# taz.de -- Die Welt aus den Fugen geraten: Der Weg aus dem Irrsinn | |
> Damit wir nach all dem rechten Wahn wieder zur Vernunft und Besonnenheit | |
> kommen, braucht es demokratische Atempausen – die richtig genutzt werden. | |
Bild: Die Wiener Straßenbahn vor dem Parlament: Kehrt mit der neuen österreic… | |
Sie ist nicht totzukriegen, unsere offene oder klammheimliche Hoffnung, | |
dass dieser anschwellende Bocksgesang einer [1][antidemokratischen Rechten] | |
inmitten von Demokratien, die recht und schlecht funktionierten, dass diese | |
„crazy right“-Manie, verschärft durch Social Media, rechte Scharlatane und | |
Scharlataninnen, vulgarisiert in der Bromance des reichsten Mannes mit dem | |
mächtigsten Mann der Welt, dass kurzum all das vergehen könne wie eine | |
Unfallverletzung, von der man sich auch wieder erholen wird. Dass man | |
wieder zurückkehren könnte zu Faktentreue, Wissenschaftlichkeit, | |
humanistischer Moral, liberaler Toleranz, rationaler Problemlösung, | |
Vielfalt und Demokratie. | |
In Robert Misiks [2][letztem Schlagloch] wurde am Beispiel der neuen | |
österreichischen Regierung eine solche mögliche Rückkehr zur Besonnenheit, | |
mit „ostentativer zentristischer Vernünftigkeit“, angedeutet; sogar Humor | |
soll eine gewisse Rolle dabei spielen. Ach, Österreich, Land des | |
überzuckerten Selbsthasses! | |
Ich erinnere mich noch gut an die [3][Berlusconi-Jahre]. Wer oder was | |
könnte gegen diesen schmierigen italienischen Rechtspopulisten etwas | |
ausrichten, der als Ministerpräsident sein Land in die mieseste | |
Fernseh-Reality-Show aller Zeiten verwandelte? Auch da war von | |
Besonnenheit, Vernünftigkeit, moralischer Autorität und eben Humor die | |
Rede. Sollte es eine gütige Vaterfigur sein, oder eine junge Frau mit | |
sozialer Verantwortung, oder ein Linkspopulist, der die Tricks of the Trade | |
kennt? Am Ende bekamen wir Matteo Salvini und Giorgia Meloni an der | |
italienischen Regierungsspitze. | |
Und war in den USA nicht der vernünftige und besonnene Joe Biden im Weißen | |
Haus genau die richtige Antwort auf einen Donald Trump? Am Ende war Trump | |
zurück, stärker als zuvor. Kein Kandidat, sondern eine Art dämonischer | |
Messias. Nach einer Umfrage würden die amerikanischen Katholiken, vor die | |
Wahl zwischen Donald Trump und dem Papst gestellt, sich mehrheitlich für | |
Trump entscheiden. Und Bruce Springsteen erklärt, dass er die Hälfte seines | |
Publikums verloren hat, weil er sich [4][gegen Donald Trump stellte]. Was | |
tun gegen jemanden – oder etwas –, das stärker ist als der Papst und Rock | |
’n’ Roll? | |
## Optimismus des Willens | |
Der Traum von einer Rückkehr zur Besonnenheit, zu Vernunft und Moral und | |
vielleicht auch zum Humor darf natürlich nicht einfach ins Klo gespült | |
werden, nur weil ein paar alte Säcke wie ich ihren Skeptizismus Gassi | |
führen müssen. Der Pessimismus der Erkenntnis, sagt Antonio Gramsci, darf | |
den Optimismus des Willens nicht beeinträchtigen. | |
Es kann ja wirklich sein, so wie in Österreich derzeit, dass die | |
demokratische Zivilgesellschaft eine Atempause bekommt. Vielleicht wäre in | |
Deutschland das Verbot der AfD die Grundlage für eine solche Atempause – | |
nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht gehen in den USA die | |
Supernarzissten Musk und Trump früher oder später doch noch aneinander | |
kaputt. Oder eine Phalanx der mutigen Männer und Frauen stellt sich ihnen | |
entgegen. Vielleicht rafft Frankreich sich auf und verhindert Marie Le Pen, | |
vielleicht wird Giorgia Meloni bei der nächsten Wahl in Italien ihr | |
trostloser Kulturgeschmack zum Verhängnis, vielleicht haben die Ungarn auch | |
einmal genug von Viktor Orbán. | |
Das wären die Atempausen der Demokratie, die so dringend benötigt werden. | |
Denn in all diesen Kulturkämpfen, in den täglichen Angriffen auf die | |
Institutionen der Zivilgesellschaft, auf Wissenschaft, Bildung und Kunst, | |
in den Kaskaden der Nachrichten von neuem Irrsinn und neuer Willkür ist es | |
ja nun wahrlich schwer, nach einem besonnenen auch noch einen großen | |
Gedanken zu fassen. | |
Aber genau das muss sein. Eine Atempause nützt nichts, wenn man sie nur zum | |
tieferen Luftholen verwendet oder zum eiligen Verbinden einiger Wunden. Man | |
kann nach Polen blicken – oder eben auch nach Österreich –, wenn man | |
verstehen will, welche Arbeit es allein macht, die ärgsten Trümmer rechter | |
Verheerungen beiseitezuräumen. Und noch schwieriger ist es, damit | |
umzugehen, dass ein einfaches Zurück zur Normalität, zurück zu Augenmaß und | |
Vernunft über die besagte Atempause nicht hinausreicht. | |
## Die Atempause nicht zum Ausruhen nutzen | |
Es gibt ja Ursachen für diesen Fieberanfall der westlichen Demokratie und | |
den Siegeszug der verrückten Rechten, die tiefer liegen als das stete Spiel | |
von Radikalisierung und Normalisierung. Etwas verändert sich fundamental | |
und so in alle Lebensbereiche hineinreichend – nicht nur die Politik, auch | |
die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Sprache, die Kultur, die Seelen. Es | |
findet unter unseren Füßen und über unseren Köpfen ein Systemwechsel statt. | |
Die [5][neue Weltordnung], die gerade entsteht oder auch schon wieder | |
zerfällt, findet nicht nur auf Landkarten und Aktienbörsen statt – sie hat | |
auch etwas damit zu tun, wie Menschen miteinander umgehen. Und damit, was | |
man mit seinem Atem anfängt. | |
So leid’s mir tut: Wenn es hier und dort tatsächlich zu Atempausen für die | |
Demokratie kommen sollte, dürfen die auf gar keinen Fall fürs Ausruhen | |
benutzt werden. Eine der vielen Ursachen für die Bewegung von so vielen | |
Menschen nach rechts war und ist ein Empfinden der Ohnmacht – gegenüber der | |
Welt, aber auch gegenüber den Informationen über sie. Auf die Frage „Was | |
geschieht da eigentlich mit uns?“ haben die demokratische Zivilgesellschaft | |
im Allgemeinen und Linksliberale im Besonderen keine Antwort gehabt. Sie | |
haben sich vor dem Pessimismus der Erkenntnis ebenso gedrückt wie vor dem | |
Optimismus des Willens. | |
Wenn es eine Atempause der Demokratie gibt, dann sollte man sie nutzen für | |
die Arbeit an einer neuen linken und demokratischen Erzählung der Welt im | |
Zustand einer großen Veränderung. Wenn ihr glaubt, es gäbe Wichtigeres zu | |
tun, dann wundert euch wenigstens nicht, wie schnell solche Atempausen | |
vorbei sein können. | |
21 May 2025 | |
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## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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