# taz.de -- Alltag auf einem Containerschiff: Eine Welt für sich | |
> Viele Weihnachtsgeschenke kommen tausende Seemeilen mit dem Schiff. Wer | |
> sind die Menschen auf den Frachtern? Und wie leben sie? | |
Bild: Der Kampf gegen den Rost bestimmt den Alltag an Bord | |
Es ist zwei Uhr nachts, als das Telefon klingelt. In der Kammer ist es | |
dunkel, aber Roxas* ist sofort wach, wird er später erzählen. Der | |
philippinische Seemann greift nach dem Hörer neben seinem Bett. Wie alles | |
auf dem Schiff ist auch das Telefon festgeschraubt. Am anderen Ende der | |
Leitung: der Bootsmann, verantwortlich für die Crew in dieser Nacht. | |
„Stand-by um 2.30“, sagt der Bootsmann. | |
Eine halbe Stunde später steigt der 26-jährige Roxas – groß und schlank – | |
fünf Etagen tiefer in seinen roten Overall, zieht Sicherheitsschuhe an, | |
setzt den Helm auf und schaltet das Funkgerät ein. Mit den anderen | |
Seeleuten geht er in die warme Nacht an Deck. Das Schiff schaukelt in der | |
Dunkelheit, die Container knarzen rhythmisch. | |
Die Crew teilt sich auf: Eine Hälfte lichtet den Anker, der an riesigen | |
Stahlketten hängt. Die andere Hälfte bereitet Steuerbord die Gangway und | |
die Strickleiter für den Lotsen vor. Kurz darauf setzt sich das 300 Meter | |
lange Containerschiff in Bewegung. Mehrere Stunden hatte die „Conna“* vor | |
Charleston im US-Bundesstaat South Carolina auf Reede gelegen, also vor der | |
Küste auf die Einfahrt in den Hafen gewartet. Jetzt dreht der Kapitän das | |
Schiff gegen den Wind und beobachtet von der Brücke, was 30 Meter unter ihm | |
passiert. | |
Das winzige Lotsenboot drückt sich gegen die Bordwand, der Lotse greift | |
nach der Strickleiter und klettert knapp zehn Meter hinauf, dann steigt er | |
auf die Gangway, die für ihn an der Außenbordwand befestigt wurde. Minuten | |
später dirigiert er von der Brücke aus den Stahlkoloss in den Hafen von | |
Charleston, während die Crew an Deck die Taue fürs Anlegen vorbereitet. | |
Wenn an Heiligabend in deutschen Wohnzimmern Geschenke ausgepackt werden, | |
haben die meisten von ihnen eine lange Reise hinter sich. In Zeiten der | |
Globalisierung finden [1][90 Prozent des Welthandels auf dem Seeweg statt, | |
selbst innerhalb Europas werden 40 Prozent aller Güter mit Schiffen | |
transportiert]. Rund 50.000 Handelsschiffe, darunter etwa 5.300 | |
Containerschiffe, sind ständig rund um den Globus unterwegs – sie sind der | |
Arbeitsplatz für mehr als eine Million Menschen. | |
Diese Welt will ich kennenlernen, deshalb reise ich sechs Wochen auf der | |
„Conna“ mit, von Deutschland über die US-Ostküste bis nach Südamerika, v… | |
Bremerhaven bis Montevideo. Als die „Conna“ in den Hafen von Charleston | |
einläuft, sind wir bereits drei Wochen unterwegs. Zehn Tage haben wir auf | |
dem Atlantik überhaupt kein Land gesehen, nur die unterschiedlichen | |
Blautöne des Meeres und endlosen Himmel. Wir sind einem Hurrikan | |
ausgewichen und sind bereits drei Häfen an der US-Ostküste angelaufen, | |
haben unzählige Container auf- und wieder abgeladen und eine Inspektion der | |
US-Küstenwache durchlaufen. | |
Der Halt in Charleston dauert nicht einmal 24 Stunden. Schon am Abend heißt | |
es wieder: Leinen los, weiter gen Süden. Und für die Crew heißt es: zurück | |
in den Regelbetrieb. 24 Männer arbeiten auf dem deutschen Containerschiff. | |
Der Kapitän stammt aus der Ukraine, die Crew von den Philippinen und aus | |
Sri Lanka, zwei Schlosser aus Rumänen. Bordsprache ist Englisch, langsames | |
WLAN gibt es gegen Bezahlung, Chips, Zigaretten und Zahnpasta im Bordshop. | |
Die Hierarchie ist streng. „Hey, Third“, ruft der Kapitän nach José*, dem | |
dritten Offizier. Der Job ist hier an Bord der Name. | |
Mit 20 Knoten schiebt sich das Schiff am nächsten Morgen übers Meer, | |
Schaumkronen tanzen auf den Wellenkämmen, die Containertürme schwanken. | |
„Das Schiff rollt“, wie die Seeleute sagen. „Zehn, fünfzehn Grad Neigung | |
sind in Ordnung“, beruhigt Kapitän Vladyslav*, dessen graue Locken beim | |
Sprechen auf- und abwippen. Mit Zigarette in der Hand steht der 53-Jährige | |
auf dem Brückenflügel, beobachtet das Meer, die Wolken und erklärt eifrig, | |
was welche Formation bedeutet. | |
Angefangen hat er auf russischen Fischereischiffen, sich dann zum Kapitän | |
hochgearbeitet. Jetzt ächzen unter ihm die Container. Immer zu fünft sind | |
die Stahlboxen zu Türmen gestapelt, unter Deck sind die Türme noch höher. | |
„Was in den Containern ist, wissen wir nicht, vielleicht die neue | |
H&M-Kollektion“, sagt Vladyslav. Deklariert werden muss nur Gefahrgut. Rund | |
sechs Millionen Container sind jeden Tag auf den Weltmeeren unterwegs. | |
Allein auf der 300 Meter langen „Conna“ haben 3.150 der gut 12 Meter langen | |
Stahlkisten Platz. | |
Viele Meter unter dem Kapitän arbeiten die Seemänner. Reparieren, | |
Schweißen, Putzen, Pinseln, Ölen, aber vor allem der tägliche Kampf gegen | |
den Rost sind Alltag auf dem 18 Jahre alten Frachter. Mit dem | |
Hochdruckreiniger in der Hand stehen Roxas und sein Kollege in ihren roten | |
Overalls auf dem Brückenflügel. Stück für Stück spritzen sie den Rost vom | |
Stahl, der alte Lack fliegt in alle Richtungen davon. Anschließend wird | |
Deck für Deck neu gemalert, während die Maschine des Schiffs ohrenbetäubend | |
lärmt. | |
„Hört auf zu rennen“, ermahnt ein Offizier zwei junge Seemänner. „Viel … | |
gefährlich“, schimpft er. Die Verletzungsgefahr auf dem schwankenden Schiff | |
ist groß: scharfkantiger Stahl, schwere Maschinen und eine nur schmale | |
Reling, die die Seeleute sichert. Jede Unachtsamkeit kann lebensgefährlich | |
werden. | |
Der Tag auf See beginnt morgens um 8 Uhr und dauert bis 17 Uhr. Alles ist | |
durchgetaktet, selbst die Kaffeepausen: um 10 Uhr und um 15 Uhr, jeweils 20 | |
Minuten lang. Gearbeitet wird täglich, neun Monate lang, ohne Wochenende. | |
Auf der Brücke wird im 4-Stunden-Rhythmus rotiert, wie der Maschinenraum | |
muss sie permanent besetzt sein. | |
Abends sitzt die Crew noch in der „Bar“ zusammen, schaut Musikvideos | |
bekannter Popsongs auf einem alten Computer, trinkt Bier und redet. | |
Manchmal wird die Karaoke-Anlage angeschmissen, dann singen die Matrosen | |
Songs wie „Heaven“ von Bryan Adams oder „Perfect“ von Ed Sheeran, Roxas | |
Lieblingslied. | |
Heute aber greift José zur Gitarre, der dritte Offizier spielt eine selbst | |
komponierte Ballade. Es geht um Liebe und Herzschmerz. Die Sehnsucht ist | |
groß auf den Schiffen. So oft es geht, telefoniert der 35-Jährige mit | |
seiner Familie auf den Philippinen. 13 Jahre fährt er mittlerweile zur See, | |
erzählt er am nächsten Tag auf der Brücke, seine drei Kinder sieht er nur | |
selten. Traurigkeit huscht über sein Gesicht. Als es am Mittag mit dem | |
Videoanruf zu Hause klappt, kehrt sein Lächeln zurück. „Wir haben jetzt | |
einen Welpen, meine Kinder lieben ihn“, sagt er und hält mir ein Foto auf | |
dem Handydisplay hin. José wird den Hund und seine Kinder erst in zwei | |
Monaten sehen, jetzt müssen fünf Minuten am Telefon reichen. | |
Ich bin nur sechs Wochen auf der „Conna“ und doch bekomme ich im Verlauf | |
der Reise eine Ahnung davon, wie es sein muss, monatelang von den Liebsten | |
getrennt zu sein. Die Sehnsucht nagt an einem, der Kontakt nach außen ist | |
schwierig. Und der Alltag spielt sich auf wenigen Quadratmetern mit den | |
immer gleichen Menschen ab. | |
Obwohl sie ständig unterwegs sind, gibt es für die Seeleute kaum | |
Abwechslung. Ich verbringe viel Zeit auf der Brücke, bei einer Tasse Kaffee | |
und den Geschichten von José und Kapitän Vladyslav. Sie sind froh über die | |
Abwechslung. Jemand, der zuhört und ihre Geschichten noch nicht kennt. | |
Einsamkeit und Schwermut sind weit verbreitet auf den Schiffen, auch | |
Depression ist ein Thema. Immer wieder höre ich Geschichten von ertrunkenen | |
Seeleuten, von Suiziden oder Unfällen. Rund um Weihnachten, wenn auf der | |
ganzen Welt Menschen zu Hause bei der Familie sind, wiegen diese Dinge | |
besonders schwer. Auf der „Conna“ feiern sie Heiligabend deshalb alle | |
gemeinsam. | |
„Isolation ist ein Thema, mit dem wir viel arbeiten“, sagt [2][Maya | |
Schwiegershausen-Güth] später am Telefon. Sie kümmert sich bei Verdi um die | |
Seeleute an den deutschen Küsten. Nicht umsonst würden Reedereien | |
Imagekampagnen für den Job fahren. „Früher gab es einen anderen | |
Zusammenhalt“, sagt Schwiegershausen-Güth. Heute kriege man dagegen mehr | |
von zu Hause mit: skypen, chatten, facetimen. Aber dieser Echtzeitkontakt | |
hat seinen Preis, sagt Schwiegershausen-Güth. Zwar sei der Beruf | |
attraktiver, wenn man das Kind auch unterwegs aufwachsen sehen könne, „aber | |
man kriegt auch die Sorgen von zu Hause mit und kann nicht helfen, weil man | |
noch acht Monate an Bord ist“. Eine psychische Belastung, auf die die | |
Seeleute nicht vorbereitet werden. Einige Gewerkschaften haben inzwischen | |
reagiert und Hotlines mit psychologischer Hilfe eingerichtet. | |
Man verdiene gutes Geld auf See, höre ich an Bord immer wieder. Ein | |
einfacher philippinischer Seemann wie Roxas verdient 17 Dollar am Tag. 30 | |
Tage plus Überstunden machen etwa 900 US-Dollar, etwa 800 Euro, mehr als | |
dreimal so viel wie [3][der Durchschnittslohn auf den Philippinen]. Ein | |
„able seaman“, ein ausgebildeter Seemann, kommt mit 25 Dollar Tageslohn | |
plus Überstunden auf etwa 1.300 Dollar im Monat, ein Technischer Offizier | |
auf 2.500 Dollar im Monat. Zwischen 200 und 1.000 Dollar schicken die | |
Männer regelmäßig nach Hause. | |
Um Geld geht es auch bei den eng gestrickten Fahrplänen der Schiffe, die | |
Folgen eines Hurrikans bremsen die „Conna“ auf unserer Fahrt aus. Mit sechs | |
anderen Frachtern liegt sie nun vor Savannah im US-Bundesstaat Georgia auf | |
Reede. Der Schiffskoch nutzt die Zeit, um die Angel auszuwerfen. Ein | |
rumänischer Schlosser und der philippinische Elektriker leisten ihm | |
Gesellschaft. Einen Eimer voll Fisch ziehen sie aus dem Atlantik, | |
Fischsuppe für den nächsten Tag. | |
Nach zwei Tagen Warten kann das Schiff endlich einlaufen. Taue, dick wie | |
Unterarme, fliegen Richtung Pier, Kräne surren, geplante Liegezeit: 22 | |
Stunden. Gemeinsam mit dem örtlichen Schiffsagenten bespricht der Erste | |
Offizier Ladepläne und Lastenverteilung, zum Schlafen kam er nach seiner | |
Nachtschicht auf der Brücke nicht. | |
Auch die Crew ist im Dauerbetrieb. Sobald das Schiff im Hafen vertäut ist, | |
beginnt ihr Schichtdienst. Immer vier Stunden sind die Matrosen als | |
„Checker“ an Deck: Containernummer mit dem Ladeplan abgleichen, | |
kontrollieren, ob die Hafenarbeiter korrekt sichern. Im schweißtreibend | |
heißen Maschinenraum wird derweil der Antrieb repariert. | |
Müde fällt Roxas auf die Couch im Gemeinschaftsraum. Die Schicht zehrt an | |
ihm. „Nach der Arbeit gehe ich eigentlich immer in die Sauna, wegen meinem | |
Rücken“, erzählt er, mit 26 Jahren der Zweitjüngste an Bord. Eine richtige | |
Pause? Hat er in fünf Monaten, wenn sein Vertrag endet, bis dahin muss der | |
Rücken mitspielen. Roxas zuckt mit den Schultern und greift zum Handy. Das | |
eigentliche Leben spielt sich über Telefon und Social Media ab, bei der | |
Familie am anderen Ende der Welt. Auch Roxas hat eine Freundin und ein | |
kleines Kind zu Hause auf den Philippinen. | |
In den wenigen freien Stunden lenkt er sich mit Sport ab. Tischtennis oder | |
Fitnessgeräte, am liebsten jedoch spielt er Basketball. Am Heck des | |
Schiffes hängt an Deck ein Korb, hier treffen sich Seemänner, Offiziere und | |
Maschinisten nach der Arbeit. Bilden Dreierteams und ganze Ligen, in denen | |
sie über Wochen gegeneinander antreten. Hierarchien verschwinden hinter | |
Korbwürfen, wenn sich Kapitän und Hilfskoch, Bootsmann und Chefingenieur | |
die Bälle zuwerfen. | |
Längere Auszeiten vom dröhnenden Schiff gibt es aber nur selten. „Jeder | |
Seemann muss mal an Land, sich erden und einen Baum umarmen“, sagt Kapitän | |
Vladyslav. In Savannah haben er und sein Chefingenieur die seltene | |
Gelegenheit, 20 Minuten dauert die Taxifahrt ins Zentrum. Der erste große | |
Baum, und der kleine Kapitän schmiegt sich tatsächlich an die Rinde. Zwei | |
Stunden spazieren Vladyslav und der Chefingenieur durch die abendliche | |
Stadt und bestaunen Denkmäler des Amerikanischen Bürgerkriegs. | |
Die Pandemie hat solche Gelegenheiten noch seltener gemacht. Während der | |
Lockdowns waren Häfen komplett geschlossen, niemand durfte von Bord. Sogar | |
die Seemannsmissionen, die es in fast jedem Hafen der Welt gibt, waren | |
tabu. Lediglich ein paar Bestellungen, SIM-Karten, Snacks und ein paar neue | |
T-Shirts durften zum Schiff gebracht werden. Mit den Seeleuten reden, die | |
Hauptaufgabe der christlichen Einrichtungen, war dagegen kaum möglich. Die | |
Seemänner fühlten sich allein gelassen, vergessen. Dazu kam die Angst | |
davor, selbst krank zu werden. | |
Auch der regelmäßige Crewwechsel war monatelang nicht möglich. Gestrichene | |
Flüge und geschlossene Grenzen zwangen die Seeleute, länger als geplant an | |
Bord zu bleiben. Die Verträge wurden kurzerhand verlängert und aus neun | |
plötzlich zehn oder elf Monate auf See. Gleichzeitig habe die Gewerkschaft | |
mit den Reedern diskutiert, damit die Menschen zumindest umsonst nach Hause | |
telefonieren können, sagt die Gewerkschafterin Schwiegershausen-Güth. | |
„Abgesehen davon, dass man bei sieben Tage pro Woche Arbeit fertig ist, | |
nimmt auch die Unfallhäufigkeit zu, wenn man plötzlich zwei Monate länger | |
bleiben muss.“ | |
Der nächste Morgen: Die „Conna“ soll wieder in Savannah ablegen, doch der | |
Umschlag der Container verzögert sich, das Löschen geht langsam, ein | |
Hafenkran ist kaputt. Aus 22 werden erst 32, dann 43 Stunden Liegezeit. Die | |
Matrosen arbeiten weiter rund um die Uhr. Es gibt Zeiten, da fährt ein | |
Containerschiff täglich einen neuen Hafen an, ein enormes Pensum für die | |
Crew. Die vorgeschriebenen Ruhezeiten sind kaum einzuhalten, oft arbeiten | |
Seeleute mehr als 300 Stunden im Monat. Ausbeutung nennen das die | |
Gewerkschaften. Möglich wird diese Praxis durchs Ausflaggen. Das Schiff | |
gehört dann wie im Fall der „Conna“ einem europäischen Reeder, fährt aber | |
unter fremder Flagge – mit geringeren arbeitsrechtlichen Vorschriften. Die | |
Folgen: mangelnde Sicherheit, viele Überstunden, höheres Unfallrisiko. | |
Von den 2.001 Frachtschiffen in deutschem Besitz – eine der größten Flotten | |
der Welt – fahren laut dem Verband Deutscher Reeder gerade einmal 290 unter | |
deutscher Flagge. Der große Rest ist unter anderen Flaggen unterwegs, die | |
meisten sind im Inselstaat Antigua und Barbuda oder, wie die „Conna“, in | |
Liberia registriert, wo es das weltweit größte Schiffsregister gibt. | |
„Billigflaggen dienen dazu, Sozialstandards zu umgehen. Die Flagge bestimmt | |
das Recht an Bord: Arbeitszeit, Bezahlung, Ansprüche im Krankheitsfall“, | |
erklärt Maya Schwiegershausen-Güth von Verdi. Die Gewerkschaft ist Teil der | |
[4][Internationalen Transportarbeiter-Föderation] (ITF), die die Rechte der | |
Seeleute weltweit vertritt. „Es gibt den philippinischen Seemann, der für | |
300 Dollar fährt. Nach internationalen Seearbeitsabkommen müsste er | |
mindestens 900, mit ITF-Tarifvertrag 1.670 Dollar im Monat bekommen“, sagt | |
Schwiegershausen-Güth. Zudem seien viele Seeleute nicht | |
sozialversicherungspflichtig beschäftigt, hätten nach neun Monaten an Bord | |
weder Renten- noch Arbeitslosenversicherung. | |
Von den 1,2 Millionen Seeleuten fährt jeder Vierte mit Tarifvertrag. | |
Crewmitglieder, die ohne Tarifabschluss anheuern, bekommen laut ITF etwa | |
1.000 Dollar monatlich bei einer höheren Stundenzahl. „Die Reeder ziehen | |
weiter, dahin, wo es noch günstiger ist“, sagt die Gewerkschafterin, nach | |
Sri Lanka, Indien, Myanmar. Die Philippinen, wo es eine starke Gewerkschaft | |
gibt, seien einigen schon zu teuer. | |
Die „Conna“ hat die USA jetzt verlassen, Kurs Südamerika. Zehn Tage auf See | |
liegen vor der Crew, ohne Nachtschichten, Hafendienste und Anlegemanöver. | |
Und sonntags ist ab 12 Uhr frei. Auch in der Küche ist der Sonntag ein | |
besonderer Tag: Statt Fisch, Fleisch oder Frittiertem gibt es Pizza. | |
Früher, als das Schiff von einer deutschen Crew geführt wurde, habe es | |
sonntags immer Eintopf gegeben, erzählt der Koch. | |
Diesmal jedoch wird der Sonntag weniger feierlich: Die Lebensmittel werden | |
knapp. Kaffee, Milch und frisches Obst sind bereits aufgebraucht, der | |
Kühlraum so gut wie leer. Statt Suppe gibt es klare Brühe und Panade dicker | |
als der Fisch. Das Schiff hängt seinem Fahrplan hinterher, aber die | |
Reederei hat untersagt, in den USA Lebensmittel nachzukaufen – zu teuer. | |
Offen beschweren will sich niemand. Der dritte Offizier José sagt: „Meine | |
Familie war arm, als Kinder waren wir froh, wenn es überhaupt etwas gab.“ | |
Seine Kinder sollen es mal besser haben. Nur zur See dürfen sie nicht | |
fahren, sagt er, zu gut kennt José die Entbehrungen. „Wie viele Geburtstage | |
ich schon verpasst habe, erste Schultage, Familienfeiern.“ Fünf Jahre noch, | |
dann will er aufhören. | |
Nach sechs Wochen ist es auch für mich Zeit, wieder von Bord zu gehen. In | |
Montevideo regnet es, als ich die „Conna“ verlasse. Das Schiff ist eine | |
Welt für sich, eine Welt voller Sehnsucht, Einsamkeit und harter Arbeit, | |
aber auch voller Lachen und Zusammenhalt. Es ist eine Welt, die mir vorher | |
nicht bewusst war – von der wir aber alle in irgendeiner Form abhängig | |
sind. | |
Während ich noch darüber nachdenke, werden im Hafen schon wieder die Taue | |
gelöst. Draußen auf See, wenn der Lotse von Bord ist, wird einer der | |
Seemänner wieder auf die metallene Gangway hinaussteigen, die Halterungen | |
an der Außenbordwand lösen und zurück an Bord kommen, während das Schiff | |
bereits Fahrt aufnimmt. Der nächste Hafen wartet. | |
* Die Namen der Seeleute und des Schiffs sind geändert, um Ärger mit ihrem | |
Arbeitgeber zu vermeiden | |
23 Dec 2021 | |
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Katrin Groth | |
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