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# taz.de -- Buch über das Ende des „Dritten Reiches“: Gestellte Action fü…
> Gerhard Paul beleuchtet so vielseitig wie spannend die letzten Tage der
> Reichsregierung unter Admiral Dönitz, die im Mai 1945 in Flensburg
> zusammentrat.
Bild: 23. Mai 1945: Admiral Dönitz (m.) beantwortet Fragen von Kriegskorrespon…
Von heldenhaftem Ringen ist die Rede. Davon, dass man einer gewaltigen
Übermacht ehrenvoll unterlegen sei. Ein Übertragungswagen steht im Innenhof
der Flensburger Postdirektion. Gesendet wird von hier der letzte Bericht
des Oberkommandos der Wehrmacht. Es ist der 9. Mai 1945, kurz nach 20 Uhr.
Wir wechseln auf die östliche Fördeseite, in den [1][Stadtteil Mürwik]. Die
britischen Streitkräfte sind in Flensburg eingerückt und sind dabei, die
nördlichste Stadt Deutschlands zu übernehmen.
Zugleich hat sich Großadmiral Karl Dönitz, in Berlin noch von Adolf Hitler
selbst zum Nachfolger bestimmt, mit seinem Gefolge nun in der
Marine-Sportschule eingerichtet: [2][Im Sonderbezirk Mürwik] ist seine
geschäftsführende Reichsregierung im Amt, geduldet von den Briten, während
in Karlshorst bei Berlin, in Reims in Nordfrankreich, in der Lüneburger
Heide die Teilkapitulationen des deutschen Heeres unterzeichnet werden.
Der Tag beginnt mit der Kabinettssitzung. Die neuernannten Minister
berichten. Als der letzte Wehrmachtsbericht versendet ist und Musik in die
neue Zeit führen soll, hat der gerade zuständige britische Offizier nur
eine Maßgabe: nichts von Wagner!
Gerhard Paul, Jahrgang 1951, schöpft in seinem Buch über das absurde Ende
des Dritten Reichs mit vollen Händen aus dem Fundus: Lange als Professor
für Geschichte und ihre Didaktik an der Flensburger Universität tätig und
Begründer der Bildgeschichtsschreibung, ist er ein mehr als [3][guter
Kenner der Dokumente und Akten jener Jahre und Tage].
Außerdem ist er über die Zeit auch ein Flensburger Bürger geworden. Dabei
hat er offensichtlich ein feines Gespür für die untergründigen Strömungen
entwickelt, die aus dem Dritten Reich in die Nachkriegsrepublik sickerten.
Und er hat Zeitzeugen kennengelernt: ehemalige U-Bootfahrer, Radioleute,
Flensburger, die damals dabei gewesen sind.
Auch geografisch weitet Paul immer wieder den Blick. Er bezieht das
Geschehen in der Geltinger Bucht mit ein, wo die Kriegsmarine sich dann,
anders als befohlen, nicht selbst versenkt. Und er schildert, wie in
Lüneburg Heinrich Himmler als Heinrich Hirzinger verhaftet wird, woraufhin
der sich mit Zyankali umbringt.
Sein Leichnam ist für Film und Foto aus allen möglichen Blickwinkeln
dokumentiert worden. Nebenbei macht Paul mit seinem Buch begreiflich, dass
geschichtliche Ereignisse oft erst im Lichte ihrer medialen Inszenierung zu
entschlüsseln sind.
So absurd das Geschehen auf wenigen Flensburger Quadratkilometern zunächst
wirken mag, ob es sich um ein Drama handelt oder eine schlechte Operette,
ist eine seiner Fragen.
## Weitere NS-Morde trotz Waffenstillstand
Geht man mit Paul ins Detail, erfährt man, dass Dönitz und die Seinen die
ihnen verbliebenen reichsdeutschen Tage durchaus zu nutzen wissen: Sie
arbeiten unter Hochdruck am Mythos einer zwar militärisch geschlagenen,
aber moralisch ehrenhaften Armee, die sich nichts hat zu Schulden kommen
lassen; und besonders fleckenlos schneidet dabei die Marine ab.
So wird von Kapitel zu Kapitel mehr als deutlich: Das militärische Ende des
[4][NS-Staats], das ‚Schweigen der Waffen‘ wie es mit einem gewissen, bis
heute gültigen Pathos benannt wird, als sei damit alles gut, bedeutet eben
noch lange nicht das Ende der Nazi-Diktatur. Mit brachialen Folgen: Während
die britischen Streitkräfte den Zustrom der über Dänemark zurückkehrenden
Wehrmachtssoldaten zu regulieren versuchen, arbeiten im Sonderbereich die
Marinegerichte unbarmherzig weiter. Sie spüren angebliche Deserteure auf
und lassen sie ermorden. Zugleich ist Mürwik eine Art Abklingbecken für
manche aus der Nazi-Elite, die hier Station machen, um nun unterzutauchen.
Am 23. Mai – dass auf den Tag genau vier Jahre später das [5][Grundgesetz
der Bundesrepublik Deutschland] verabschiedet wird, wirkt wie eine seltsame
Laune der Geschichte – hat die britische Militärverwaltung genug von
Dönitz’ Treiben. Weil der eingeladene internationale Presseandrang groß
ist, es schließlich an möglichen ikonischen Bildern der deutschen
Niederlage mit ein bisschen Action fehlt, wird dieses medial entsprechend
groß inszeniert: Mehrmals muss Dönitz mit seinem engeren Gefolge antreten,
um sich verhaften und durchsuchen zu lassen.
Er selbst hat sich vor Ort eigens für diesen Anlass eine neue Uniform
schneidern lassen. Vor der Mürwiker Sportschule drehen derweil die jungen
Marinerekruten mit den zurückgelassenen Pkw mit Vollgas ihre Runden. Was
sollen sie jetzt bloß tun? Wer sagt ihnen, wo es langgeht?
Gerhard Paul ist ein kundiger Didaktiker, der beeindruckend gut zu erzählen
weiß. Und was ist da nicht alles in kurzer Zeit auf kleinstem Raum
passiert! Wer war da nicht alles vor Ort! Wir erfahren, welche Rolle der
spätere Suhrkamp-Hero [6][Siegfried Unseld] in jenen Tagen spielte. Und wir
verfolgen den Lebensweg der begeisterten jungen Fliegerin [7][Beate Uhse]
in diesem wichtigen, hintergründigen, aber auch gewitzten Buch.
27 Apr 2025
## LINKS
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[7] /Beate-Uhse/!t5633712
## AUTOREN
Frank Keil
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Sitz. In der Marineschule Mürwik will man sich der Geschichte endlich
stellen.
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