# taz.de -- Politologe über die Türkei: „Die Protestbewegung braucht die Ku… | |
> Das Verhältnis von CHP und Kurden ist historisch belastet. Trotzdem | |
> unterstützen viele Kurden die Proteste. Politologe Müslüm Örtülü erklä… | |
> warum. | |
Bild: Von den einen verhasst, von anderen verehrt als „Atatürk“: Republikg… | |
taz: Hunderttausende demonstrieren derzeit in der Türkei für Demokratie und | |
gegen das autoritäre Erdoğan-Regime. Wenn der Unmut nicht verpuffen, | |
sondern echte Veränderung daraus hervorgehen soll, ist ein Faktor zentral: | |
die kurdische Bewegung. Warum? | |
Müslüm Örtülü: Die Protestbewegung braucht die Kurden, sie machen ein | |
Viertel der Bevölkerung des Landes aus. Manche sind konservativ und | |
AKP-nah. Aber ein großer Teil organisiert sich in den Strukturen der | |
kurdischen Freiheitsbewegung. Diese umfasst ebenso Frauen- oder | |
Ökologiegruppen wie die parlamentarische Partei DEM, die in Umfragen | |
zurzeit bei 8 Prozent liegt. Und nicht nur zahlenmäßig sind die Kurden | |
entscheidend. Die Bewegung ist gut organisiert, ausdauernd und hat | |
Jahrzehnte lange Erfahrung im Kampf gegen Unterdrückung. | |
taz: Entzündet haben sich [1][die aktuellen Proteste] daran, dass der | |
Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu verhaftet wurde. Er ist von der | |
CHP. Wie stand die kurdische Bewegung bislang zu seiner Partei? | |
Müslüm Örtülü: Die CHP ist die Gründerpartei des türkischen Staates, sie | |
hat die kurdische Frage vor 100 Jahren verursacht. In ihrer | |
säkular-nationalistischen Ideologie, dem Kemalismus, bedeutet Staat | |
nämlich: ein Volk, eine Sprache, eine Kultur. Für Kurden oder andere ist da | |
kein Raum. Diese Ideologie hat die CHP lange Zeit verfolgt. Und bis in die | |
Gegenwart gibt es in der CHP stramme Kemalisten. | |
taz: In den frühen Tagen der Türkischen Republik wurden unter der CHP | |
Kurden massakriert, zum Beispiel im Jahr 1938, als in der südöstlichen | |
Stadt Dersim bis zu 20.000 Kurden getötet wurden. | |
Müslüm Örtülü: Ja und das war nur eines von vielen Massakern. Damals war | |
die Türkei ein Einparteienstaat, es gab zur CHP keine Opposition. Regionale | |
Aufstände der Kurdinnen und Kurden gegen die Zentralisierung und für ihre | |
Rechte und Autonomie wurden blutig niedergeschlagen. | |
taz: Wie hat sich die CHP in jüngerer Zeit gegenüber sogenannten | |
Minderheiten verhalten? | |
Müslüm Örtülü: Als [2][die sehr beliebten Co-Vorsitzenden der kurdischen | |
Partei HDP, Selahattin Demirtaş] und Figen Yüksekdağ im Jahr 2016 | |
festgenommen wurden, hat die CHP mit der AKP und der MHP für die Aufhebung | |
der Immunität der HDP-Abgeordneten gestimmt (Anm. d. Red.: HDP war die | |
Vorgängerpartei der DEM). Die CHP hat also die linke, pro-kurdische | |
Opposition zusammen mit Erdoğan unterdrückt. Und im letzten Wahlkampf ist | |
zum Beispiel der CHP-Bürgermeister aus Ankara, Mansur Yavaş, der früher bei | |
den faschistischen Grauen Wölfen aktiv und bis 2013 Politiker deren | |
Vaterpartei MHP war, mit rassistischen Parolen gegen syrische Geflüchtete | |
aufgetreten. | |
taz: Zugleich gibt es in der CHP auch nicht-rassistische und | |
sozialdemokratische Stimmen. | |
Müslüm Örtülü: Genau, İmamoğlu vertritt eher liberale Positionen. Auch | |
[3][der neue Parteivorsitzende Özgür Özel] sowie [4][die ehemalige | |
Vorsitzende der Provinz Istanbul, Canan Kaftancıoğlu], gehören eher zu | |
diesem Spektrum. Kaftancıoğlu ist eine linke CHPlerin, die deshalb immer | |
wieder im Visier von Erdoğan war [Nach einem Urteil darf sie sich aktuell | |
nicht politisch betätigen, Anm. d. Red.]. Eine andere starke Stimme für | |
Menschenrechte und die Lösung der kurdischen Frage in der CHP ist Sezgin | |
Tanrıkulu, ein Kurde aus Diyarbakır. | |
taz: Denken Sie, dass die sich in der CHP durchsetzen? | |
Müslüm Örtülü: Aktuell erscheinen mir ihre Stimmen zumindest lauter. Man | |
merkt, dass die CHP in den letzten Jahren als Oppositionspartei den | |
nationalistischen Kurs tendenziell verlässt und auf einen stärker | |
sozialdemokratischen eingebogen ist. Ob das so bliebe, würde die CHP die | |
Regierung übernehmen, sei dahingestellt. | |
taz: Kann man damit in der Türkei Wahlen gewinnen – falls überhaupt noch | |
mal welche stattfinden? Erdoğan hat durch Jahre der Propaganda | |
nationalistische Haltungen in der Gesellschaft – unabhängig von sonstigen | |
politischen Einstellungen – extrem geschürt. | |
Müslüm Örtülü: Ich denke, der CHP ist klar, dass sie einen demokratischeren | |
Kurs vertreten muss, wenn sie größere Teile der Gesellschaft ansprechen | |
will. Selbst die Klientel der AKP, also die religiös-konservative, ist ja | |
teilweise frustriert. Darunter sind viele ärmere Menschen, die stets AKP | |
gewählt haben, nun aber eine neue politische Heimat suchen – nicht zuletzt | |
wegen der miserablen wirtschaftlichen Situation. | |
taz: Wie hat sich das Verhältnis zwischen den Parteien CHP und DEM in | |
letzter Zeit entwickelt? | |
Müslüm Örtülü: Parteipolitisch gibt es eine Annäherung. Dass sich zuletzt | |
etwa in Istanbul und Ankara Bürgermeisterkandidaten der CHP durchsetzen | |
konnten, ist dem taktischen Bündnis der DEM mit der CHP zu verdanken. In | |
einem Stadtteil von Istanbul, in Esenyurt, hat mit Ahmet Özer bei der | |
Kommunalwahl sogar ein gemeinsam aufgestellter Kandidat gewonnen. Das war | |
auch einer der ersten, den die AKP abgesetzt hat, sie hielt ihn offenbar | |
genau deshalb für besonders gefährlich. Das zeigt, wie viel Angst die AKP | |
vor einer Zusammenarbeit von CHP und DEM hat. | |
taz: Als das Regime in den letzten Monaten unzählige kurdische | |
Bürgermeister absetzte, gab es keine Massenproteste. Ist das aus kurdischer | |
Sicht nicht schmerzhaft? | |
Müslüm Örtülü: Das stimmt – und das liegt auch am gesellschaftlichen | |
Rassismus gegenüber Kurden. Aber es gab durchaus erfreuliche Reaktionen aus | |
der CHP. Die Parteispitze hat die Absetzungen kritisiert, einzelne | |
CHP-Politiker sind in die betroffenen Orte gereist und haben sich | |
solidarisch mit der DEM gezeigt. Das spüren die Kurdinnen und Kurden | |
natürlich – und solidarisieren sich jetzt entsprechend mit den | |
pro-İmamoğlu-Protesten. | |
Es gab auch eine gemeinsame Pressekonferenz von DEM und CHP, in der die | |
Vorsitzenden klargemacht haben, dass sie gemeinsam für einen demokratischen | |
Kurs eintreten. Von Özel gab es auch eine Newroz-Botschaft an die Kurden. | |
Und das ist auch gut so. Denn die kurdische Frage wird nur in einer | |
demokratischen Türkei gelöst werden. Da zeigt die CHP sich aktuell als | |
potenzieller Bündnispartner, sodass die Proteste für die Kurden auch mehr | |
sind, als eine Unterstützung der CHP, sondern ein gemeinsamer Kampf für | |
Demokratie und Grundrechte. | |
taz: Können Sie einschätzen, wie viele Kurd*innen sich an den Protesten | |
beteiligen und wie viele sich fernhalten, etwa aufgrund der blutigen | |
Geschichte? | |
Müslüm Örtülü: Meiner Beobachtung nach ist den meisten Kurdinnen und Kurden | |
wichtig, etwas gegen den autoritären Kurs der AKP zu tun. Erst im Februar | |
wurde der Bürgermeister von Van abgesetzt. Kurden kennen diese Art von | |
Politik längst. Und sie hatten es genauso vorhergesagt: Wenn ihr euch jetzt | |
nicht mit uns solidarisiert, wird dieser autoritäre Kurs morgen euch | |
treffen. | |
taz: Schadet es dem erhofften Friedensprozess nicht, wenn die kurdische | |
Bewegung jetzt gegen Erdogan protestiert? Könnte es sein, dass Erdogan sie | |
dafür bestraft? | |
Müslüm Örtülü: Hier sind zwei Punkte wichtig: Die türkische Regierung hat | |
Angst vor den anstehenden Umstrukturierungen im Nahen Osten. Geopolitisch | |
ist die kurdische Frage die Achillesferse der Türkei. Das ist der Grund, | |
dass vor allem die MHP darauf gedrängt hat, dass Öcalan die PKK zum | |
Niederlegen der Waffen aufruft. Das hat er getan, es ist der Versuch, die | |
kurdische Frage politisch zu lösen – bisher im Übrigen einseitig. Einen | |
Friedensprozess gibt es ja gar nicht. Noch hat die türkische Regierung | |
keine Bereitschaft für Frieden gezeigt, weder innenpolitisch noch an Orten | |
wie Kobanê [kurdisch geprägter Ort in Nordsyrien, Anm. d. Red.]. | |
taz: Dort hat die türkische Armee vor wenigen Tagen [5][mit einem | |
Drohnenangriff eine ganze Familie ausgelöscht]. | |
Müslüm Örtülü: Eben. Die Angriffe der Türkei auf die kurdischen Gebiete | |
gehen weiter, obwohl die PKK einen Waffenstillstand erklärt hat. Ich kenne | |
deshalb auch keine Kurden, die denken, sie müssten bei den Protesten | |
zurückhaltend zu sein, damit Erdogan nett zu uns ist. Das ist er sowieso | |
nicht. | |
taz: Was können die aktuell Protestierenden von der kurdischen Bewegung | |
lernen? | |
Müslüm Örtülü: Der kurdische Kampf zieht seine Stärke daraus, dass er eine | |
Einheit in der Vielfalt bildet. Das ist eigentlich keine kurdische Bewegung | |
mehr, sondern eine gesellschaftliche Bewegung, die von Kurden gestartet | |
wurde, in der alle willkommen sind, die sich für Freiheit und Demokratie | |
einsetzen. Damit die aktuellen Proteste erfolgreich sind, sollten sich dort | |
alle wohl fühlen, seien es Türken, Kurden, Aleviten oder andere. | |
Dafür wäre es zum einen wichtig, dass nationalistische Gruppen, wie die, | |
die vor ein paar Tagen den Wolfsgruß gezeigt haben, und andere militante | |
Nationalisten, aus den Demos herausgehalten werden. Zum anderen sollten die | |
Demonstrierenden sich langfristig organisieren und ihr Schicksal selbst in | |
die Hand nehmen. Damit meine ich: nicht nur nach türkischem Recht den | |
Bürgermeister verteidigen, auch wenn das eine wichtige Ebene ist, sondern | |
sich darüber hinaus und auch lokal organisieren, so wie Kurden es schon | |
lange tun. | |
27 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Proteste-gegen-mamolu-Festnahme/!6074351 | |
[2] /HDP-Politiker-in-der-Tuerkei-verurteilt/!6011135 | |
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[5] https://medyanews.net/turkish-airstrike-kills-nine-including-seven-children… | |
## AUTOREN | |
Lotte Laloire | |
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