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# taz.de -- Autoritäre Wende in der Türkei: Erdoğans riskanter Schachzug
> Die Verhaftung İmamoğlus könnte den türkischen Präsidenten teuer zu
> stehen kommen. Die Massenproteste bringen seine Herrschaft ins Wanken.
Bild: Es bleibt abzuwarten, ob Erdoğans Schachzug wirklich aufgeht oder die Un…
Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der die Türkei seit fast einem
Vierteljahrhundert regiert, ist von seinem anfänglichen Kurs hin zu
demokratischen Reformen abgekommen. Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit
der Justiz, Grundrechte und -freiheiten sind dramatisch ausgehöhlt worden.
2017 machte Erdoğan [1][aus dem parlamentarischen System ein
Ein-Mann-Regime] und regiert seither mit zunehmend autoritärem Griff.
Die türkische Verfassung hält maximal zwei Amtszeiten für den Präsidenten
fest, aber Erdoğan hat ganz offensichtlich nicht die Absicht, auf absehbare
Zeit zurückzutreten. Ob der Oberste Wahlrat (YSK) weitere Kandidaturen
genehmigen oder ablehnen würde, spielt dabei keine Rolle. Alles hängt
allein von Erdoğan ab. Seit Jahren gilt in der Türkei die Herrschaft des
Mächtigen und nicht die Herrschaft des Rechts.
Erdoğan könnte sogar den Ausnahmezustand ausrufen und die Wahlen ganz
absagen. Vermutlich würde er das auch tun. Letztlich scheint seine gesamte
Strategie auf eine „Präsidentschaft auf Lebenszeit“ ausgerichtet zu sein,
genau wie bei seinem Verbündeten Wladimir Putin. Erst vor wenigen Tagen
erklärte er offen: „Solange Gott mir das Leben schenkt, werde ich dienen.“
Indem er die Möglichkeit einer Wahlniederlage nun durch juristische Manöver
ausschließt, geht Erdoğan das vielleicht größte Risiko seiner politischen
Karriere ein. [2][Ekrem İmamoğlu] von der Republikanischen Volkspartei
(CHP), Istanbuls Oberbürgermeister und aussichtsreichster Gegenkandidat
Erdoğans bei den Präsidentschaftswahlen 2028, ist seit einer Woche
politischer Gefangener im berüchtigten [3][Silivri-Gefängnis].
Dort sitzen bereits Oppositionspolitiker, Abgeordnete, Bürgermeister,
Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und sogar Wahrsager und
Astrologen. Allein in den vergangenen Tagen sind [4][mehr als 1.000
Menschen verhaftet] worden.
İmamoğlu gelang es, breite Teile der Gesellschaft hinter sich zu
versammeln: Demokraten, Linke, Kurden, Konservative und Nationalisten
wählten ihn wiederholt ins Istanbuler Rathaus. Ein gängiges Sprichwort in
der türkischen Politik lautet: „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei.“
Aber auch das Gegenteil ist der Fall: Wer Istanbul verliert, verliert oft
auch das Land.
Erdoğan, ein gewiefter politischer Veteran, erkannte die Bedrohung früh und
griff seinen starken Gegner mit den Waffen der Justiz an. Während Erdoğans
eigener Universitätsabschluss seit Jahren in Frage gestellt wird, wurde
İmamoğlus Universitätsabschluss kurzerhand für ungültig erklärt. Nach
türkischem Recht muss ein Präsidentschaftskandidat einen Hochschulabschluss
haben.
Die Annullierung eines 35 Jahre alten Diploms hat weitreichendere Bedenken
ausgelöst: Jetzt sind die verbrieften Rechte eines jeden in Gefahr.
Anwaltslizenz, Universitätsabschluss, Hausurkunde und Heiratsurkunden –
nichts ist mehr sicher. Das Ausmaß der Willkür ist erschreckend.
Seit Jahren versucht sich das Erdoğan-Regime durch Manipulation der Justiz
zu holen, was es an den Wahlurnen nicht gewinnen kann. Dieser jüngste
dreiste Schachzug kann als neuer Höhepunkt der autoritären Wende in der
Türkei angesehen werden. Dank İmamoğlus integrativem und hoffnungsvollem
Wahlkampf ging die CHP aus den Kommunalwahlen vom 31. März 2024 zum ersten
Mal seit 47 Jahren als führende Partei der Türkei hervor.
[5][Dieser historische Sieg] signalisierte, dass Erdoğans Machtposition
schwächer wird. Die öffentliche Unterstützung für Erdoğan hat aufgrund der
wirtschaftlichen Verwüstung, der Gesetzlosigkeit und des Autoritarismus
stetig abgenommen. Weniger als ein Jahr nach den Kommunalwahlen hat die
Regierung bereits neun Bürgermeister der prokurdischen DEM-Partei und sechs
Bürgermeister der CHP abgesetzt und an ihrer Stelle staatliche Treuhänder
eingesetzt.
Die meisten der abgewählten Bürgermeister wurden verhaftet. Ohne größeren
Widerstand. Nach der Verhaftung von İmamoğlu gingen jedoch Tausende von
Universitätsstudenten in Istanbul auf die Straße und unterbrachen die Rede
des [6][CHP-Vorsitzenden Özgür Özel] mit Sprechchören wie „Vergesst die
Wahlurnen, kommt auf die Straße“.
Angeführt von jungen Menschen haben sich die Proteste und Märsche über
weite Teile der Türkei ausgebreitet. Die größte Demonstration fand in
Saraçhane, in der Nähe des Istanbuler Rathauses, statt. Kommentatoren
bezeichneten die Verhaftung von İmamoğlu als kalkulierten politischer
Schachzug Erdoğans. Bei der landesweiten Abstimmung über den
Präsidentschaftskandidaten der CHP trat İmamoğlu als einziger Kandidat an
und erhielt fast 15 Millionen Stimmen.
## Noch darf İmamoğlu kandidieren
Solange kein endgültiges Urteil gegen ihn ergeht, darf İmamoğlu weiterhin
kandidieren. Allerdings sind mehr als zehn Verfahren gegen den 54-jährigen
Parteichef anhängig, und auch die Annullierung seines Diploms muss
aufgehoben werden, damit seine Kandidatur endgültig ist.
An seinem ersten Tag im Gefängnis wurde İmamoğlu zum
Präsidentschaftskandidaten seiner Partei gewählt, und das nächste Kapitel
seiner politischen Karriere hängt nun von der künftigen Strategie der CHP
ab. Parteichef Özel sprach im Verlauf einer Großdemonstration von einem
Putschversuch, der abgewehrt werden müsse, um Wahlen möglich zu mache.
Wird Erdoğans riskanter Schachzug den Beginn seines Untergangs markieren?
Oder wird er den Weg für eine Diktatur im Stile Putins ebnen? Eines ist
klar: Der 23. März wird als ein Wendepunkt in die politische Geschichte der
Türkei eingehen. Die Opposition hat in den letzten Tagen ein Licht am Ende
des Tunnels erblickt: Das Volk, angeführt von der Jugend, fordert seine
Rolle als aktiver politischer Akteur zurück. Wenn es der Opposition
gelingt, diese Energie in die richtige Richtung zu lenken, sieht die
politische Zukunft von Erdoğan alles andere als rosig aus.
26 Mar 2025
## LINKS
[1] /Demokratieabbau-in-der-Tuerkei/!5371829
[2] /Festnahme-von-Ekrem-mamolu/!6073353
[3] /Proteste-in-der-Tuerkei/!6078415
[4] https://www.deutschlandfunk.de/1-100-festnahmen-auch-journalisten-betroffen…
[5] /Kommunalwahlen-in-der-Tuerkei/!6001433
[6] /Tuerkische-Opposionspartei-CHP/!5970882
## AUTOREN
Nedim Türfent
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