da jemand ausfällt wegen Krankheit oder Tod, wird er | |
| schnell ersetzt. Das führt oft dazu, dass sich die Seeleute vorkommen wie | |
| Ersatzteile. In einem Fall war jemand am Vortag in Rotterdam gestorben, und | |
| als die Crew im Londoner Hafen ankam, war sie noch sehr geschockt. Als ich | |
| fragte, ob sie eine Trauerfeier möchten, sagten sie, das würden sie schon | |
| gern, aber das werde der Kapitän niemals erlauben. Es war ein | |
| Container-Feederschiff, und die stehen unter besonders starkem Zeitdruck. | |
| Als ich den Kapitän nach einer Trauerfeier fragte, sagt er: „Von mir aus | |
| können Sie das gern machen, aber die Crew will das bestimmt nicht.“ Nach | |
| einigem Hin und Her haben wir eine halbe Stunde Zeit bekommen. Das hat auch | |
| mich sehr bewegt, denn der Kapitän hatte dafür gesorgt, dass sämtliche | |
| Ladearbeiten eingestellt wurden. Da herrschte totale Stille: Die Maschinen | |
| waren aus, die Kräne standen still – auf einem Feederschiff etwas ganz | |
| Seltenes. Normalerweise haben die Kapitäne heute nicht mehr die | |
| Möglichkeit, den ganzen Hafenapparat mal eben anzuhalten. | |
| Haben Sie auch Suizide von Seeleuten erlebt? | |
| Ja, das gibt es leider immer wieder. Einmal habe ich bei einem | |
| Routine-Schiffsbesuch in London gleich beim Betreten gespürt, dass etwas | |
| nicht stimmt. Die Gangway-Wache hat mir dann gesagt, dass sich jemand | |
| umgebracht hatte. Der Azubi war sonntags nicht zum Frühstück erschienen. | |
| Das fiel zunächst nicht auf, weil sonntags keine festen Zeiten herrschen. | |
| Um 10 Uhr haben sie nachgeguckt. Die Kabine war abgeschlossen, aber leer. | |
| Später haben sie hinten am Schiffsheck seine Schuhe gefunden, und der Junge | |
| war weg. Er hatte sich kurz vor seiner Gesellenprüfung das Leben genommen. | |
| Wie haben die Seeleute das verarbeitet? | |
| Sehr verschieden. Einige haben gesagt: „Das ist Seefahrt. So was passiert, | |
| damit muss man irgendwie klarkommen.“ Der nächste – ein Seemann mit | |
| 40-jähriger Berufserfahrung – meinte: „Der hat sich irgendwo an Bord | |
| versteckt. Wart’ ab, wenn wir in Hamburg sind, kommt der raus.“ Ein dritter | |
| hat mir erzählt: „Der ist nicht gestorben, der sitzt auf einer Insel und | |
| wartet, und auf dem Rückweg nehmen wir ihn wieder mit.“ Dabei wussten alle: | |
| Es war Februar zwischen Finnland und England, und in dem eisigen Wasser gab | |
| es keine Überlebenschance. | |
| Wie hat der Kapitän reagiert? | |
| Er hat das Schiff angehalten und den Jungen eine Weile gesucht. Dadurch hat | |
| das Schiff Zeit verloren und er hat Ärger mit der Reederei bekommen. | |
| Anstatt ihm den Rücken zu stärken, hat man ihm gesagt, das sei | |
| aussichtslos, da brauche man doch nicht mehr zu suchen. Mich hat er | |
| gefragt, wie er des Toten gedenken kann. Ich habe dann eine Andacht | |
| vorbereitet. Und als das Schiff auf dem Rückweg wieder an die Stelle kam, | |
| wo der Suizid passiert sein muss, standen sie an Deck, haben das | |
| Schiffshorn tuten lassen und Zettel mit guten Wünschen dem Meer übergeben. | |
| Und wie geht es Seeleuten generell in Coronazeiten? | |
| Ich glaube, sehr verzweifelt. Das Problem ist, dass die Rückführung in die | |
| Heimatländer teilweise nicht funktioniert. In einigen Ländern entspannt es | |
| sich gerade, in anderen aber nicht. Teils nehmen die Heimatländer ihre | |
| eigenen Seeleute nicht zurück. In Hamburg gab es im Frühjahr 200 | |
| kiribatische Seeleute, die monatelang in einer Jugendherberge auf ihre | |
| Heimkehr warten mussten. Und in den Heimatländern sitzen derweil Seeleute, | |
| die wegen Corona nicht aufs Schiff können und nichts verdienen. Und gerade | |
| bei asiatischen Seeleuten hat oft die ganze Familie zusammengelegt, damit | |
| einer von ihnen die Ausbildung zum Seemann machen kann. Dafür muss er dann | |
| auch all diese Menschen ernähren. Wenn er wegen Corona nicht arbeiten kann, | |
| ist die ganze Großfamilie plötzlich ohne Einkommen. | |
| Seit wann interessieren Sie sich für die Seefahrt? | |
| Das hat sich entwickelt. Eigentlich bin ich ja Diakon von Beruf. In meinem | |
| ersten Job habe ich berufsbegleitend Sozialarbeit studiert. Dazu gehörte | |
| auch ein längeres Praktikum, und ich wollte gern ins Ausland – am liebsten | |
| nach Indien, das ich schon bereist hatte. Das hat sich zerschlagen und über | |
| die Diakonengemeinschaft habe ich dann einen Kollegen bei der | |
| Seemannsmission in Indonesien kontaktiert. Er war einverstanden und ich bin | |
| nach Jakarta geflogen, wo ich drei Monate mitgearbeitet habe. Das war für | |
| mich eine total faszinierende Welt: das Internationale, Globale und auch | |
| die Arbeit mit den Seeleuten. Als ich wieder zurück in Deutschland war, hat | |
| man mich irgendwann gefragt, ob ich zur Seemannsmission nach London gehen | |
| möchte. Dort bin ich mit meiner Frau sieben Jahre gewesen und dort sind | |
| auch meine beiden Kinder geboren. | |
| Wollten Sie nie dauerhaft zur See fahren? | |
| Gereist bin ich schon immer gern, aber Seefahrt hatte ich überhaupt nicht | |
| auf dem Zettel. Ich komme ja aus dem tiefsten Binnenland, aus Bielefeld, | |
| und hatte keine Berührungspunkte mit dem Maritimen. Ich wollte in Richtung | |
| Jugendarbeit. Weil das nicht sofort klappte, bin ich erst mal Gärtner | |
| geworden, bevor ich über den Zivildienst zur Sozialarbeit zurückkonnte. Ich | |
| habe zwar im Lauf der Jahre immer mal gedacht: Wenn ich nochmal neu | |
| anfangen könnte, wäre es schon eine Option, zur See zu fahren. Aber heute | |
| denke ich das nicht mehr. Denn es gibt ja auch die anderen Facetten: Es ist | |
| ein entbehrungsreiches Leben, und Seeleute sind zwar jeden Tag in einem | |
| anderen Hafen, aber Zeit für Ausflüge, wie früher, gibt es heute nicht | |
| mehr. Wenn Sie etwas sehen wollen von der Welt, eignet sich die Seefahrt | |
| nicht. | |
| 30 Aug 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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