# taz.de -- Wohnraumkrise in Deutschland: Enger wohnen | |
> In den Großstädten sind viele Wohnungen überbelegt. Auch die Familie von | |
> Jenny und Dustin Wrembel lebt auf wenig Raum. Doch sie weiß sich zu | |
> helfen. | |
Bild: Ein gemeinsames Essen mit der Familie? Bei Jenny (l.) und Dustin Wrembel … | |
Dustin Wrembel öffnet die Wohnungstür. „Hi“, sagt er und schüttelt Alex | |
Pavicic die Hand. Er bittet den Tischler hinein. Von links ragt ein bunter | |
Wust aus Jacken in den kleinen Flur, an der gegenüberliegenden Wand steht | |
ein Schuhschrank im Skandi-Design, an dem Einkaufsbeutel und ein winziger | |
Fuchs-Rucksack hängen. | |
Dustin und seine Partnerin Jenny Wrembel rücken noch mal dichter zusammen, | |
damit auch Alex Pavicic in den Flur passt. Sie sind mit ihm verabredet, | |
weil er Maß nehmen will für zwei Hochbetten, die in ihre Mietwohnung | |
eingebaut werden sollen. Denn spätestens seit der Geburt ihres zweiten | |
Kindes haben die Wrembels ein Problem: [1][Sie leiden unter Platzmangel]. | |
In den vergangenen Jahren hat sich die Wohnsituation für viele Familien in | |
den deutschen Großstädten dramatisch verschlechtert. Laut dem Statistischen | |
Bundesamt lebten 2023 rund 17 Prozent der Stadtbewohner*innen in einer | |
zu kleinen Wohnung, das entspricht in etwa jede*m sechsten. | |
Besonders unter Wohnraummangel leiden der Erhebung zufolge armutsgefährdete | |
Personen, Alleinerziehende und Menschen mit ausländischem Pass – zunehmend | |
aber auch Familien aus der Mittelschicht, wie der Deutsche Mieterbund, das | |
Verbändebündnis Wohnungsbau und die Diakonie Deutschland sagen. | |
Dass auch sie einmal davon betroffen sein würden, hätten die Wrembels nie | |
gedacht. Immerhin arbeitet Jenny Wrembel, 34, als Gesundheits- und | |
Krankenpflegerin in einem großen Krankenhaus und Dustin Wrembel, 37, als | |
Erzieher in einer Kita. | |
Beides relativ krisensichere Jobs, die ihnen ein regelmäßiges Einkommen | |
sichern. Doch selbst das ist in einer Stadt wie Berlin schon lange keine | |
Garantie mehr, eine angemessene Wohnung zu finden – oder gar noch mal | |
umzuziehen. | |
In ihrem Wohnzimmer erzählen die Wrembels ihre Wohnbiografie, die den | |
Erfahrungen vieler Millennials ähneln dürfte. Jenny Wrembel, eine Frau mit | |
jugendlichem Gesicht und braunem Pferdeschwanz, kommt ursprünglich aus der | |
Kleinstadt Erkner in Brandenburg; Dustin Wrembel, ein Mann mit abrasierten | |
Schläfen und einem kleinen blonden Zopf am Hinterkopf, ist in den | |
Achtzigern im selben Stadtteil aufgewachsen, in dem sie heute wieder wohnen | |
– [2][im ehemaligen Arbeiterbezirk Berlin-Wedding]. „Ich bin so ein | |
richtiges Ghettokind“, sagt er. | |
Die Kindheit verbrachte er in einer geräumigen Altbauwohnung, an die er | |
wehmütig zurückdenkt. „Ich hatte ein Kinderzimmer, das war größer als uns… | |
jetziges Wohnzimmer, bei einer Miete, die nur etwa halb so hoch war wie | |
unsere Miete heute.“ Dieser Teil des Wedding sei jedoch unbezahlbar für | |
Leute wie sie geworden. „Wir werden zunehmend an den Rand gedrängt.“ | |
Kennengelernt haben sie sich im Fitnessstudio. Er ging dort fünf Mal die | |
Woche trainieren, sie ab und zu. Die beiden verliebten sich, er zog bei ihr | |
ein: in ihr kleines Einzimmerapartment nahe S-Bahnhof Wedding. Eine schöne, | |
aber anstrengende Zeit folgte: Denn nun musste Jenny Wrembel, die damals | |
schon im Schichtdienst arbeitete, nicht nur mit dem Gepiepe ihrer | |
Wellensittiche klarkommen, sondern auch mit seinem Gedaddel, weshalb sie | |
ihn zum Computerspielen in die Küche komplimentierte. | |
## 1930er-Jahre-Mietskaserne | |
Sie hätten schnell realisiert, dass das auf Dauer nicht die Lösung sein | |
konnte, zu zweit auf engstem Raum. Aber Umziehen war auch 2017 schon | |
schwierig. Für ihre jetzige Wohnung habe es etliche Mitbewerber*innen | |
gegeben, sagen die Wrembels. | |
Unverhofft bekamen dann aber ausgerechnet sie die Zusage für die | |
65-Quadratmeter-Wohnung mit zweieinhalb Zimmern, Küche, Bad und einer | |
kleinen Loggia, in der seither ihre mittlerweile zehn Jahre alten | |
Wellensittiche, „die Rentner“, leben. | |
Wenn die Wrembels aus dem Küchenfenster blicken, sehen sie auf dürre Birken | |
und parkende Kleinwagen, wenn sie hintenraus blicken, auf einen Innenhof | |
mit dem Charme eines Nullachtfuffzehn-Bolzplatzes. Trotzdem freuten sie | |
sich, als sie vor rund sieben Jahren in den ersten Stock der | |
1930er-Jahre-Mietskaserne im Afrikanischen Viertel ziehen konnten. | |
Okay, die herumlungernden Menschen vor dem nächstgelegenen Späti bereiteten | |
ihnen etwas Unbehagen, dafür lag das neue Zuhause genau zwischen ihren | |
beiden Arbeitsstätten und bot ihnen genügend Raum für ihre Vorstellung von | |
einem guten Leben. Ein Zimmer bauten sie zum Fitnessraum aus, das andere | |
nutzten sie zum Fernsehen, Zocken und Freund*innen-Empfangen, das | |
Schlafzimmer legten sie in die 10 Quadratmeter kleine Kammer. | |
Doch dann kam das erste Kind, und sie mussten näher zusammenrücken, drei | |
Jahre später kam das zweite – und es wurde eng. Zuerst flog das | |
Sportequipment raus, dann wanderten seine Lego- und ihre | |
Britney-Spears-Sammlung in den Keller. | |
Die beiden zogen aus der kleinen Kammer, die sie zum Wickel- und Spieleraum | |
umfunktionierten, in eines der beiden größeren Zimmer – und wieder zurück, | |
wo sie momentan auf einer Matratze am Boden schlafen. Den großen Raum | |
gleich gegenüber haben sie ihrer vierjährigen Tochter und dem einjährigen | |
Sohn überlassen – unverkennbar das Kinderzimmer mit jeder Menge Spielzeug | |
und einem Wandtattoo in verschnörkelter Schrift. | |
„Aber jetzt ist der Kleine in so einem Alter, wo er der Großen immer alles | |
kaputt macht“, sagt Jenny Wrembel. Ihre Tochter bastele etwas, und der | |
kleine Bruder schneide rein, sie male ein Bild und er male drüber. | |
Der Tischler Alex Pavicic steht nun mit einem Lasermessgerät in der kleinen | |
Kammer und misst sie aus. Er ist Mitgeschäftsführer von „Hardys | |
Hochbetten“. Die kleine Tischlerei gibt es seit etwa 50 Jahren in Berlin, | |
und sie hat fast schon Kultstatus. | |
Kaum eine Kreuzberger WG kam im damals noch geteilten Berlin ohne eines von | |
Hardys Hochbetten aus. Heute reicht das Angebot von einfachen | |
Holzkonstruktionen bis hin zu aufwendigen Spezialbauten, die so wirken, als | |
würden sie schweben. Bei rund 2.500 Euro pro Hochbett fange es an, nach | |
oben hin sei die Grenze offen. | |
„Deshalb werden wir auch meistens von Familien beauftragt, die mit ihrem | |
Budget zwar keine neue Wohnung finden, die aber zumindest ein wenig | |
finanziellen Spielraum haben“, sagt der Tischler, der als Praktikant im | |
Betrieb anfing, Gefallen an der Arbeit fand und blieb. Und die Geschäfte | |
liefen gut, erzählt er. Aufträge würden sie aus fast allen Stadtteilen | |
Berlins erreichen. Für ein Hochbett nähmen die Familien oft mehrere Monate | |
Wartezeit in Kauf. | |
„Für mich ist Berlin die Stadt der Hochbetten“, sagt Pavicic – und man w… | |
es ihm gerne glauben. Es strömen ja pausenlos neue Menschen hierher, die | |
der geistigen Enge ihrer Heimat entfliehen, sich nun aber mit den | |
begrenzten Platzverhältnissen einer Metropole herumschlagen müssen. | |
Da ist es natürlich von Vorteil, dass die Deckenhöhe vieler Berliner | |
Altbauten oft zwischen drei und vier Metern beträgt und man so ohne viele | |
Abstriche ein Hochbett einbauen kann – oder gleich eine zweite Ebene. Doch | |
daneben gibt es hier auch viele Gebäude, bei denen das schon etwas | |
kniffliger ist. | |
„Unsere Gegner sind meistens nicht die Wände, sondern die niedrigen | |
Decken“, sagt Pavicic. Es gebe Neubauten, bei denen man höchstens ein | |
Stockbett für Kinder einbauen könne oder ein Podestbett, was den Vorteil | |
habe, dass es unter der Liegefläche Stauraum gibt. | |
Die Wrembels haben sich für zwei Hochbetten aus Kiefernholz entschieden. | |
Eines der beiden Betten soll in die Kammer gebaut werden, die künftig das | |
Zimmer der Tochter sein wird, und eines ins Wohnzimmer, wo dann über Sofa, | |
Couchtisch und PC-Arbeitsplätzen Jenny und Dustin Wrembel schlafen werden. | |
Die Deckenhöhe in ihrer Wohnung ist mit 2,80 Metern für den Einbau | |
allerdings ein Grenzfall. Wenn man das Kinderhochbett über die Kammertür | |
bauen wollte, müsste man den Eingang baulich verändern, sagt Pavicic, aber | |
ein solcher Eingriff fällt in einer Mietwohnung eher flach. Der Einbau | |
eines Hochbettes ist laut Rechtsprechung nur so lange genehmigungsfrei, wie | |
man dabei keine Eingriffe in die Bausubstanz vornimmt. | |
Es wird also ein Hochbett seitlich an der Wand. Nun macht sich der Vater | |
aber Sorgen, ob die Leiter zu nah am Fenster stehen und die Tochter von | |
dort aus aufs Fensterbrett klettern und hinausfallen könnte, aber Alex | |
Pavicic beruhigt ihn. „Die Leiter geht nur bis hierher“, sagt er und zeigt | |
auf ein Stückchen Wand. | |
„Und wie hoch soll das Geländer werden?“, fragt er. Jenny und Dustin | |
Wrembel überlegen. „Ich sag immer: Alles über 80 Zentimeter sind | |
Helikoptereltern“, sagt Pavicic, und die Wrembels lachen. Ob sich in ihr | |
Lachen wohl auch etwas Galgenhumor gemischt hat? Verstehen würde man es. | |
Denn der Einbau geschieht ja nicht, weil die Wrembels so gerne in luftiger | |
Höhe schlafen, sondern weil auf dem Boden so wenig Platz ist. | |
Die aktuelle Wohnungsnot in den Großstädten sei kein gänzlich neues | |
Phänomen, sagt Saskia Gränitz. Gränitz ist Soziologin und hat sich auf das | |
Thema Wohnungskrise spezialisiert. „Heute sind wir wieder mit ganz | |
ähnlichen Problemen konfrontiert wie zu Zeiten der Industrialisierung“, | |
sagt sie. | |
Nach einer Hochphase des Wohnens, die eng mit dem Ausbau des Sozialstaats | |
in der Nachkriegszeit zusammenhing, sei es im Prinzip ab der Ölkrise in den | |
1970er Jahren bergab gegangen. „Natürlich sind die Zustände heute nicht so | |
desolat wie in einer Mietskaserne um die Jahrhundertwende“, sagt sie. „Aber | |
auch heute leben die Menschen wieder in überbelegten Wohnungen, | |
ungesicherten Mietverhältnissen und gesundheitsgefährdenden Umgebungen mit | |
undichten Fenstern und Schimmel an der Wand.“ | |
## „Zwischenmietehopping“ in München | |
Saskia Gränitz sprach für ihre empirische Studie nicht etwa mit armen oder | |
mittellosen Menschen, ihre Begründung ist alarmierend: „Für diese Gruppe | |
gibt es faktisch sowieso keine Angebote mehr auf dem freien Mietmarkt.“ | |
Gränitz schaute sich die Lage von Durchschnittsverdienenden an, für die die | |
Erfahrung der Wohnungsnot biografisch neu und damit oft gar nicht so leicht | |
als solche zu beschreiben war. | |
„Da gab es beispielsweise einen jungen Mann, der kam übergangsweise immer | |
wieder im Büroraum eines Freundes unter, wenn seine Zwischenmiete mal | |
wieder auslief“, berichtet sie. Der sei, erzählte er 2017, fünf Jahre auf | |
„Zwischenmietehopping“ gewesen, dabei habe er damals 1.400 Euro netto | |
verdient. „Allerdings in einem Start-up ohne festen Arbeitsvertrag, und das | |
hat dann dazu geführt, dass er einfach keinen Fuß in den Münchner | |
Wohnungsmarkt bekommen hat.“ Als jemand, der in prekären Zuständen lebt, | |
habe er sich aber trotzdem nicht wahrgenommen. | |
Anders Familie Wrembel. „Mittelstand sind wir schon lange nicht mehr“, sagt | |
Dustin Wrembel. „Bloß systemrelevant“, ergänzt seine Partnerin Jenny. | |
Während der Coronapandemie habe man ihren Berufsgruppen noch applaudiert, | |
doch davon könne man sich leider nichts kaufen. Dustin Wrembel zählt auf: | |
Die Mieten steigen, die Preise für die Lebensmittel auch. „Da müssen wir | |
uns jetzt schon um einiges stärker einschränken als früher.“ Und damit wird | |
ein Umzug natürlich noch mal unwahrscheinlicher. | |
Er habe gehört, sagt der Erzieher Dustin Wrembel, dass sich Kitas in | |
manchen Gegenden Berlins vor Anfragen kaum retten könnten, während Kitas in | |
anderen Kiezen die Schließung drohe. Und so hat das, was anderswo längst | |
Normalität ist, auch die Hauptstadt erreicht: hier ein Stadtteil mit jungen | |
Reichen, dort einer mit vermögenden Greisen – und in den engen | |
Zwischenräumen stapeln sich die Familien bis zur Decke. 2023 etwa galt jede | |
sechste Stadtwohnung als überbelegt, 2012 war es hingegen nicht mal jede | |
zehnte, wie das Portal Immoscout 24 vermeldete. | |
Für seine Berechnung berief es sich auf eine Definition der | |
EU-Silc-Erhebung zu den Lebensbedingungen in der Europäischen Union. | |
Demnach liegt eine Überbelegung unter anderem dann vor, wenn es in einer | |
Wohnung keinen separaten Gemeinschaftsraum gibt, kein eigenes Schlafzimmer | |
pro Paar oder bei Teenagern unterschiedlichen Geschlechts. | |
Doch warum ist die aktuelle Lage auf dem Mietmarkt derart desolat? | |
Ein Anruf bei Theresa Keilhacker. Als Präsidentin der Berliner | |
Architektenkammer verfügt sie über einen guten Überblick. Keilhacker nennt | |
eine weitere Krise als Katalysator für das Problem: „Spätestens seit der | |
Finanzkrise 2008 erhöhte sich sukzessive der Druck auf den Wohnungsmarkt.“ | |
Berlin habe landeseigene Bestände an große Investoren verkauft, die oft | |
wenig in die Gebäude investierten. | |
Manche Immobilien würden leer gezogen, um sie luxuriös zu sanieren und | |
gewinnbringend weiterzuverkaufen. Gleichzeitig seien viele soziale | |
Bindungen ausgelaufen. Sprich: Ehemalige Sozialwohnungen wurden Teil des | |
freien Marktes. | |
Zur Kompensation sollten die Berliner Wohnungsbaugesellschaften in den | |
vergangenen Jahren wieder vermehrt neu bauen: „Um auf die politisch | |
festgelegten Stückzahlen zu kommen, bauten sie viele Mikroapartments“, sagt | |
Theresa Keilhacker – also Single-Wohnungen. Oder aber nicht bezahlbare | |
Familienwohnungen. Hinzu komme der Trend privater Immobilienbesitzer*innen, | |
Wohnungen möbliert anzubieten, um die Mietpreisbremse zu umgehen. Und der | |
Personalmangel bei den Bezirken erschwere, effektiv gegen illegale | |
Ferienwohnungen und Leerstand vorzugehen. | |
Wenn man es so nimmt, ist auch Familie Wrembel Teil der | |
Gentrifizierungswelle, die rollt und rollt. Das Mehrfamilienhaus, in dem | |
sie heute leben, gehöre einer Schweizer Immobilienfirma, erzählen sie. Bei | |
der Besichtigung habe man ihnen damals mitgeteilt, dass die alten, | |
einkommensschwachen Mieter*innen peu à peu gegen neue Besserverdienende | |
ausgetauscht werden sollen. Mit anderen Worten: gegen Leute wie sie. | |
Mit der Begründung, dass ihre Wohnung hochwertig renoviert worden sei, sei | |
die Miete beim Einzug von 720 Euro auf 890 Euro erhöht worden. „Dabei | |
gehört das, was die hier gemacht haben, zum absoluten Standard“, sagen sie. | |
Also ließen sie sich vom Berliner Mieterverein beraten und wehrten sich | |
erfolgreich vor Gericht. [3][Mit Berufung auf die Mietpreisbremse] konnten | |
sie die überteuerte Miete herunterklagen und bekamen das zu viel bezahlte | |
Geld zurück. | |
## „Aufrecht oben sitzen können wirst du nicht.“ | |
Ein kleiner Erfolg, der sie aber nur spärlich darüber hinwegtröstet, dass | |
sie immer noch hier in dieser viel zu eng gewordenen Wohnung leben. Denn | |
wenn es nach Jenny und Dustin Wrembel ginge, wären sie schon längst | |
umgezogen, in ein geräumigeres Zuhause, das in einer besseren Gegend liegt. | |
„Doch heute werden bezahlbare Wohnungen nur noch mit WBS vermietet“, sagt | |
Dustin Wrembel und meint damit den Wohnungsberechtigungsschein, mit dem | |
Geringverdienende in eine staatlich geförderte Sozialwohnung ziehen können. | |
Nach der kleinen Kammer misst Tischler Alex Pavicic nun das Wohnzimmer aus, | |
das künftig auch das Schlafzimmer von Jenny und Dustin Wrembel sein wird. | |
Das Hochbett, das hier hineingebaut werden soll, ist schon etwas | |
komplizierter. Denn zum normalen Schlafbereich soll es eine Ablagefläche | |
über der Tür geben und eine Kindersicherung für die Leiter. „Wie groß bist | |
du?“, fragt Alex Pavicic seinen Auftraggeber. „Ein Meter zweiundachtzig“, | |
antwortet Dustin Wrembel. „Dann wirst du gerade so drunter stehen können“, | |
sagt der Tischler, „aber aufrecht oben sitzen können wirst du nicht.“ | |
Bevor sie auf die Idee mit den Hochbetten kamen, hätten sie vieles | |
ausprobiert, erzählen die Wrembels – etwa die Suche nach einer größeren, | |
bezahlbaren Wohnung in Berlin oder in Jenny Wrembels ehemaliger Heimat | |
Erkner. Aber dort seien mit dem Bau von Tesla – Elon Musks Unternehmen ist | |
gleich nebenan angesiedelt – die Preise in die Höhe geschossen. Während der | |
Pandemie wuchs dann der Wunsch nach etwas Eigenem. | |
„Ich hatte immer diesen Traum von einem Häuschen im Grünen, wo ein kleines | |
Stück Garten dabei ist“, sagt Jenny Wrembel, die in ihrer Kindheit oft bei | |
den Großeltern war, die Tiere hatten und viel Platz. So ein Leben hätte sie | |
gerne auch ihrer Familie ermöglicht. „Denn man bekommt ja schon manchmal | |
ein schlechtes Gewissen mit zwei Kindern in der Großstadt.“ | |
Weil Berlin und Brandenburg zu teuer waren, suchten die Wrembels in | |
Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen. Sie standen mit der Stadt | |
Cuxhaven in Kontakt und mit der Sparkasse, sie bekamen Angebote und Infos | |
zu Bauprojekten, die jedoch immer wieder scheiterten. Dann stiegen während | |
der Pandemie plötzlich die Preise: Grundstücke, die zuvor noch | |
erschwinglich waren, lagen plötzlich bei einer halben Million aufwärts, | |
erzählen sie. Auch die Baupreise explodierten – also wurde aus dem | |
Eigenheim nichts. | |
„Kommt doch nach Sachsen-Anhalt“, hätte eine Bekannte vorgeschlagen, | |
erzählen sie. Dort seien die Häuser ja bis heute oft relativ günstig, aber | |
dann eben meistens auch sanierungsbedürftig und so weit abgelegen, dass man | |
einen Führerschein bräuchte, den Jenny Wrembel nicht hat. | |
Aber selbst mit Auto wolle man ja nicht ständig unterwegs sein, sagen die | |
Wrembels: „Das geht ja alles von deiner Freizeit ab.“ Jetzt brauche er zwei | |
Minuten mit dem Auto zur Arbeit und sie fünf Minuten mit dem Bus. Ihnen sei | |
eine gute Work-Life-Balance wichtiger als ein Haus um jeden Preis. | |
Laut der Hamburger Wohnpsychologin Antje Flade sind das genau die | |
Abwägungsprozesse, die sie immer wieder beobachtet hat. Dabei wenig | |
überraschend: Auch aus psychologischer Sicht ist die eigene Wohnung einer | |
der wichtigsten Faktoren in puncto Lebensqualität. Oder, wie Antje Flade es | |
ausdrückt: „Sich wohl fühlen ist ein Grundverlangen des Menschen, und das | |
hängt ganz entscheidend von der eigenen Wohnumwelt ab.“ | |
## Bauhaus für das Existenzminimum | |
Aber wie muss die aussehen, damit man zufrieden ist? | |
Für ihre Antwort holt Antje Flade ein wenig aus. In den 1920er Jahren hätte | |
das Bauhaus ein interessantes Modell namens „Wohnung für das | |
Existenzminimum“ entwickelt, erzählt sie. Demnach sei eine Möglichkeit zum | |
Kochen, Waschen und Schlafen unerlässlich. | |
Für das Schlafzimmer setzten die Architekten eine Größe von sechs | |
Quadratmetern an, Klaustrophobie inklusive. Zu einem ähnlichen niedrigen | |
Ergebnis kommt das Berliner Wohnungsaufsichtsgesetz, das eine | |
Mindestwohnfläche von 9 Quadratmetern pro erwachsener Person und eine | |
Mindestwohnfläche von 6 Quadratmetern für Kinder bis sechs Jahre vorsieht. | |
Wohnen sei jedoch mehr als bloße Existenzerhaltung, sagt die Psychologin. | |
Wer auf lange Sicht gesund und glücklich bleiben wolle, brauche ein | |
Zuhause, das nach den eigenen Vorstellungen gestaltet werden kann. Im Falle | |
der Wrembels hebt sie positiv hervor, dass diese Entscheidungsmöglichkeiten | |
haben: „Ich denke, solange die Leute noch Ideen haben und diese auch | |
umsetzen können, ist es ungeheuer gut.“ | |
Laut Antje Flade gibt es aber auch Grenzen, die bei Familie Wrembel zwar | |
noch nicht erreicht, aber zumindest angekratzt sind. Denn kritisch werde es | |
immer dann, wenn es zu wenige Räume gibt, um sich auch mal zurückzuziehen, | |
und diese Räume darüber hinaus auch noch zu klein sind, um gemeinsam Zeit | |
zu verbringen. | |
## Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern | |
„Wenn ich meine Ruhe haben möchte, gehe ich in die Küche“, sagt Jenny | |
Wrembel halb im Scherz. Auch heute, beim zweiten Termin, wo endlich das | |
Hochbett für sie und Dustin Wrembel gebaut wird, hat sich das Paar wieder | |
Urlaub genommen. Aus dem Wohnzimmer gleich nebenan sind Sägearbeiten zu | |
hören, im Topf auf dem Herd köcheln die Kartoffeln. Die Kinder sind bei den | |
Großeltern, Jenny Wrembel paniert Schnitzel, Dustin Wrembel bereitet | |
Gurkensalat zu. | |
Die Küche, in der sie stehen, ist bloß ein schmaler Schlauch. Jeder | |
Zentimeter ist vollgestellt mit Kochutensilien, Flaschen und Erinnerungen, | |
freien Platz gibt es kaum. Jenny Wrembel erzählt, dass sie sich ihre | |
„Ruheinseln“ beim Playstationspielen oder mit dem Lesen von Produkttests | |
verschaffe, während Dustin Wrembel in das Computerspiel „God of War“ | |
abtauche, wo er als mythologischer Krieger allerhand Abenteuer bestehen | |
muss. „Und der kann sich gut absenken“, sagt Jenny Wrembel. „Das würde i… | |
auch gerne können.“ | |
Und wie sieht es mit Besuchen aus? | |
Seine Eltern hätten damals noch riesige Partys veranstaltet und da hätten | |
alle einen Sitzplatz gehabt, erzählt Dustin Wrembel. Wenn sie Leute zu sich | |
einladen, müssten die sich auf verschiedene Zimmer aufteilen. „Bei den | |
Babypartys war es richtig katastrophal, da haben wir manche Leute sogar | |
erst zwei Stunden später eingeladen, damit es einen fliegenden Wechsel | |
gab.“ | |
Doch was sie am meisten störe, sei die Sache mit dem gemeinsamen Abendbrot. | |
„Das geht momentan leider nicht wirklich“, sagt Jenny Wrembel. In der Küche | |
ist nämlich nur Platz für drei Stühle, also esse sie meistens mit den | |
beiden Kindern am Tisch und Dustin Wrembel im Wohnzimmer – außer er geselle | |
sich halb stehend auf einem Hocker dazu. | |
Während „familiengerechtes Wohnen“ bis in die 1990er Jahre hinein | |
gesellschaftlich und politisch noch eine wichtige Rolle gespielt habe, | |
werde man den Bedürfnissen der Familien heute nicht mehr gerecht – und das | |
könne auf lange Sicht psychisch und körperlich krank machen, sagt | |
Psychologin Antje Flade. | |
Überstimulation und Bewegungsmangel würden Stress verursachen, der bei | |
Kindern zu Verhaltensauffälligkeiten und einem Leistungsabfall in der | |
Schule führen kann. | |
Das weiß auch der Erzieher Dustin Wrembel, weshalb er vermutlich auch schon | |
früher als andere Eltern dafür gesorgt hat, dass seine beiden Kinder trotz | |
beengter Wohnverhältnisse einen Raum für sich alleine bekommen. Während am | |
Elternhochbett noch gewerkelt wird, kann das neue Kinderzimmer schon | |
besichtigt werden. Es ist ein schönes, liebevoll eingerichtetes Zimmer | |
geworden. | |
## Die Wände bereits vier Mal umgestrichen | |
Rechts das Hochbett in hellem, freundlichem Kiefernholz, darunter eine | |
Spielecke. In den Regalfächern Bilderbücher und durchsichtige Boxen für | |
Kleinkram, die die Idee des Vaters gewesen sind, damit die Tochter beim | |
Aufräumen auch weiß, wo was hingehört. Erst gestern habe sie wieder die Tür | |
hinter sich zugemacht, erzählt Dustin Wrembel. „Und dann kam sie bunt wie | |
ein Vogel wieder raus und hat Papagei gespielt.“ | |
Seit ihrem Einzug hätten sie die Wände bereits vier Mal umgestrichen, | |
erzählen die Wrembels: „Man verändert sich im Kopf, und dann braucht es | |
eben auch ein neues Farbkonzept.“ Auch die Möbel tauschten sie mehrfach | |
aus: erst Holz, dann Weiß, jetzt eine Mischung aus beide. | |
Beim Einrichten griffen sie auch gerne auf Ebay-Kleinanzeigen zurück, zudem | |
rüstet Dustin Wrembel die Wohnung derzeit in ein sogenanntes Smart Home um. | |
Mit Sprachassistenten und LED-Fliesen, die per App angesteuert werden | |
können. Und im Wohnzimmer, das ja nun bald auch das Elternschlafzimmer sein | |
wird, gibt es wieder ein Fitnessgerät, eine All-in-one-Lösung aus der | |
Schweiz, die so flach und schmal ist, dass sie fast nicht auffällt. | |
Man merkt, die Wrembels wollen es in ihrem kleinen Reich möglichst geordnet | |
und komfortabel haben. Nichts soll herumstehen und schon gar nichts am | |
falschen Platz. „Nur für unseren Kleiderschrank brauchen wir noch eine | |
Lösung“, sagt Dustin Wrembel. Der steht aktuell im Zimmer des Sohnes. | |
„Und da will ich in zehn Jahren ja nicht anklopfen müssen, um mir meine | |
Sachen rauszuholen.“ Ach ja, und dann soll demnächst noch die Küche | |
umgebaut werden. Einige der Unterschränke sollen durch Oberschränke ersetzt | |
werden, damit Platz für einen richtigen Esstisch entsteht – aber immer mit | |
der Ruhe, denn Umbauten seien teuer. | |
Sind politische Lösungen in Aussicht? | |
„Ich finde die Wohnungsnot in diesem Land verheerend“, sagt die Psychologin | |
Antje Flade. Sie wolle da jetzt nicht politisieren, aber mit einer | |
Finanzspritze hier und da könne man die Probleme der Familien nicht lösen, | |
sondern nur mit vernünftigem Wohnungsbau. | |
Wibke Werner vom Berliner Mieterverein sagt: „Wir benötigen Vermieter, die | |
sich einer gemeinwohlorientierten Wohnraumversorgung verpflichtet sehen, | |
und eine Sozialwohnungsquote, die auch für private Wohnungsunternehmen | |
gilt.“ | |
## Fokus auf bezahlbare Familienwohnungen | |
Und die Architektin Theresa Keilhacker fordert für Berlin eine stärkere | |
Nachverdichtung im Inneren des S-Bahn-Rings mit dem Fokus auf bezahlbare | |
Familienwohnungen. Dafür könne man an geeigneten Kreuzungen durchaus mal | |
höher bauen. | |
Derweil ist im neuen Koalitionsvertrag von einer „Investions-, | |
Steuerentlastungs- und Entbürokratisierungsoffensive“ die Rede, die dafür | |
sorgen soll, dass sich wieder mehr Menschen Eigentum leisten können und | |
wieder mehr gebaut wird – auch mehr Sozialwohnungen. Gleichzeitig will die | |
neue Regierung gegen überteuerte Mieten, möblierte und befristete | |
Mietangebote vorgehen. | |
Die Mietpreisbremse soll um weitere vier Jahre verlängert werden. Grüne und | |
Linke kritisieren: Im Abschnitt „Bauen und Wohnen“ sei vieles zu vage | |
gehalten oder lasch angesichts der ernsten Lage. Ob die neue Regierung | |
ihren Job in Sachen Wohnungsbau wirklich besser machen wird als die alte, | |
wird sich zeigen. Klar ist hingegen, dass in Deutschland aktuell mehrere | |
hunderttausend Wohnungen fehlen. | |
Zumindest etwas helfen könnte die Aktivierung von „unsichtbarem Wohnraum“, | |
wie Theresa Keilhacker vorschlägt. „Wir sprechen seit Jahren über eine | |
Agentur, die Menschen, denen ihre Wohnung zu groß geworden ist, mit | |
Menschen zusammenbringt, die eine größere Wohnung suchen“, sagt sie. | |
Private Tauschbörsen gibt es schon, aber bei denen kommt erfahrungsgemäß | |
selten ein Match zustande. | |
Eine kommunale Agentur, erklärt Keilhacker, könne bei der sicheren | |
Vermietung von Privatwohnungen helfen, indem sie Mietgarantien vergibt, | |
eine Mietbegleitung bereitstellt und Renovierungen bezuschusst. Nach diesem | |
Modell habe die Stadt Karlsruhe 1.300 Sozialwohnungen geschaffen. | |
„Skaliert auf Berlin wären das rund 15.000 Sozialwohnungen“, sagt | |
Keilhacker. Aber das ist alles Zukunftsmusik und damit nichts, was Familie | |
Wrembel in ihrer jetzigen Lage helfen würde, und deshalb helfen sie sich | |
selbst. | |
„Ich habe meinen Wunsch vom eigenen Haus abgehakt“, sagt Jenny Wrembel. | |
„Das war wichtig für mein Seelenheil – so wie die Umgestaltung unserer | |
Wohnung auch.“ Ein günstiges Angebot würde sie natürlich trotzdem nicht | |
ausschlagen, sieht dies angesichts der aktuellen Lage aber eher | |
pessimistisch. Und überhaupt: „Uns geht es ja noch verhältnismäßig gut“, | |
sagt Dustin Wrembel. „Ich kenne eine Familie, da leben die Eltern mit vier | |
Kindern auf 45 Quadratmetern – und das ohne Hochbett.“ | |
## Die Nähe zur Decke | |
Im Wohnzimmer verblendet ein Mitarbeiter von Hardys Hochbetten nun noch | |
alle sichtbaren Schrauben mit Abdeckkappen aus Echtholz, dann ist das | |
Elternhochbett fertig. Sind sie eigentlich wehmütig, weil in ihrem ehemals | |
so akkurat eingerichteten Wohnzimmer jetzt dieses riesige neue Bettgestell | |
in den Raum ragt? „Wehmütig nicht“, sagt Dustin Wrembel, „aber massiv ist | |
es schon.“ | |
Ein letzter Anruf: Und wie ist es jetzt mit dem neuen Bett? Können sie gut | |
darauf schlafen? | |
Jenny Wrembel erzählt: Sie habe schon ein, zwei Nächte gebraucht, um damit | |
zurechtzukommen. „Ich hatte Probleme mit der Nähe zur Decke“, sagt sie, was | |
bei ihr zu Beginn schon etwas Panik ausgelöst habe. Außerdem werde es da | |
oben sehr schnell warm – aber man gewöhne sich ja an alles. | |
10 May 2025 | |
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Anna Fastabend | |
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Bloß nicht! Ein Bericht vom diesjährigen Berliner Theatertreffen. | |
Zweckentfremdung von Wohnraum: Kaum legale Ferienwohnungen | |
38.000 Touristenappartements gibt es in Berlin – genehmigt sind 600. Den | |
Bezirken fehlt die Technik, um illegale Angebote aufzuspüren. | |
Ökonom über Hamburgs Wohnungspolitik: „Viele Menschen sind unglücklich all… | |
Hamburg ist fixiert auf Neubau, obwohl das den Wohnungsmangel kaum | |
bekämpft. Wirtschaftswissenschaftler Daniel Fuhrhop schlägt eine andere | |
Lösung vor. | |
Wohnungsmangel in der Großstadt: In Hamburg gilt Villenschutz | |
Hamburg hat ein scharfes Wohnraumschutzgesetz – theoretisch. Doch mit der | |
Anwendung tun sich die Bezirke oft schwer. Die Folge: jahrelanger | |
Leerstand. |