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# taz.de -- Größte Oppositionspartei der Türkei: Wie die CHP zur CHP wurde
> Nach der Inhaftierung von İmamoğlu und heftigen Protesten hoffen viele
> auf die Oppositionspartei CHP. Bei aller Solidarität lohnt ein kritischer
> Blick.
Bild: Istanbul: Protestierende schwenken Fahnen mit dem Konterfei von Staatsgr�…
Alles wird wunderschön, „[1][Hersey güzel olacak]“ – mit diesem Slogan
hatte der jüngst inhaftierte [2][Ekrem İmamoğlu] 2019 die Bürgermeisterwahl
in Istanbul gewonnen. Er gilt als charismatischer Politiker, der mit seinem
westlichen Lebensstil die säkularen Werte seiner Partei vertritt.
Einerseits.
Andererseits tritt er als gläubiger Muslim auf. Er geht zum Freitagsgebet
und wendet sich in den sozialen Medien mit religiösen Ansprachen an die
Bevölkerung, wie jüngst zum anstehenden Zuckerfest. İmamoğlus dominantes
Auftreten und seine Herkunft vom Schwarzen Meer konkurrieren mit Präsident
Recep Tayyip Erdoğans Image als Patriarch der Nation. Trotzdem betonen
gerade junge Menschen, die jetzt protestieren, dass es ihnen dabei nicht
unbedingt um İmamoğlu geht. Und noch weniger um seine Partei CHP. Warum
eigentlich?
Europa blickt größtenteils sehr wohlwollend auf die größte
Oppositionspartei in der Türkei. Man sieht sie als das effektivste Mittel
gegen den Autokraten Erdoğan. Und tatsächlich hat sich die CHP in den
letzten Jahrzehnten positiv entwickelt.
Vor allem seit 2010 Kemal Kılıçdaroğlu, ein Alevit mit Wurzeln in Dersim,
die Parteispitze übernommen hatte, hat die CHP Allianzen gebildet, die
zuvor undenkbar gewesen wären. Bei den Präsidentschaftswahlen 2023 ist sie
etwa ein Linksbündnis unter anderem mit der [3][inzwischen verbotenen
kurdischen HDP] eingegangen. Bei den Kommunalwahlen 2024 wurde die CHP
mithilfe der kurdischen Nachfolgepartei DEM landesweit stärkste Kraft – das
erste Mal seit Erdoğans AKP das politische Parkett betreten hat.
## Bewegte Geschichte der CHP
Doch es lohnt auch ein kritischer Blick auf die Geschichte der Partei. Die
CHP wurde 1923 vom Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk ins Leben gerufen
und versteht sich nach wie vor als kemalistische Partei. Erst in den
1960ern erweiterte sie ihr Profil um sozialdemokratische Positionen.
Maßgeblich vorangetrieben durch den damaligen Parteichef Ismet Inönü, der
die Partei als „Links von der Mitte“ beschrieb. Das letzte Mal regierte die
CHP 1979 alleine, 1995 zuletzt in einer Koalition.
Die sechs Grundpfeiler des ursprünglichen Kemalismus sind: Republikanismus,
Laizismus, Populismus, Revolutionismus Nationalismus und Etatismus. Im
Parteilogo der CHP werden diese Prinzipien durch sechs Pfeile
repräsentiert.
In der jungen Republik standen für die CHP vor allem die Trennung von Staat
und Religion [4][sowie der Nationalismus] im Vordergrund: als Gegenkonzepte
zum vorangehenden religiösen und multiethnischen Osmanischen Reich. Neue
Strukturen trieben einerseits die Modernisierung der Türkei voran,
schlossen aber auch große Teile der Bevölkerung davon aus, weil sie sich
nur auf die westlichen Provinzen konzentrierten. Besonders schwer wogen die
strukturelle Benachteiligung und Verfolgung von Minderheiten.
Bis 1945 war die CHP mit wenigen Unterbrechungen die einzige Partei der
Türkei und untrennbar mit dem militarisierten Staat verbunden. In diese
Gründerzeit fällt der [5][Genozid an der Bevölkerung in Dersim 1937/1938],
das damals mehrheitlich von alevitischen Zaza und Kurden bewohnt wurde.
Zehntausende wurden ermordet und umgesiedelt. Die Region wurde noch während
der Ereignisse in Tunceli umbenannt, nach dem General, der die Armee in
dieser Region befehligt hat.
## Keine Anerkennung des Völkermords
Schon anderthalb Jahrzehnte zuvor war aus einer benachbarten Region die
armenische Bevölkerung deportiert und ermordet worden; zwar noch unter der
Verantwortung des osmanischen Regimes, allerdings hat bisher keine der
Regierungen diesen Völkermord anerkannt. Auch nicht die CHP.
Dass der vorletzte Parteivorsitzende selbst familiäre Wurzeln in dieser
Region hat, schafft eine besondere Ambiguität. Nicht zuletzt, weil er sich
bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2023 als Kandidat an dem
rassistischen Wahlkampfdiskurs beteiligt hat, der sich gegen die syrische
Bevölkerung in der Türkei richtet.
Das schlechte Verhältnis der CHP zur religiösen Bevölkerung der Türkei
äußerte sich über viele Jahrzehnte in der stark elitären Haltung der
Partei: ein modernes, das hieß westlich orientiertes, Leben und Religion
würden sich ausschließen. Zumindest sollte die religiöse Praxis im Privaten
bleiben. Das allerdings deckte sich nicht mit der Lebensrealität eines
Großteils der Bevölkerung, was am Wahlerfolg der AKP nicht schwer zu
erkennen ist.
Besonders Frauen im Bildungssektor waren vom elitären Laizismus betroffen.
Das Kopftuchverbot an Universität und Schulen wurde erst 2010 aufgehoben.
Özgür Özel, der sich im November 2023 in einer Kampfabstimmung gegen Kemal
Kılıçdaroğlu durchgesetzt hatte, und der inhaftierte Bürgermeister Ekrem
İmamoğlu scheinen nun als neues dynamisches Duo größere Teile der
Gesellschaft mit ihrer aktuellen Politik anzusprechen. Auch religiöse
Menschen.
Es bleibt abzuwarten, ob die Partei langfristig aus den Fehlern ihrer
Vergangenheit gelernt hat. Kurzfristig aber muss ihr gelingen, alle
demokratischen Kräfte hinter sich zu vereinen. Erdoğan mag demokratisch
gewählt sein. Sein Regierungsstil ist es nicht.
29 Mar 2025
## LINKS
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[4] /Vor-der-Stichwahl-in-der-Tuerkei/!5933440
[5] /Gedenkstaette-fuer-das-Dersim-Massaker/!5553397
## AUTOREN
Canset İçpınâr
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