# taz.de -- Museumsbesuch mit Kapitän: Der letzte Wikinger | |
> Als Hochseefischer befuhr Wolfgang Gewiese mehr als 40 Jahre lang den | |
> Nordatlantik. Wir besuchen mit ihm eine Ausstellung über den Mythos | |
> Seefahrt. | |
Bild: Arbeit auf Eis: Grönland in den 1970er-Jahren | |
Cuxhaven taz | Wolfgang Gewiese wollte nicht zur See fahren. Und schon gar | |
nicht Wikinger werden, sondern Autoschlosser. Am Ende wurde er dann doch | |
Seemann, der Reklame wegen – und blieb es über 40 Jahre lang. Heute ist der | |
Kapitän fast 80 Jahre alt und einer der Letzten seiner Art, die noch leben, | |
hier in Cuxhaven. | |
Damals, in den Fünfzigern, waren Hochseefischer knapp. Also sollte die | |
Werbung helfen. In den Groschenwestern von Bastei Lübbe wie „Billy Jenkins“ | |
oder „Tom Prox“ schaltete der Branchenverband kleine Anzeigen, die jungen | |
Männern auch ohne Seeerfahrung „guten Verdienst“ und „schnelle Beförder… | |
versprachen. Man sieht einen Mann mit Troyer und Pudelmütze an einem | |
hölzernen Steuerrad, eine Hand in der Hosentasche. „Die letzten Wikinger | |
fahren in der Hochseefischerei“, steht daneben. | |
So heißt auch die Ausstellung im Wrack- und Fischereimuseum [1][Windstärke | |
10] in Cuxhaven, die derzeit die Hochseefischerei der Jahre von 1960 bis | |
1990 beleuchtet. Wolfgang Gewiese hat sie als Zeitzeuge mitinitiiert. Wer | |
wirklich eine Ahnung davon bekommen will, wie das damals war, muss mit ihm | |
persönlich sprechen. Denn die Fischer selbst kommen in der | |
texttafellastigen Schau kaum zu Wort. Dafür werden ihre Schiffe umso | |
genauer erklärt. | |
Angefangen hat alles auch für Gewiese mit eben jener Werbung. „Das war ein | |
Raubzug, um an Leute ranzukommen“, sagt er heute. „Damals wurden Leute noch | |
in der Kneipe angeheuert und an Bord gebracht.“ Drei Monate ging er auf die | |
Jungfischerschule in Bremerhaven, für mehr reichte das Geld nicht. Danach | |
war er Leichtmatrose und fuhr auf dem Nordatlantik, anfangs noch auf | |
Kohledampfern. | |
## „Übermenschliche Arbeitsleistung“ | |
„Die Pflichterfüllung und die fast übermenschlichen Arbeitsleistungen der | |
Fischersleute finden kaum einen Vergleich in anderen Berufen“, heißt es in | |
einer soziologischen Studie von 1955, und dass fast 3.000 Männer auf See | |
geblieben waren, seit 1885 das erste Mal ein Fischdampfer von Bremerhaven | |
aus auf die Nordsee fuhr. Etwa drei Wochen dauerte so ein Trip – fünf Tage | |
lang fuhr man nach Grönland, fünf Tage wieder zurück. | |
Dazwischen wurde immer gefischt, sieben Tage die Woche, rund um die Uhr. | |
Wochenenden gab es nicht. „An geregelten Schlaf war nicht zu denken, und | |
hinterher war man platt“, sagt Gewiese. Für längere Fangzüge reichte der | |
Sprit nicht, und der zu Hause als frisch gepriesene Fisch war dann ja schon | |
etwas oll und roch auch so. Mehr als zwei Nächte Pause zwischen zwei | |
Fahrten waren nicht drin, dann fuhren sie wieder raus, die Wikinger. | |
„Manche kannten nicht mal ihre Nachbarn, hatten kein Freunde“, sagt | |
Gewiese. Auf das, „was wir als ‚bürgerliches Leben‘ zu bezeichnen pflege… | |
verzichte der Hochseefischer, schreibt auch der Studienautor von einst, und | |
ein Fischdampfer ist „wenig dazu geeignet, dem Kulturbedürfnis der Menschen | |
im üblichen Sinne Rechnung zu tragen“. Sechs Mann teilten sich eine Kammer, | |
vierzehn ein Klo und drei Waschbecken. Warmwasser gab es keines. | |
„In den Sechzigern war das [2][katastrophal, aber normal]“, sagt Gewiese. | |
Eine dieser Kammern haben sie in der Ausstellung nachgebaut, sie wirkt eher | |
heimelig. Doch die Kojen waren schmal, und das Kulturbedürfnis wie die | |
Privatsphäre beschränkt sich auf ein paar Pin-ups. Ansonsten war für Frauen | |
an Bord eh kein Platz. | |
## Ein Leben auf See | |
43 Jahre ist Gewiese als Hochseefischer durch die Weltmeere gefahren, davon | |
27 Jahre als Kapitän. Viermal war er in dieser Zeit an Weihnachten zu | |
Hause. Er ist nicht mal 30, als er 1972 seine erste Kapitänsreise antritt, | |
135 Tage dauert sie, 74 Mann Besatzung stehen unter seinem Kommando. „Ich | |
hatte Erfolg“, sagt er rückblickend, und dass er sein Geld nie „verprasst�… | |
habe. | |
Damals, als der Hafen in Cuxhaven noch ein „Eldorado“ von Kneipen war, mit | |
vielen Sexarbeiterinnen, die man noch nicht so nannte. Über 200.000 | |
D-Mark im Jahr verdient Gewiese in den Neunzigern, sagt er, mit 58 geht er | |
in den Ruhestand. Noch heute schwärmt er von der „Kameradschaft an Bord“. | |
Ihre Schiffe, das waren zunächst „Seitenfänger“, die Netze wurden mit der | |
Hand und einer Winsch seitlich an Bord gehievt und gleich an Deck | |
verarbeitet. Und zwar bei fast jedem Wetter. Mehr Komfort kam erst mit den | |
„Heckfängern“ auf, die den Fisch gleich tonnenweise ein Deck tiefer | |
verklappten; die Schiffe waren bis dahin schon zu schwimmenden Fabriken mit | |
Filetierstraßen und Platz für mehrere hundert Tonnen Tiefkühlkost geworden. | |
Auch die „Kiel“ von Kapitän Gewiese war so ein „Vollfroster“. | |
Platz für Skrupel an der Arbeit war keiner, die [3][Überfischung der | |
Weltmeere] wird frühestens Ende der Siebziger ein Thema, und den | |
Weltvegantag gibt es auch erst seit 1994. Zudem hing vom Fangerfolg ja der | |
Verdienst der Fischer ab. 3, 4, 5 Tonnen am Tag: „Das war nichts!“, sagt | |
Gewiese. Und seine Augen leuchten, als er erzählt, wie sie in 18 Tagen 900 | |
Tonnen Makrelen gefischt haben. | |
„Wir waren immer auf der Jagd.“ Da ist es wieder, das Wikinger-Bild. Wenn | |
es gut lief, wurde auch mal zwei Tage fast ohne Pause gearbeitet. | |
„Ordentlich gefeiert und viel gesoffen wurde auch“, erinnert sich der | |
Kapitän – „aber erst auf der Heimreise“. Oder an Silvester. | |
## Fünf Tage im Orkan | |
Gefischt wurde bis Windstärke 9, das sind knapp 90 Stundenkilometer. Sturm. | |
„Fünf Tage im Orkan waren aber auch keine Seltenheit.“ In der Ausstellung | |
ist von Monsterwellen von deutlich über 20 Metern die Rede, ein Bild zeigt | |
ein Schiff von fast 70 Metern Länge, dessen Brücke aussieht, als hätte man | |
sie mit einem riesigen Vorschlaghammer zertrümmert. Drei Menschen starben | |
dabei. | |
Monsterwellen? Gewiese winkt ab. Davon haben sie zu Hause nichts erzählt, | |
das hat ihnen eh keiner geglaubt. Bis 1995 hat die Wissenschaft solche | |
Wellen als „Seemannsgarn“ abgetan. Dann kamen Beweise, die nicht mehr zu | |
leugnen waren. | |
Und auch den Klimawandel spürte Gewiese schon, lange bevor er an Land ein | |
Thema wird. Er erzählt von Eiswintern in Grönland, von minus 25 Grad, in | |
den Sechzigern und Siebzigern. Dazu hat er ein paar alte Analogfotos | |
herausgesucht – das Deck ist mit Eismassen überfroren bis fast hinauf zur | |
Radaranlage, ein paar Männer in Ölzeughosen posieren an Bord zwischen | |
mannshohen Eisbergen. „Heute ist da im Winter Frühling“, sagt Gewiese. | |
Einmal musste er bei minus 15 Grad vor der kanadischen Küste einen | |
Netzmacher bergen, der über Bord gegangen war – Emil, den „Flockenfurz“. | |
Der wurde gerettet, Gewiese froren alle zehn Finger ab. In den Achtzigern | |
sei es „spürbar wärmer“ geworden, erzählt er, „und die Stürme wurden | |
stärker.“ Extremwetter waren damals höchstens in der Wissenschaft in | |
Thema. | |
## Jäger im Wettbewerb | |
Und die Überfischung? Klar, sie haben sich genommen, was sie kriegen | |
konnten, und sind dann wieder abgehauen, das sagt auch Gewiese. Und die | |
Kollegen einer Flotte führten sich untereinander durchaus mal gezielt in | |
die Irre. Sie waren eben Jäger und im Wettbewerb. Bei Makrelen hörte die | |
Freundschaft auf. „Aber Fisch gibt es genug“, versichert der Kapitän. Die | |
Quotenregelung und deren Überwachung hätten sich „äußerst positiv“ auf … | |
Fischbestände ausgewirkt. | |
Öl- und Wirtschaftskrisen aber brachten die deutsche Hochseefischerei in | |
die roten Zahlen. In Cuxhaven wurde in den 1980ern der Rest der Flotten in | |
einer Auffanggesellschaft zusammengekehrt, für die auch Gewiese einst | |
arbeitete. Inzwischen gehört die Firma einer isländischen Holding. | |
Jahresumsatz: über 300 Millionen Euro. Dabei war es Island, das in den | |
Siebzigern die „Kabeljaukriege“ auslöste, indem es eine Zone von 200 | |
Seemeilen für ausländische Fischer sperrte. Später zogen andere Staaten | |
nach. | |
Heute residiert das Museum Windstärke 10 in zwei ehemaligen Fischpackhallen | |
des Alten Fischereihafens von Cuxhaven, der inzwischen zu einer | |
Tourismusdestination geworden ist. Vor dem Museum riecht es, etwas streng, | |
immer noch nach Fisch. | |
29 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.windstaerke10.net/sonderausstellungen/vorschau/die-letzten-wiki… | |
[2] /Psychologe-ueber-die-Sorgen-auf-See/!5821298 | |
[3] /EU-plant-Kontrollen-gegen-Ueberfischung/!5848237 | |
## AUTOREN | |
Jan Zier | |
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