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# taz.de -- Schlaumeiern und schweigen: Hab ich recht oder hab ich recht?
> Hierzulande hat sich so etwas wie Rechthabenwollen eingebürgert – das
> vermeidet Denken. Es sollte vielmehr ein Recht auf Nichtrechthabenwollen
> geben.
Bild: Einfach mal die Klappe halten oder doch recht haben?
Ob Sie’s glauben oder nicht: Ich rede nicht gern über mich selbst.
Besonders peinlich bin ich mir, wenn ich recht habe. Das hat einerseits
damit zu tun, dass mir auch im richtigen Leben kaum jemand so auf die
Nerven geht wie Rechthaber*innen. Rechthaben ist sogar dann unsympathisch,
wenn man wirklich recht hat.
Eigentlich glaube ich nicht an so etwas wie „nationale Eigenschaften“, aber
bei der Rechthaberei bin ich mir nicht so sicher. Es gibt verschiedene
Arten, in denen sich das Rechthaben manifestieren kann. Ereignisse können
in etwa so eintreten, wie jemand sie vorhergesagt hat. Siehste!
In der Medizin gibt es den nicht unumstrittenen Satz: Wer heilt, hat recht.
Vor allem aber ist Rechthaben einfach mal eine Behauptung. Der Papa, die
Partei oder die Bibel haben „immer recht“. Vielleicht hat ja jede
Rechthaberei den Keim zu einer solchen Anmaßung in sich. Jedenfalls scheint
es eine dialektische Beziehung zwischen dem subjektiv Rechthaber und einem
idealen Gesamtrechthaber zu geben. Das Volk hat immer recht. Die
Wissenschaft hat immer recht. Die Natur hat immer recht. An irgendwas muss
man sich schließlich halten, weil man sonst nie sagen könnte: So ist es!
Andrerseits ist Rechthabenwollen die langweiligste und ärschigste
Legitimation fürs Denken überhaupt. Wenn man bloß denkt, um recht zu haben,
kann man es auch gleich sein lassen. Für jeden Gedanken, der irgendwie
öffentlich oder halböffentlich geäußert wird, gibt es mittlerweile nur noch
zwei Rechtfertigungen: das Rechthaben und das Nützlichsein. Gedanken, denen
man nicht so ohne weiteres die Stempel recht haben oder nützlich sein
verpassen oder verweigern kann, sind nichts wert.
Dabei würde, meiner bescheidenen Meinung nach, Kultur erst damit beginnen,
dass man auch denken kann, ohne dass einem das Rechthaben und das
Nützlichsein im Nacken sitzt. Ich fordere das Recht auf ein glückliches und
aktives Nichtrechthabenwollen! Und ein kritisches Denken, das nicht als
mechanische Problemlösunganleitung dienen muss.
Aber wohin mit der eigenen Rechthaberphobie? Schließlich ist ein nebliger
Wischiwaschi-Liberalismus oder gar purer Opportunismus ([1][recht hat, wer
die Macht hat,] recht hat, was mir nutzt, recht hat, wer wiederum mir recht
gibt) genau so eklig, und der pure Differentialismus („Es ist kompliziert“)
hilft auch nicht immer weiter. Zwischen meinem Denken und den
Herausforderungen der Welt muss es also eine andere Beziehung geben.
Man kann das eine „Haltung“ nennen. Sie drückt aus, was man, diesseits des
Rechthabens, von der Welt verlangt: Gerechtigkeit, Frieden, Respekt,
Freiheit. Und man kann einer solchen Haltung auch einen Namen geben:
humanistisch, demokratisch, pazifistisch, sozialistisch, feministisch (oder
andersherum nationalistisch, patriarchalisch, völkisch, autoritär …). Der
Stoff, aus dem im Zweifelsfall wieder Ideologien werden (Ideologie ist der
Faschismus des Rechthabens).
Im besten Fall aber ist es ein reflektiertes, transparentes und geteiltes
Wissen um die Notwendigkeit, der Welt nicht nur Nutzen und Macht, sondern
auch Werte und Ziele abzuverlangen. Einschließlich des Wissens, dass Werte
und Ziele weder totale noch ewige Gültigkeit verlangen dürfen. Das
Rechthaben zerfällt in zwei Aspekte: in die inhaltliche (sachlich richtig
bzw. hegemonial zustimmungsfähig) und in die formale (das Recht bzw. die
Macht, zu sprechen).
Oft haben [2][Menschen recht, die von den Umständen her gar kein Recht
haben, überhaupt etwas zu sagen.] Andere haben die Macht, dass man ihnen
recht gibt, auch wenn sie den größten Blödsinn erzählen. Wenn einem also
das Rechthaben unangenehm ist, dann hat das wahrscheinlich auch etwas mit
Machtspielen zu tun. Mit einer Haltung zu versuchen, etwas (vorläufig)
Richtiges zu denken, ist dagegen nur möglich, wenn es in einem offenen
Diskursraum geschieht.
Viel wichtiger als das Rechthaben in der Hoffnung auf richtiges Denken ist
daher die Anregung. Wenn man nicht recht haben will, setzt man vielleicht
Gedanken und Dialoge in Bewegung, macht Denken und Sprechen transparent,
lädt zu demokratischer Teilhabe ein.
Der Rechthaber ist ein Kommunikationstyrann, aber eben auch ein Ausbeuter.
Er verkauft den Menschen [3][ihre Angst vor der Freiheit]. Er nimmt,
schlimmer noch, den Menschen die Lust am Denken.
Dabei weiß natürlich kein Schwein, was Denken überhaupt ist. Wenn wir es
Arbeit nennen, dann sollte man nicht vergessen, gegen den Puritanismus zu
rebellieren, der daraus nur Zwang und Pflicht macht. Denken, was auch immer
das im Einzelnen ist, wäre im Idealfall vor allem ein lustvoller Vorgang.
## Die Lust am Denken verloren
Das Problem unserer Kultur scheint mir: Man hat die Lust am Denken
verloren. Was natürlich kein Wunder ist. Wenn man von Krieg,
Klimakatastrophe, Neofaschismus und Hyperkapitalismus umgeben ist, kann
einem die Lust am Denken schon mal vergehen. Aber vielleicht ist es ja auch
umgekehrt: Eine Menge unserer Probleme kommen daher, dass den Leuten, die
vor lauter Angst in Rechthaberei und Nützlichkeit oder in Wischiwaschi und
Opportunismus geflüchtet sind, die Lust am Denken vergangen ist.
In den meisten der großen Konflikte, in denen wir uns bewegen müssen, gibt
es gewiss Schuldige, die man benennen kann, es gibt Opfer, auf deren Seite
man sich stellen muss, und es gibt Ursachen und Bedingungen, die es zu
analysieren gilt. Aber all das führt nicht zu einem Recht auf die Reduktion
des Denkens aufs Rechthaben.
Denken mag vielleicht unter den aktuellen Umständen nicht mehr so viel Spaß
machen, wie es in den privilegierten Zeiten vordem versprach, es muss sich
vielmehr in manchmal erschreckenden Widersprüchen einrichten, in
Zwickmühlen von Vernunft und Moral, in Gegensätzen zwischen dem, was
notwendig und was erhofft ist. Freies, offenes und demokratisches Denken
ist unter den Bedingungen des Kulturkampfs Schwerstarbeit. Aber es lohnt
sich. Hab ich nicht recht?
2 Jul 2025
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## AUTOREN
Georg Seeßlen
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