| # taz.de -- Türkische Polit-Girl-Band „Manifest“: Bewegung als politischer… | |
| > Früher war die Türkei ein lebendiger Popraum. Heute soll Kunst | |
| > unpolitisch und anständig sein. Die K-Pop–inspirierte Band Manifest macht | |
| > da nicht mit. | |
| Bild: Die Band Manifest: Gradmesser dafür, wie viel Freiheit das Land noch zul… | |
| Sechs junge Frauen stehen auf der Bühne, schwarze Outfits, Leder, Netz, | |
| funkelnde Ketten. Sie tragen auffälliges Make-up, wischen sich den Schweiß | |
| von der Stirn, tanzen synchron, schwingen die Hüften ein letztes Mal zur | |
| Zugabe. Das Publikum im Istanbuler Küçükçiftlik-Park filmt, singt mit. Und | |
| am Ende skandieren sie gemeinsam: [1][„Hak, hukuk, adalet!“] – Recht, | |
| Gesetz, Gerechtigkeit. Das Publikum kreischt, klatscht, pfeift. | |
| So sieht Pop aus – modern, durchinszeniert, körperlich. Und so sieht das | |
| aus, was in einem islamisch geprägten, konservativen Land wie der Türkei, | |
| regiert von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, derzeit für Empörung sorgt. | |
| Die Parole, die am Ende des Konzerts erklingt, ist längst mehr als ein | |
| Slogan. Seit [2][der Inhaftierung des oppositionellen CHP-Bürgermeisters | |
| Ekrem İmamoğlu] im März hallt „Hak, hukuk, adalet“ immer wieder durch | |
| türkische Städte – auf Demos, in Fußballstadien, auf Konzerten. Es ist ein | |
| Satz, der in einem Land, in dem die Justiz längst zur Sache der Regierung | |
| geworden ist, wie ein Widerspruch klingt. Und wenn ihn eine Girlband ruft, | |
| dann wird Pop endgültig politisch. | |
| Manifest, so nennt sich die wohl auffälligste Girlband der Türkei – sechs | |
| Frauen Anfang zwanzig, die eine neue Form von türkischem Mainstream | |
| erfinden. Ihr Look ist bis ins Detail durchkomponiert: makelloses Make-up, | |
| glänzende Lippen, farblich abgestimmte Lidschatten, glattes oder in | |
| Pastelltönen gefärbtes Haar. Jede Bewegung sitzt, jedes Styling ist Teil | |
| einer präzisen Bildsprache, die sich [3][an K-Pop orientiert] – jenem | |
| globalen Popphänomen aus Südkorea, das Tanz, Mode, Musik und | |
| Selbstdarstellung zu einer perfekten Kunstform verdichtet hat. | |
| ## Weniger Coolness, mehr Selbstbehauptung | |
| K-Pop lebt von Kontrolle und Inszenierung – Choreografien wie Maschinen, | |
| Gesichter wie Kunstwerke, eine Ästhetik zwischen Hochglanz und | |
| Überforderung. Auch Manifest nutzt diese Sprache, übersetzt sie aber ins | |
| Türkische: weniger Idolkult, mehr Alltagsnähe, weniger Coolness, mehr | |
| Selbstbehauptung. Ihre Musik – t-Pop, wie sie das nennen – verbindet die | |
| polierten Beats des K-Pop mit türkischen Popmustern, mischt R’n’B, Dance | |
| und elektronische Einflüsse. | |
| Für ihre Fans – vor allem junge Frauen – klingt das nach Aufbruch und | |
| Freiheit in einem Land voller Repressionen. Für die Kulturhüter des Landes | |
| nach Grenzüberschreitung. Denn hinter den Pastelltönen und Tanzschritten | |
| steckt mehr als Show: eine Generation, die sich auf der Bühne so zeigt, wie | |
| sie im Alltag oft nicht darf. | |
| Nach ihrem Konzert im September eröffnete die Staatsanwaltschaft Istanbul | |
| ein Verfahren gegen die Band. Der Vorwurf: „unanständige Bewegungen“, | |
| Verletzung der öffentlichen Moral – kurz: zu viel Körper. | |
| In der Türkei heißt das hayasızca hareket und kann mit bis zu einem Jahr | |
| Haft bestraft werden. Videos ihres Auftritts wurden blockiert, die | |
| Musikerinnen dürfen das Land vorerst nicht verlassen. In regierungsnahen | |
| Medien nennt man sie „schamlos“, „unmoralisch“, ein „schlechtes Vorbi… | |
| vor allem für die Mädchen, die ihnen zujubeln. | |
| ## Verfahren selbst als Teil der Strafe | |
| Inzwischen hat das Istanbuler Strafgericht die Anklage [4][offiziell | |
| angenommen]. Für jedes Mitglied fordert die Staatsanwaltschaft eine | |
| Haftstrafe zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Noch ist kein Urteil | |
| gefallen, doch die Band steht unter Beobachtung – auch juristisch. Eine | |
| Haftanordnung gibt es bislang nicht, die Frauen sind auf freiem Fuß, dürfen | |
| das Land aber nicht verlassen. Die Ermittlungen laufen weiter, und wie so | |
| oft in der Türkei ist das Verfahren selbst schon Teil der Strafe. | |
| Dahinter steckt mehr als Prüderie. In einem Land, in dem Frauen im | |
| öffentlichen Raum selten laut, sichtbar oder unverhüllt auftreten sollen, | |
| ist jede Bewegung auf einer Bühne ein politischer Akt. Die Türkei unter | |
| Präsident Erdoğan hat Frauen in den letzten Jahren systematisch aus der | |
| Öffentlichkeit gedrängt – erst leise, dann offen. Von feministischen | |
| Demonstrationen, die verboten werden, bis zu Gerichten, die Täter | |
| freisprechen, während sie Opfer belehren: Das Land kennt viele Regeln | |
| dafür, wie Frauen sich zu benehmen haben – aber immer weniger Rechte, sie | |
| zu brechen. | |
| In dieser Gesellschaft soll die Frau dezent sein, verschleiert, sittsam, am | |
| besten still. Nicht auffällig, nicht tanzend, und schon gar nicht bauchfrei | |
| auf einer Bühne. Manifest tut genau das Gegenteil. Ihre Outfits sind knapp, | |
| ihre Bewegungen zu „sexy“, sie fordern Raum – und provozieren damit all | |
| das, was das konservative Ideal von Weiblichkeit in der Türkei nicht | |
| aushält. | |
| Dass der Staat nun wegen „unanständiger Bewegungen“ gegen sie ermittelt, | |
| sagt weniger über ihre Choreografien als über den Zustand des Landes aus. | |
| Hier entscheidet nicht mehr das Gericht, was unanständig ist, sondern das | |
| Gefühl der Macht, sich bedroht zu sehen. | |
| ## Sobald Frauen es laut sagen | |
| Denn Manifest hat Fans. Viele davon sind zwischen zehn und fünfzehn, sie | |
| kennen jede Choreografie, posten Tanzvideos auf Tiktok, kopieren die Looks, | |
| nennen sich „Manifesters“. Eine Girlband, die in der Türkei ein Publikum | |
| aus so jungen Mädchen begeistert – und ihnen sagt, dass sie laut sein | |
| dürfen, stark, bunt und auch politisch –, das ist für Erdoğans Kulturhüter | |
| offenbar schon Revolution genug. | |
| Dabei ist die Band keine politische im klassischen Sinne. Ihre Songs | |
| handeln nicht von Macht oder Regierung, sondern von Nähe, Freundschaft, | |
| Verletzlichkeit, vom Versuch, sich selbst treu zu bleiben und manchmal auch | |
| von „Cash“, wie sie in einem ihrer Songs das Geld verdienen nennen. Pop | |
| also, im klassischen Sinn – leicht, tanzbar, emotional. Aber in der Türkei | |
| wird selbst das politisch, sobald Frauen es laut sagen. | |
| Die Türkei ist ein Land, welches sich unter Präsident Erdoğan seit mehr als | |
| 20 Jahren kulturell verengt. Festivals werden verboten, Filme zensiert, | |
| Musiker:innen vor Gericht gezerrt. Was früher ein lebendiger Popraum war, | |
| wird heute Schritt für Schritt moralisch vermessen. Kunst soll gefällig | |
| sein, unpolitisch, anständig – und vor allem nicht zu frei. | |
| Der Sänger Mabel Matiz etwa steht ebenfalls vor Gericht wegen „Obszönität�… | |
| – sein Song „Perperişan“ sei zu freizügig, seine Videos zu provokant. D… | |
| queere Popstar darf vorerst nicht reisen. Auch Künstler:innen wie Gaye Su | |
| Akyol oder Ezhel, die inzwischen in Berlin leben, gerieten in den | |
| vergangenen Jahren ins Visier der türkischen Behörden, weil sie zu offen, | |
| zu kritisch oder schlicht zu sichtbar waren. | |
| In dieser Atmosphäre ist Pop längst keine harmlose Unterhaltung mehr, | |
| sondern ein Gradmesser dafür, wie viel Freiheit das Land noch zulässt. Der | |
| Sound von Manifest wirkt da in Istanbul plötzlich wie ein Fremdkörper: zu | |
| westlich, zu selbstbewusst. Doch genau das ist sein Reiz – und seine | |
| Gefahr. In einem Land, in dem schon Tanzen als Provokation gilt, wird jeder | |
| Beat zum politischen Statement. | |
| 2 Dec 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=Q4MurK5nhkY | |
| [2] /Proteste-in-der-Tuerkei/!6082559 | |
| [3] /Weltweites-Phaenomen-K-Pop-Die-Bedeutung-entsteht-online-im-Kollektiv/!612… | |
| [4] https://www.deutschlandfunkkultur.de/staatsanwaltschaft-instanbul-geht-gege… | |
| ## AUTOREN | |
| Derya Türkmen | |
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