| # taz.de -- Südkoreanische Popkultur: Man muss einfach darüber sprechen | |
| > K-Pop ist Symbolismus fürs Plattformzeitalter. Wie kein anderes Genre ist | |
| > er perfekt auf Social Media ausgerichtet und setzt auf das Mitwirken der | |
| > Fans. | |
| Bild: DAS Phänomn unserer Zeit: K-Pop | |
| Die Geschichte von K-Pop wird oft entlang seiner Erfolge in der westlichen | |
| Musikindustrie erzählt. [1][Psys „Gangnam Style“] im Jahr 2012 gilt | |
| gemeinhin als der Moment, in dem K-Pop „im Westen ankam“. Es war das erste | |
| Youtube-Video, das die Zwei-Milliardenmarke knackte, eine globale | |
| Tanzbewegung, die als Meme in den Social Media zirkulierte – ein | |
| popkulturelles Großereignis, das sich so perfekt in die Logik des damals | |
| aufkommenden Plattformzeitalters einfügte, dass es fast wie dafür gemacht | |
| schien. Wobei: Was heißt „schien“? K-Pop war dafür gemacht. | |
| Es folgten weitere Momente: BTS’ Sieg bei den Billboard Music Awards 2017, | |
| Blackpink als erste K-Pop-Band beim Coachella 2019, NewJeans, die kaum | |
| debütiert, schon für die „Group of the Year“ bei den VMAs nominiert wurde… | |
| Immer wieder neue Verkündigungen, dass K-Pop den Westen erobert habe. | |
| Das ist eine alte, aber offenbar anhaltende hegemoniale Geste – als müsse | |
| ein Hype erst durch die Bestätigung der angloamerikanisch geprägten | |
| Musikindustrie legitimiert werden. Dabei ist K-Pop bereits seit Jahren | |
| tonangebend: Wie Popkultur im Zeitalter sozialer Medien funktioniert, haben | |
| sich Beyoncé, Taylor Swift oder Doja Cat nicht zuletzt von EXO, aespa, BTS, | |
| Red Velvet oder Blackpink abgeschaut. Nicht nur politisch scheint die | |
| Hegemonie des Westens vorüber – auch popkulturell ist es multipolar | |
| geworden. | |
| Der Sog der Songs | |
| Mit [2][„K-Pop Demon Hunters“] hat diese Geschichte nun ihren vorläufigen | |
| Höhepunkt erreicht: In unzähligen Reaction-Videos auf den Titelsong | |
| „Golden“ wird spürbar, dass sich selbst mit Heavy Metal sozialisierte Vät… | |
| dem Sog von K-Pop nicht mehr entziehen können. In einigen Comedy-Clips | |
| sieht man sie erst irritiert abwinken, dann schmunzelnd die Melodie summen | |
| – und schließlich lauthals mitsingen. | |
| Wer trotzdem bis vor Kurzem noch glaubte, K-Pop sei maximal etwas für | |
| nerdige Teenager, die Idols würden alle gleich aussehen und die Songs sich | |
| alle identisch anhören, dem dürfte „K-Pop Demon Hunters“ eine hilfreiche | |
| Gebrauchsanweisung zum besseren Verständnis des Genres gewesen sein. | |
| In dem Film stürmt die fiktive Girlgroup Huntr/x tagsüber die Charts mit | |
| catchy Hooks und perfekt austarierter Choreografie. Nachts jedoch jagen sie | |
| Dämonen. Ihre Waffen? Tanzmoves als Exorzismus-Rituale, Gesang als | |
| schützender Barrierenzauber und Fan-Chants als kollektive Energiequelle. | |
| Das trifft ins Herz dessen, [3][was K-Pop ausmacht]: eine empowernde Kraft, | |
| die aus dem Zusammenwirken zwischen Stars und Fans entsteht. | |
| Die rivalisierenden Saja Boys hingegen – eine dämonische Boyband, deren | |
| Konzerte als Rituale dienen, bei denen die Seelen der Fans gestohlen werden | |
| – verkörpern [4][die bekannten Schattenseiten der K-Pop-Industrie]. Allen | |
| voran die Ausbeutung der Künstler:innen, deren Seelen (Kreativität, | |
| Freizeit, Privatsphäre) für den Erfolg geopfert werden. | |
| Ökosystem der digitalen Interaktion | |
| Wie Hollywood nicht ohne das Kino möglich geworden wäre, wäre K-Pop nicht | |
| ohne Social Media denkbar. Früh baute die koreanische | |
| Unterhaltungsindustrie ein Ökosystem, das auf digitale Interaktion | |
| ausgerichtet war. Plattformen wie Lysn ermöglichten direkte | |
| Idol-Fan-Kommunikation, Weverse schuf eigene Räume für Fandoms. | |
| Videos werden nicht nur geschaut – sie werden zigfach angesehen, geliked, | |
| geteilt, geremixt, in Fan Fiction fortgeschrieben oder in Reaction-Videos | |
| analysiert und interpretiert. K-Pop-Fans wissen, dass Popularität durch | |
| Sichtbarkeit und Sichtbarkeit durch messbare Reaktionen entsteht. Dem | |
| eigenen Fansein werden sie deshalb nicht nur durch Käufe von Tonträgern und | |
| Merch, sondern vor allem durch das Mitwirken an hohen Klickzahlen gerecht. | |
| Popkultur hat sich durch soziale Medien grundlegend verändert. Im Zeitalter | |
| der Massenmedien bestimmten vor allem Institutionen wie Plattenfirmen, | |
| TV-Sender und Verlage, was gespielt wurde und dementsprechend zum | |
| Mainstream werden konnte. Gatekeeper kuratierten und filterten Inhalte vor | |
| der Veröffentlichung. | |
| Heute entscheidet vor allem viraler Erfolg darüber, was Reichweite erlangt. | |
| Ein Youtube- oder Tiktok-Video kann über Nacht Millionen erreichen. | |
| Verantwortlich dafür sind vor allem Zuschauer und Fans, die aktiv selbst an | |
| den Geschichten und an dem Erfolg ihrer Stars mitwirken. | |
| Shows müssen reaktionstauglich sein | |
| Sehr früh hat die K-Pop-Industrie verstanden, dass sie nicht einfach nur | |
| eine gute Show abliefern muss (was sie trotzdem tut), sondern dass diese | |
| möglichst reaktionstauglich sein muss: Choreografien müssen zum Nachtanzen | |
| anregen, Geschichten dazu einladen, sie weiterzuerzählen, Symbole so | |
| platziert werden, dass sich Interpretationen aufdrängen, über die man sich | |
| austauschen möchte. | |
| Mein Lieblingsbeispiel? Red Velvets „Feel My Rhythm“ (2022). Da wird Bachs | |
| „Orchestersuite Nr. 3 in D-Dur“ gesampelt und Barockmusik mit | |
| Hyperpop-Beats und Rap verschmolzen. Die vertraute Bach-Melodie schwebt | |
| sanft dahin, bis überraschend ein Bass einsetzt. Klassische | |
| Streicherarrangements treffen auf verzerrte Synthesizer. Süße Vocals | |
| wechseln sich mit schnellen Rap-Parts ab, während im Hintergrund die | |
| barocke Melodie weiterläuft. | |
| Im Musikvideo werden Gemälde wie [5][„Ophelia“ von John Everett Millais] | |
| (1852), „Die Schaukel“ von Jean-Honoré Fragonard (1767–1768) oder | |
| Ausschnitte aus Hieronymus Boschs „Der Garten der Lüste“ (um 1500) | |
| reinszeniert, all das immer wieder unterbrochen durch Szenen, in denen der | |
| Schwanensee von Tschaikowski getanzt wird. Musikalisch ein radikaler | |
| Mashup, visuell ein Rätselkabinett – genau diese Kombination macht den Song | |
| zum perfekten Reaktionsobjekt. Man muss einfach darüber sprechen und | |
| Interpretationen austauschen! | |
| Rätsel, die es zu lösen gilt | |
| Die berühmt-berüchtigten „Easter Eggs“ von [6][Taylor Swift]? Eine Praxis, | |
| die im K-Pop kultiviert wurde. Jedes „Comeback“ einer Gruppe oder eines | |
| Idols ist ein Rätsel, das es zu lösen gilt. Ein mysteriöses Symbol im | |
| Teaser? Innerhalb von Stunden entstehen Theorien, werden Reaction-Videos | |
| geschnitten, Memes gepostet. | |
| Diese sogenannte Lore-Kultur – Storylines rund um Idole, Gruppenuniversen, | |
| fiktionale Geschichten um einzelne Platten – ist kein bloßes | |
| Marketing-Gimmick, sondern das Herz von K-Pop. BTS’ Bangtan Universe, | |
| aespas Kwangya-Welt oder Stray Kids’ SKZ-Lore sind bewusst offen gehaltene | |
| Skripte, die sich nur im Dialog mit dem Fandom vervollständigen. | |
| Die erste Gruppe, die eine derart umfassende Erzählung präsentierte, war | |
| EXO. Gemäß ihrem fiktiven Universum stammen sie von einem unbekannten | |
| Exoplaneten und jedes Mitglied verfügt über übernatürliche Kräfte – von … | |
| Fähigkeit, Wasser, Licht, Feuer oder Wind zu kontrollieren, bis hin zu | |
| Teleportation und Zeitmanipulation. Diese gehen einher mit Farbzuordnungen, | |
| musikalischen und choreografischen Eigenheiten. | |
| Bereits vor der Veröffentlichung ihrer Debüt-EP „MAMA“ erschienen 23 | |
| Teaser-Trailer – eine Fragmentierung, die an Stéphane Mallarmés Poetik der | |
| Suggestion erinnert. In einem Interview mit Jules Huret erklärte Mallarmé, | |
| einer der bekanntesten Symbolisten des 19. Jahrhunderts: „Es soll nur | |
| Anspielungen geben.“ Das Objekt soll heraufbeschworen werden, um eine | |
| Stimmung zu entfalten, die der Betrachter durch Entschlüsseln selbst | |
| vervollständigt. | |
| Fragmente laden zu Beiligung ein | |
| Im Plattformzeitalter ist das Fragment vor allem eine Einladung zur | |
| Beteiligung. Die Bedeutung entsteht nicht im Song selbst, sondern in der | |
| kollektiven Entzifferung. Das ist keine Fanservice-Kultur, es ist | |
| Co-Kreation. Die Deutung selbst wird zur Performance, die Fans generieren | |
| ihrerseits mit ihren Profilen Sichtbarkeit und Kapital (für sich selbst und | |
| für ihre Idols). | |
| Was Fans als „EXO-logy“ bezeichnen, die Praxis, sich auf das | |
| Geheimnisvolle, Mysteriöse einzulassen, indem man Symbole sucht und | |
| interpretiert, ist nichts anderes als digitaler Symbolismus. Jeder View | |
| eines Theory-Videos, jeder X- oder Reddit-Thread über Verbindungen zwischen | |
| Songs oder Symboldeutungen übersetzt sich in Sichtbarkeit, in | |
| Algorithmusrelevanz, in Chartplatzierungen. Symbolismus wird zur perfekten | |
| Strategie für die digitale Reaktionskultur: Je mehr Rätsel, desto mehr | |
| Engagement. EXOs Erfolg löste, könnte man zugespitzt sagen, eine | |
| symbolistische Welle im K-Pop aus. Plötzlich hatte jede Gruppe ihre eigene | |
| Lore und auch die westliche Popwelt nahm es zur Kenntnis. | |
| Hier offenbart sich die eigentliche kulturelle Revolution von K-Pop: Er hat | |
| die symbolistische Ästhetik des 19. Jahrhunderts in die Logik des 21. | |
| Jahrhunderts übertragen. Der entscheidende Unterschied aber ist: Während | |
| die Symbolisten das Fragment und das Geheimnis gegen die aufkommende | |
| Massenkultur setzten, macht K-Pop sie zu deren Treibstoff. Das | |
| unvollständige Werk ist nicht mehr Ausdruck elitärer Verweigerung, sondern | |
| inklusiver Teilnahme. | |
| In dieser Synthese liegt die vielleicht wichtigste Erkenntnis über die | |
| globale Popkultur der Gegenwart: Dass Komplexität und Popularität, | |
| Tiefgründigkeit und Viralität keine Gegensätze mehr sind. K-Pop hat | |
| bewiesen, dass das eine das andere nicht ausschließt, sondern bedingt. Das | |
| Rätsel braucht die Masse, um sich zu entfalten. Es muss nicht gelöst | |
| werden. Und die Fans brauchen die unvollständige Erzählung, um sich als | |
| Ko-Autoren einer Geschichte zu verstehen, die größer ist als sie selbst und | |
| die doch ohne sie nicht existieren würde. | |
| 17 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Annekathrin Kohout | |
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