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# taz.de -- Kunst im Haus der Wannsee–Konferenz: Der Klang der Gleichzeitigke…
> Im Haus der Wannsee-Konferenz legen die Künstler:innen Yael Reuveny,
> Barbara Morgenstern und Clemens Walter mit poetischen Sounds Geschichte
> frei.
Bild: Geschichte freilegen durch akustische Schichtung: Das Publikum lauscht be…
Eiskalt ist es an diesem Maisonntag, als ich durch das eiserne Eingangstor
trete und über den knirschenden Kiesweg auf das [1][„Haus der
Wannsee-Konferenz“] zugehe. Ein starker Wind tost um die hohen, dünnen
Stämme der Kiefern und versetzt ihre schweren Kronen in rauschendes
Wirbeln. Inmitten der aufgewühlten Natur liegt gedrungen und etwas
abweisend die im Ersten Weltkrieg erbaute klassizistische Villa.
Ganz sicher wird der frostige Eindruck verstärkt durch das Wissen, dass
hier im Januar 1942 die Vernichtung der Juden Europas geplant wurde. Die
verheerenden Folgen des Treffens unter Leitung von SS-Obergruppenführer
Reinhard Heydrich sind bekannt: sechs Millionen ermordete Menschen,
unzählige Entwurzelte, über mehrere Generationen Traumatisierte.
Um die Erinnerung an dieses Verbrechen zu halten und der Gefahr ihrer
Musealisierung entgegenzuwirken, setzt Direktorin Deborah Hartmann nun auf
neue Formen des Gedenkens: Sie erweiterte das wissenschaftliche Angebot des
Dokumentationszentrums um ein künstlerisches.
## „Wulf, die Zicklein und der vergessene Garten“
Also suche ich vor der strengen Architektur des Gebäudes die Soundarbeit
[2][der Künstlerin Yael Reuveny], „Wulf, die Zicklein und der vergessene
Garten“, als plötzlich etwas unerwartet Zartes zu mir herüberweht:
fragmentierte Töne, ein aufblitzendes Meckern, Gluckern, das Lachen von
Kinderstimmen. Kurz, spitz, hell. Noch während sie erklingen, sind sie
schon wieder verschwunden. Was in der Stille zurückbleibt, sind das
Rauschen der Bäume und der schrille Ruf eines Wasservogels.
All das geschieht so schnell, dass ich schon denke, ich hätte mich
getäuscht. Und doch folge ich der Spur des verstummten Tons, links an der
Villa vorbei, wo nun der Blick auf den schimmernden Wannsee frei fällt.
Gedämpft dringen auch von dort Geräusche: Wellenklatschen, Segelknattern,
Rufe auf den Booten.
All das scheint Teil der Klangintervention zu sein, deren geisterhaft leise
Kinderstimmen nun wieder aus einer schmalen, dichten Kastanienallee
dringen: „Dann guck doch einfach nicht hin“, „Pst!“, sirenenartiges Sin…
Flüstern, Schluchzen. An den Baumstämmen der Allee sind auf halber Höhe 8
Lautsprecher befestigt wie Vogelnistkästen. Vor einem hat sich ein kleiner
Junge aufgebaut und ruft erwartungsvoll nach oben: „Hello? Hello?!!“
Tatsächlich beginnt in diesem Moment eine Männerstimme zu singen. Mit
festem Ton trägt sie die melancholische Melodie eines jiddischen Lieds vor.
„Hey Tsigelech“ (Hey Zicklein) erzählt die Geschichte eines verzauberten
Hirten, der aus Sehnsucht nach dem Mädchen, das ihn umgarnte seine
Lebensfreude verliert, die Herde vernachlässigt und sich in einem See
ertränkt.
## In der Installation vereinen sich die Vergangenheiten zur
Gleichzeitigkeit
Die Kinder bilden ein Echo der Männerstimme und wiederholen chorisch
einzelne jiddische Worte. Über die kurze Dauer der Soundarbeit entsteht der
Eindruck, als würden sie ihrerseits verzaubert von der Männerstimme. Nach
dem Ende des jiddischen Lieds singen die Kinder auf Deutsch den Text einer
Werbebroschüre aus dem Jahr 1952, die es Neuköllner Eltern versprach, ihrem
„in der Festung West-Berlin eingeschlossenen“ Nachwuchs das Erleben von
„blauem Himmel, Wasser, Wind und Wellen“ zu ermöglichen, „auch wenn das
Schicksal uns seit vielen Jahren davon abschließt“.
So klug Yael Reuveny in Zusammenarbeit mit Clemens Walter und Barbara
Morgenstern ihr Werk in die Zufallsgeräusche der Natur eingebettet und
damit räumlich erweitert, so überzeugend hat sie die Fähigkeit des
Akustischen erkannt, Vergangenes und Gegenwärtiges auf eine Zeitschiene zu
legen.
[3][Denn die Männerstimme ist eine Archivaufnahme von Joseph Wulf,
Historiker und Auschwitzüberlebender], der sich energisch aber vergeblich
für die Einrichtung einer Gedenkstätte an diesem Ort einsetzte. Die
einstige Stadtregierung entschied sich stattdessen, Gebäude und Garten bis
1988 als Schullandheim zu nutzen.
Dass Wulf nun 51 Jahre nach seinem Suizid musikalisch ins Gespräch mit
Berliner Kindern kommt und ihnen verschlüsselt eine Geschichte erzählt, die
ihre Eltern ihnen vielleicht verschwiegen haben, ist intendierter Subtext
der Soundarbeit, die ansonsten keine „Story“ erzählt. Vielmehr setzt sie
auf die Wirkung von reinem Klang und Rhythmus, auf die Emotionalität der
Stimmen und das Drama ihrer Vergänglichkeit, die trotz ihrer Fragilität in
mir, der Ohrenzeugin nachwirkt.
Gerade das Bruchstückhafte und Unabgeschlossene dieser Arbeit behauptet
sich angemessen gegen die Ungeheuerlichkeit der
Nazi-Vernichtungsmaschinerie, an die Verbrechen im Gebäude nebenan. Joseph
Wulf behält so das letzte Wort. Stellvertretend für Millionen.
12 May 2025
## LINKS
[1] /Tagung-im-Haus-der-Wannsee-Konferenz/!6060045
[2] /Juedisches-Filmfestival-zum-27-Mal/!5789257
[3] /Gedenken-an-Historiker-Joseph-Wulf/!6039735
## AUTOREN
Gaby Hartel
## TAGS
Klangkunst
8. Mai 1945
Holocaust
Gedenkort
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Kunst Berlin
Wannsee
Garten
Postkolonialismus
Margot Friedländer
Widerstand
Schwerpunkt Tag der Befreiung
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