# taz.de -- Psychologe über die Sorgen auf See: „Ich wurde zur Unperson“ | |
> Hans-Joachim Jensen ist früher selbst zur See gefahren. Später hat er | |
> sich als Psychologe für bessere Arbeitsbedingungen der Seefahrer | |
> eingesetzt. | |
Bild: Hatte ein „unstetes Leben“, sagt Hans-Joachim Jensen über sich selbst | |
taz: Herr Jensen, sind Sie als Seemann mal in eine Krisensituation | |
gekommen? | |
Hans-Joachim Jensen: Oh ja, da gab es mehrere. An eine Situation kann ich | |
mich besonders gut erinnern. Ich hatte gerade frisch mein Patent als | |
Schiffsoffizier gemacht. | |
Was ist passiert? | |
Wir kamen vor dem dänischen Jütland in einen schweren Sturm. Wir wollten in | |
Esbjerg in einen Nothafen einlaufen. Aber der Lotse wollte uns nicht | |
reinlotsen. Dann sind wir weitergefahren und in Cuxhaven eingelaufen. Wenn | |
die Luken eingeschlagen worden wären, wären wir abgesoffen. | |
Erinnern Sie sich noch, wie Sie sich gefühlt haben? | |
Ich bin ganz ruhig geblieben und nicht in Panik geraten. Aber ich habe ganz | |
schön Schiss gehabt. | |
Worauf kommt es in einer solchen Situation an? | |
Es ist wichtig, dass die Mannschaft gut trainiert ist. Jeder hat eine feste | |
Rolle in Krisensituationen und weiß, was zu tun ist. Man kann sich mental | |
vorbereiten und gewisse Situationen durch Simulation immer wieder | |
trainieren. Das Training muss so konzipiert sein, dass in Notsituationen | |
gewisse Dinge automatisch ablaufen. Ich brauche das Gefühl der | |
Kontrollkompetenz. Natürlich kann es in Notsituationen auf See immer zu | |
unerwarteten Überraschungen kommen. | |
Sie haben selbst auch ausgebildet? | |
Ja, ich habe Offiziere und Kapitäne im Crowd- und Crisis-Management | |
ausgebildet. Nach dem Untergang des Fährschiffes „Estonia“ 1994 wurde diese | |
Ausbildung verpflichtend. Besatzungsmitglieder von Fährschiffen und | |
Passagierschiffen wurden darauf vorbereitet, wie sie bei Havarien und | |
Unfällen Menschen zu führen haben. Dabei haben mir meine eigene Erfahrungen | |
geholfen. | |
Sie sind von 1962 bis 1967 zur See gefahren. Wie war das damals? | |
Ich hatte viel Glück bei meinen Heuern, ich bin auf kleinen Schiffen | |
gefahren mit langen Liegezeiten meist in der Karibik. Wir lagen oft zehn | |
bis vierzehn Tage und ich hatte Zeit und konnte an Land gehen. Ich habe | |
unheimlich viel erlebt und interessante Leute kennengelernt. | |
Das klingt ja richtig nach Seefahrerromantik! | |
Ja, ich habe noch die Seefahrerromantik kennengelernt. | |
Nehmen Sie uns doch mal mit in die Karibik! | |
Wir lagen in Französisch Guayana an einem Urwaldfluss, um Tropenholz zu | |
laden. In Cayenne habe ich einen spanischen Alligatorjäger kennengelernt. | |
Ich habe spontan gefragt, ob ich auf die Jagd mitkommen kann. Konnte ich. | |
Zusammen mit zwei Männern eines indigenen Stammes sind wir nachts mit einem | |
Kanu in die Sümpfe gefahren, um Alligatoren aufzuspüren. Wir mussten | |
lautlos sein, was angesichts der Moskitos eine Herausforderung war. | |
Erspähte mein Vordermann einen Alligator, wurde der erst mit einer Harpune | |
betäubt und dann mit zugebundenem Maul aufs Boot gehievt. Wir waren mehrere | |
Tage unterwegs und ernährten uns ausschließlich von Alligatorfleisch. | |
Trinken musste ich das Wasser aus den Sümpfen, aber ich habe es überlebt. | |
Wenn Sie so begeistert waren, warum sind Sie dann nicht weiter zur See | |
gefahren? | |
Ich habe schon früh gemerkt, dass das für mich geistig zu eng gewesen wäre. | |
Das habe ich damals so empfunden. Außerdem merkte ich, dass ich all meine | |
sozialen Kontakte verliere, denn damals war man manchmal auch eineinhalb | |
Jahre nonstop auf See, bis man abgelöst wurde. Ich habe das Leben auf See | |
genossen, aber wollte nicht bis an mein Lebensende ein Vagabund bleiben. | |
Ich hatte Lust auf etwas Neues. Deshalb habe ich mich entschlossen, | |
Psychologie zu studieren. Aber die Umstellung ist mir sehr, sehr schwer | |
gefallen. | |
Warum? | |
Als Schiffsoffizier wurde mir die Koje gemacht. Ich brauchte mich nicht um | |
das Essen zu kümmern, bei Tisch wurde ich bedient. Als ich in Tübingen | |
angefangen habe zu studieren, war es vorbei mit dem Luxus. Ich musste mir | |
’ne Bude besorgen, mit Kohle heizen. Ich war ja sechs Jahre nur in den | |
Tropen unterwegs gewesen. Ich habe gefroren wie ein Schneider. Aber der | |
Kontakt zu anderen Studierenden hat mir unheimlich gutgetan. | |
Sie haben eine besondere Zeit für Ihr Studium erwischt. | |
Ich fing 1967 mit dem Studium an und rutsche quasi in die 68er-Bewegung, wo | |
ich auch aktiv wurde. Ich bin ja überall rumgekommen, habe die Not in der | |
„Dritten Welt“ kennengelernt, Ausbeutung mit eigenen Augen gesehen. | |
Wie aktiv waren Sie? | |
Ich war nicht auf Demonstrationen, aber die Diskussionen und die | |
republikanischen Klubs haben mich sehr interessiert. Obwohl ich oft in eine | |
Ecke gestellt wurde: „Du bist ja als Schiffsoffizier auch Ausbeuter | |
gewesen“, wurde mir vorgeworfen. Das Wichtigste an der Bewegung war für | |
mich, dass die alte Nazizeit endlich mal aufgearbeitet worden ist. Ich fand | |
das frustrierend, dass die Eliten größtenteils noch aus der Nazizeit | |
stammten. In den 50er Jahren, als ich als Bergmann arbeitete, stammte der | |
Bergwerksdirektor meiner Zeche aus der Zeit. Die Aufseher hatten noch | |
russische Zwangsarbeiter gequält. Das war für mich prägend. | |
Was kam nach dem Studium? | |
Nach dem Studium habe ich an der Hochschule in Flensburg gearbeitet, um | |
schnell wieder auf See zu können und Untersuchungen zu machen. | |
Was für Untersuchungen waren das? | |
Das nannte sich die Flensburger Studie. Da ging es um Besatzungsstrukturen. | |
Meine Untersuchungen drehten sich um psychosoziale Bedingungen an Bord, | |
Führungs- und Organisationsstrukturen und psychische Belastungen. Das waren | |
meine ersten Forschungsarbeiten in diesem Bereich. Nach der | |
Veröffentlichungen der Ergebnisse wurde es ziemlich turbulent. | |
Wieso? | |
Die Bild hatte über mich geschrieben, und ich wurde so zu einer Unperson | |
für die Seeschifffahrt. | |
Das müssen Sie erklären. | |
Ich habe etwas gesagt, was damals in den 70er Jahren nicht gut ankam. Ich | |
hatte gesagt, auf der Brücke müsse Teamwork bestehen und die Bild hat | |
daraus gemacht: Der Alte, also der Kapitän, soll nicht mehr allein das | |
Sagen haben. Ich wurde als Systemveränderer gesehen. | |
Was wollten Sie denn verändern? | |
Ich habe gesagt: Dass Frauen auch Führungspositionen ausfüllen sollten, | |
Kapitänin werden. Das kam auch nicht gut an, in den 70ern war die Seefahrt | |
eine sehr männerorientierte Gesellschaft. Ein anderer Punkt war meine | |
Kritik an der Länge des Aufenthalts auf den Schiffen, damals waren Seeleute | |
ein Jahr, manchmal sogar eineinhalb Jahre an Bord. Und ich habe darauf | |
hingewiesen, dass es zu Persönlichkeitsveränderungen kommen kann, wenn man | |
keine anderen sozialen Kontakte als die Kollegen an Bord hat. Es ist nicht | |
gut, sein Leben lang zur See zu fahren. Daraufhin wurde mir vorgeworfen, | |
das Berufsethos des Seemannes infrage zu stellen. | |
Und dann? | |
Ich bin zur Polizei gegangen und war an der Hochschule der Polizei | |
Baden-Württemberg tätig. Durch einen Kollegen bin in den Themenbereich | |
psychotraumatische Belastung gekommen. Schusswaffeneinsatz, Geiselnahmen. | |
Ich habe angehende Kommissare mit ausgebildet. Insgesamt sechs Jahre war | |
ich dort tätig, unter anderem als Dekan der Hochschule. Aber mein Bestreben | |
war, wieder an eine Ausbildungsstätte zu kommen, die mit Seefahrt zu tun | |
hat. Und so bin ich 1983 wieder zurück an die Hochschule in Flensburg. | |
Also hängt Ihr Herz schon ein bisschen an der Seefahrt? | |
Ja, mein Herz schlägt voll und ganz für die Seeschifffahrt. | |
Sie haben an mehreren Studien über psychische Belastungen von Seefahrern | |
mitgearbeitet. Was sind die größten Belastungen auf See? | |
Die größte Belastung ist für viele die lange Trennung von ihren Familien. | |
In der Seefahrt sind viele Ostasiaten beschäftigt, die eine starke | |
familiäre Bindung haben, sie unterstützen ganze Großfamilien finanziell, | |
die emotionale Bindung ist sehr eng. Sie sind mindestens neun Monate, | |
manchmal zwölf Monate von der Familie getrennt. Und sind in einer Umgebung, | |
die meist westlich orientiert ist. Das führt zu Isolation und auch | |
Depression. | |
Was könnte den Seeleuten helfen? | |
Regelmäßiger Kontakt zu ihren Familien. Das ist aber schwierig. | |
Warum? | |
Die Containerschiffe werden immer größer und die Mannschaften immer | |
kleiner, die Liegezeiten kürzer, alles um Kosten zu sparen. Die Landgänge | |
sind, wenn sie stattfinden, kurz, und das ist eigentlich die Zeit, die die | |
Seeleute nutzen, um mit den Familien zu telefonieren, oder auch um einfach | |
mal auszuspannen, zum Beispiel in den Niederlassungen der | |
Seemannsmissionen. | |
Hat sich denn auch etwas positiv geändert? | |
Es gibt natürlich mittlerweile verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten. Wir | |
haben uns bei unseren Forschungen dafür eingesetzt, die Kommunikation an | |
Bord durch Satellitentelefone zu verbessern, damit die Verbindung mit | |
Familien auch auf See besteht. Mein Kollege Marcus Oldenburg vom ZfAM und | |
ich empfehlen außerdem, die Einsatzzeiten auf sechs Monate zu beschränken. | |
Wobei das auch nicht so gerne von den Besatzungsmitgliedern gesehen wird. | |
Die wollen ja möglichst schnell genug Geld verdienen. | |
Machen die Reedereien, die ja auch unter hohem Druck stehen, da mit? | |
Es ist abhängig von den Reedereien, ja, es gibt welche, die sind offen für | |
unsere Empfehlungen und erkundigen sich. In der Kreuzfahrtschifffahrt ist | |
die Situation nochmal verschärft. | |
Wieso? | |
Zur Arbeitsbelastung kommt auf den Kreuzfahrtschiffen eine extreme | |
emotionale Belastung. Auf den Schiffen sind sehr viel Frauen beschäftigt, | |
die teilweise für neun Monate ihre kleinen Kinder zu Hause bei den | |
Großeltern auf den Philippinen oder in anderen Ländern zurücklassen. Als | |
Servicepersonal sollen sie rund um die Uhr lächeln, immer freundlich sein, | |
egal ob das Kind zu Hause krank ist oder es andere Sorgen gibt. Es besteht | |
immer wieder diese Diskrepanz zwischen dem eigentlichen Gefühl und dem | |
Gefühl, das sie nach außen transportieren. Die Not wegzulächeln ist eine | |
ziemliche Belastung, die auf Dauer auch zu Persönlichkeitsveränderungen | |
führt. | |
Was bedeutet das? | |
Es kommt zu Erschöpfungssyndromen, die auch zu Depressionen führen können. | |
Selbst die verantwortlichen Manager von Reedereien sagen, dass sie nach | |
neun Monaten an Bord völlig ausgelaugt sind. | |
Haben Sie auf Kreuzfahrtschiffen auch Studien gemacht? | |
Nein. Ich war an Bord, um Schiffsärzte auszubilden. Ich habe auch | |
Interviews geführt mit Besatzungsmitgliedern, obwohl das nicht gern gesehen | |
wurde. | |
Sehen Sie den Willen der Reedereien, an dieser Situation etwas zu ändern? | |
Bedingt. Kreuzfahrttourismus ist ein Massenbetrieb, die Kosten werden | |
extrem knapp kalkuliert. Die Schiffe fahren ja nicht unter deutscher, | |
sondern unter fremder Flagge, um Kosten wie Steuern weiter zu drücken. Man | |
kennt diese Probleme. Trotzdem wird die Ausbeutung der Besatzungen | |
akzeptiert. | |
Sie haben sich auch mit Traumaforschung beschäftigt. Was können | |
traumatische Erlebnisse an Bord sein? | |
Das können Bedrohungen durch Piraten sein, bei denen teilweise Seeleute als | |
Geiseln genommen wurden. Blinde Passagiere, auch die Seenotrettung von | |
Geflüchteten kann traumatisch sein. Wenn Ertrunkene geborgen werden müssen, | |
wenn auf einmal Dutzende oder Hunderte Menschen an Bord sind, die ja | |
ihrerseits auch wieder Ängste haben. An Bord passieren auch immer mal | |
wieder schwere Unfälle, bei denen im schlimmsten Fall Menschen sterben. Ich | |
habe Seeunfallanalysen gemacht und geschaut: Wie verarbeiten die Menschen | |
das? Welche Probleme ergeben sich? | |
Mit welchen Ergebnissen? | |
Sie haben an Bord verschiedene Kulturen, die mit Krisen unterschiedlich | |
umgehen. Zum Beispiel haben Philippiner eine sehr enge Bindung an ihre | |
ethnische Gruppe und Religion spielt eine große Rolle. Diese spirituelle | |
Bindung muss man sehr ernst nehmen. Ich hatte mit einem Fall zu tun, wo ein | |
Philippiner über Bord gegangen und ertrunken ist. Seine Landsmänner standen | |
unter Schock, sahen den Unfall als Fluch und wollten das Schiff verlassen. | |
Über die Seemannsmission wurde dann ein Priester vermittelt, der die Räume | |
auf dem Schiff ausgesegnet hat. So konnten die Männer bleiben. | |
Was ist also zu tun nach einem Unfall? | |
Die Menschen müssen nach traumatischen Situationen aufgefangen werden, tun | |
Reedereien das nicht, riskieren sie die psychische Gesundheit ihrer | |
Crewmitglieder. Das erste Gespräch nach einem Unfall ist extrem wichtig. | |
Das kann schon sehr entlastend sein. Aber dieses Gespräch muss in einem | |
geschützten Raum mit einer neutralen Person geführt werden. Ihrem | |
Arbeitgeber werden sich die Leute mit psychischen Problemen nicht immer | |
offenbaren. Diese neutrale Position stellen die Seemannsmissionen dar. | |
Aber es kann ja Tage dauern, bis der nächste Hafen mit einer | |
Seemannsmission angelaufen wird. | |
Ja, das ist das Problem. Hilfe kommt oft erst später, manchmal erst, wenn | |
die Mannschaft abgelöst wird. Das ist zu spät. Ich arbeite im | |
Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin (ZfAM) in Hamburg | |
mit dem Arbeitsmediziner Marcus Oldenburg zusammen. In unseren Studien | |
haben wir uns mit den Fragen beschäftigt: Wie kann man solche Hilfsangebote | |
international organisieren? Es gibt ein, zwei Reedereien, die sich beim | |
ZfAM über Beratungs- und Hilfeangebote informieren, die sich bemühen, | |
Besatzungsmitglieder aufzufangen und zu stabilisieren. Am besten wäre es | |
natürlich, wenn ein Seelsorger oder Psychologe nach Unfällen einige Zeit an | |
Bord mitfährt. Aber das ist höchst selten. | |
Was reizt an der Traumaforschung? | |
Mich interessiert, wie Menschen auf Erlebnisse reagieren, und wie sie diese | |
verarbeiten. Und wahrscheinlich, weil ich auch persönlich extreme | |
Belastungen erfahren habe. Zum Beispiel als Kind – die Erlebnisse während | |
eines Bombenangriffs. | |
Sie sind in Leipzig geboren? | |
Ja, und mit 14 Jahren von dort geflohen. | |
Wie verlief die Flucht? | |
Ich bin mit meiner Mutter in Marienborn bei Helmstedt an der heutigen | |
Grenze Sachsen-Anhalts zu Niedersachsen schwarz über die Grenze, wie man | |
damals sagte. Es war früher Morgen, als uns ein Führer über die Grenze | |
brachte. Wir mussten uns im Wald verstecken, weil Grenzer kamen. Und dann | |
kamen wir nach Düsseldorf. Ich hatte mich auf der Flucht schon gefreut, | |
weil ich glaubte, im Westen könnte ich endlich die Oberschule besuchen. In | |
der DDR haben sie mich nicht gelassen, weil ich nicht in der FDJ war und | |
mich konfirmieren ließ. Aber da war nix mit Oberschule, meine Mutter war | |
mittellos. Ich musste arbeiten. | |
Als was? | |
Als Bergmann. Kurz bevor ich in der Zeche in Gelsenkirchen anfing, gab es | |
dort ein großes Unglück. Fast 80 Bergleute waren tödlich verunglückt. Die | |
brauchten Nachwuchs. Ich habe später die Prüfung als Knappe abgelegt. Fast | |
fünf Jahre habe ich als Bergmann gearbeitet. Aber für mich war immer klar, | |
auf die Dauer stehe ich das körperlich nicht durch. Und ich habe mich | |
entschlossen, das Abitur nachzumachen. | |
Und dann? | |
Mit einem ziemlich schlechten Abitur in der Tasche wollte ich Bergbau in | |
Clausthal-Zellerfeld studieren. Aber genau in dieser Zeit begann das | |
Zechensterben. Der Bergbau hatte keine Zukunft. Und so bin ich dann zur | |
Seefahrt gekommen. | |
Also was ganz anderes. War das so eine Art Kindheitstraum? | |
Ich glaube schon. Bevor ich Bergmann wurde, wollte ich eigentlich als | |
Schiffsjunge zur See fahren. Ich war kurz davor anzuheuern. Aber meine | |
Mutter hatte mir davon abgeraten. Und nach dem Krieg gab es in der Seefahrt | |
in Deutschland nicht viele Jobs, es gab ja keine Flotte, alles war | |
zerstört. Aber der Wunsch, zur See zu fahren, spukte in meinem Kopf. | |
Wann waren Sie das letzte Mal auf einem Schiff? | |
Oh, das ist lange her. Vor Corona. Aber ich fahre nicht mehr zur See, bin | |
nur noch kurz als Besucher an Bord. | |
Wieso? | |
Die Reedereien wollen mich nicht mehr an Bord haben, denen bin ich zu alt. | |
Da besteht die Gefahr, dass ich plötzlich zum Notfall werde, dann müssten | |
sie einen Nothafen anlaufen, und das kostet Zeit und Geld. Frustrierend, | |
aber irgendwie auch nachvollziehbar. Die aktive Seefahrt ist für mich | |
vorbei. | |
Und was machen Sie? | |
Ich arbeite zum Beispiel immer noch eng mit der Seemannsmission im Bereich | |
der psychosozialen Notfallversorgung zusammen. Mein Kollege Oldenburg und | |
ich tauschen uns gegenseitig aus. Aber während der Coronazeit habe ich mich | |
weitgehend isoliert. Mit 86 Jahren gehöre ich ja zur Risikogruppe. | |
Das muss frustrierend sein für einen umtriebigen Menschen wie Sie? | |
Ich habe eine Beschäftigung gefunden. Meine Freunde und Verwandten haben | |
mir geraten, meine Erlebnisse aufzuschreiben, das mache ich jetzt. Aber ich | |
will nichts groß veröffentlichen. Wenn jemand Lust hat, das zu lesen, freue | |
ich mich. Es ist eine Gelegenheit, die Gedanken zu ordnen. Mir macht das | |
große Freude. Ich hatte ein unstetes und privilegiertes Leben, das ist mir | |
bewusst. | |
27 Dec 2021 | |
## AUTOREN | |
Juliane Preiß | |
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