# taz.de -- Solidaritätsproteste für die Türkei: Im Widerstand verbunden | |
> In der deutsch-türkischen Community wollen jetzt viele um die | |
> demokratische Zukunft des Landes kämpfen. Andere verteidigen Machthaber | |
> Erdoğan. | |
Bild: Die Hemdsärmel hochkrempeln, wie der inhaftierte Istanbuler Bürgermeist… | |
Tayyip istifa!“–„Tayyip, tritt zurück!“, hallt es laut durch die Stra�… | |
von Charlottenburg. Ein kalter Märztag in Berlin, grau und windig. Für | |
einen Moment fühlt es sich an, als stünde man mitten in der Türkei, auf den | |
Straßen von Istanbul, wo die [1][Menschen gegen Unterdrückung kämpfen]: | |
gegen die Einschränkung der Pressefreiheit, gegen die Verfolgung von | |
Oppositionellen und die autoritäre Herrschaft des türkischen Präsidenten | |
Recep Tayyip Erdoğan. Doch der Blick auf die nahe Gedächtniskirche am | |
Breitscheidplatz lässt schnell erkennen, dass hier, in dieser Ecke der | |
Welt, die Realität eine andere ist. Hier gibt es keinen Tränengasnebel in | |
der Luft. Doch der Widerstand, die Wut, die Hoffnung der deutsch-türkischen | |
Menschen, die hier demonstrieren – es sind dieselben Gefühle wie bei den | |
Protesten in der Türkei. | |
Am Breitscheidplatz vor der Gedächtniskirche versammelten sich am | |
Wochenende laut Polizeiangaben etwa 500 Demonstranten. Sie fordern den | |
Rücktritt des türkischen Präsidenten. Plakate werden in die Luft gehalten, | |
auf einem steht: „Ich lerne Deutsch wegen Erdoğan.“ Es ist ein Verweis auf | |
die politischen und gesellschaftlichen Umstände unter der Regierung | |
Erdoğan, die viele Türken und türkeistämmige Menschen dazu zwingen, nach | |
Deutschland zu fliehen und sich hier ein neues Leben aufzubauen. Die Gründe | |
dafür sind vielfältig: politische Verfolgung, die Einschränkung der | |
Meinungsfreiheit und eine zunehmende wirtschaftliche Krise, die viele | |
Menschen in der Türkei dazu drängt, bessere Perspektiven im Ausland zu | |
suchen. | |
Die deutsche Hauptstadt ist die Stadt mit der größten türkischen Community | |
außerhalb der Türkei. Rund 200.000 Menschen türkischer Herkunft leben hier | |
– mehr als in jeder anderen Stadt in Deutschland. Besonders in den | |
Stadtteilen Neukölln, Kreuzberg und Wedding ist die türkische Kultur | |
allgegenwärtig, mit türkischen Restaurants, Moscheen, Vereinen und | |
Geschäften, die das Stadtbild prägen. | |
Auch hier will man Erdoğans Rücktritt: „Ich bin hier für die Rechte meiner | |
Landsleute“, sagt Hilal Cengiz, die ein Plakat in die Luft hält, auf dem in | |
Anspielung auf die Istanbuler Bürgermeisterwahl steht: „Wir haben uns zum | |
ersten Mal darüber gefreut, ohne Betrug gewählt zu haben, und jetzt haben | |
sie den Kandidaten gestohlen.“ Cengiz lebt seit sechs Jahren in Berlin und | |
kommt eigentlich aus Adıyaman, einer Stadt, die sich in der Südosttürkei | |
befindet. Zwar gebe es in Deutschland auch Probleme, aber in der Türkei sei | |
die Demokratie gefährdet, und das dürfe man nicht zulassen sagt sie. | |
Der Protest an diesem Sonntag in Berlin ist bereits die zweite | |
Demonstration nach der Festnahme von Ekrem İmamoğlu. Der beliebte | |
Bürgermeister von Istanbul und stärkste politische Gegner von Präsident | |
Erdoğan wurde am 19. März in seiner Wohnung verhaftet. Am 23. März ordnete | |
ein Gericht Untersuchungshaft an. İmamoğlu wird „Beleidigung von | |
staatlichen Institutionen“ zu Last gelegt. Er soll während einer | |
öffentlichen Rede 2019 Wahlbehörden in der Türkei beleidigt haben. | |
Zusätzlich wird ihm Korruption und die Unterstützung der verbotenen | |
Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen. | |
Die Anschuldigungen kommen im Kontext eines größeren politischen Konflikts, | |
der von vielen als Versuch Erdoğans gesehen wird, einen gefährlichen | |
Rivalen vor den kommenden Wahlen auszuschalten. Unterstützung erhielt der | |
CHP Bund Berlin auch von der Türkischen Arbeiterpartei (TİP), die sich klar | |
gegen die Repression der AKP-Regierung positioniert. | |
Bereits am 23. März hatte der CHP Bund Berlin eine erste Demonstration | |
organisiert, an der noch weitaus mehr Menschen teilnahmen als an diesem | |
Sonntag. In der Türkei selbst führte die Inhaftierung İmamoğlus zu | |
landesweiten Demonstrationen, bei denen es zu zahlreichen Festnahmen kam. | |
Die Regierung reagierte mit harten Maßnahmen. Auch die Pressefreiheit wurde | |
eingeschränkt. Journalist*innen, die über die Proteste berichteten, wurden | |
inhaftiert. Diese Ereignisse lösten auch international Empörung aus und | |
weckten weltweit Solidarität mit der türkischen Opposition. Auch in anderen | |
europäischen Städten wie Paris und London fanden ähnliche Kundgebungen | |
statt. | |
„Natürlich sind wir jetzt von unserer letzten Demo verwöhnt. Heute sind | |
weniger Leute hier, aber das liegt daran, dass heute eben auch Zuckerfest | |
ist“, sagt Ziya Akçetin, der Vorstand des CHP Bund Berlin auf der Demo vor | |
der Gedächtniskirche. Der CHP Bund in Berlin e.V. ist ein mit der | |
Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) in der Türkei lose verbundener Verein und | |
vertritt deren Werte in Deutschland. Der Verein wurde im November neu | |
aufgestellt und agiert unabhängig nach deutschem Vereinsrecht, bleibt aber | |
ideologisch der CHP verbunden. Ziel sei das Engagement für Demokratie, | |
Frauenrechte und eine offene Gesellschaft, sagt Vorstand Akçetin. | |
Akçetin ist Chefarzt in einer Klinik in Brandenburg, Mitglied in der SPD | |
und kommt ursprünglich aus Istanbul. 1982 kam er mit einem Stipendium nach | |
Erlangen. „Ich habe inzwischen eine über 40-jährige Beziehung zu | |
Deutschland“, scherzt er. Doch umso wichtiger findet er, dass sich | |
Deutschland und auch Europa zu den Protesten äußern. Am Sonntag auf der | |
Demo sagt er in seiner Rede, als Bund würden sie nun gefragt, was sie denn | |
von Deutschland wollten. Ein Moment der Stille, dann antwortet er bestimmt: | |
„Wir wollen, dass die deutsche Öffentlichkeit versteht, was in der Türkei | |
passiert und wie wichtig es ist, dass Europa klare Zeichen der Solidarität | |
setzt.“ | |
Die Ärmel seines weißen Hemds sind hochgekrempelt – ein markantes Detail, | |
das er von İmamoğlu übernommen hat und das nun symbolisch für den | |
Widerstand und die Entschlossenheit steht, die in der Atmosphäre spürbar | |
sind. Auch weitere Menschen mit İmamoğlu-Masken und weißen Hemden sind in | |
der Menge zu sehen. Akçetin redet weiter und fordert die SPD auf, zu | |
reagieren. Es sei nicht mit einem Bild auf Social Media getan, sagt er, und | |
bezieht sich auf den Post des SPD-Bundesvorsitzenden Lars Klingbeil. | |
Auch Berlins Bürgermeister Kai Wegner kritisiert er, weil der seine Reise | |
nach Istanbul abgesagt hat. „Er hätte den Besuch im Gefängnis beantragen | |
können und ein Zeichen setzen können“, sagt Akçetin. Ein solcher Besuch im | |
Silivri-Gefängnis, in dem İmamoğlu einsitzt, wäre laut Akçetin zwar | |
grundsätzlich möglich, jedoch keineswegs einfach und würde eine Genehmigung | |
der türkischen Behörden erfordern. Mit Süleyman Yılmaz (CHP), dem aktuellen | |
Vertreter İmamoğlus, der vorübergehend die Aufgaben des Bürgermeisters von | |
Istanbul übernimmt, wäre ein solcher Besuch prinzipiell denkbar gewesen. | |
Selbst im Falle einer Ablehnung durch die türkischen Behörden wäre der | |
Besuch dennoch ein starkes Zeichen der Solidarität gewesen, betont Akçetin. | |
Amed Mardin ist Politik- und Sozialwissenschaftler und Journalist. Außerdem | |
betreibt er in Berlin-Kreuzberg ein kurdisches Restaurant – um auch die | |
kurdische Kultur in Berlin sichtbar zu machen, sagt er. Mardin kommt, wie | |
sein Familienname bereits verrät, aus Mardin, einer Stadt im Südosten der | |
Türkei an der Grenze zu Syrien. 1993 zieht er nach Berlin und studiert an | |
der Freien Universität. „Und jetzt sind es schon 32 Jahre“, sagt er | |
lächelnd, die er hier in der Stadt wohne. | |
Mardin sieht die Situation ähnlich wie Akçetin. Er teilt die Ansicht, dass | |
die politische Repression in der Türkei und die Inhaftierung von Ekrem | |
İmamoğlu nicht unbeachtet bleiben dürfen. Mardin ist der Meinung, dass | |
Europa und insbesondere Deutschland sich deutlich zu dieser Entwicklung | |
äußern müssten. Er betont, dass die internationale Gemeinschaft eine | |
Verantwortung habe, sich gegen die Unterdrückung in der Türkei | |
auszusprechen und die Rechte von politischen Gegnern zu verteidigen. | |
Die AKP habe in Deutschland eine gewisse Struktur geschaffen, um die | |
türkische Community hier anzusprechen, sagt Mardin. „Die Imame in | |
Deutschland werden von der Diyanet ernannt und entsandt“, erklärt Mardin. | |
Die Diyanet ist die oberste Religionsbehörde der Türkei und nur für | |
sunnitische Muslime zuständig. Sie wird von der AKP-Regierung gesteuert. | |
Mit mehr als 140.000 Mitarbeitern und einem Jahresetat von rund 3,2 | |
Milliarden Euro organisiert die Diyanet das religiöse Leben und selbst die | |
Freizeit der Mitglieder, von Korankursen über Sportausflüge. Auch in | |
Deutschland gibt es eine Diyanet-Zweigstelle: die Ditib. Der Verein | |
betreibt bundesweit fast 1.000 Moscheen. „Dadurch bleibt der religiöse | |
Einfluss der türkischen Regierung bestehen“, sagt Mardin. | |
## „Vielleicht darf ich jetzt nie wieder in die Türkei einreisen“ | |
Die Şehitlik Moschee am Columbiadamm in Berlin-Neukölln etwa gehört zur | |
Ditib. Die Abkürzung steht für Türkisch-Islamische Union der Anstalt für | |
Religion. 1995 wurde sie eröffnet, sie ist eine der bekanntesten Moscheen | |
in Berlin. Eine Gruppe Jugendlicher steht vor dem Eingang der Moschee. | |
Emirhan Şimşek ist 16 Jahre alt, er verfolge die Proteste in der Türkei, | |
sagt der Schüler. Erst wirkt er zögerlich, dann sagt er: „Ich finde das | |
nicht gut, was da passiert, Erdoğan soll aufhören.“ Ein Freund von ihm | |
nickt. | |
Şimşek sagt weiter: „Ja, İmamoğlu ist vielleicht sein Rivale, aber es ist | |
brutal, was er da abzieht.“ Er unterstütze die Proteste und die jungen | |
Menschen, die auf den Straßen für den Erhalt ihrer Demokratie kämpfen. Und | |
er sagt, dass er froh sei, sich in Deutschland nicht mit solchen Problemen | |
beschäftigen zu müssen. | |
Ein anderer Jugendlicher gesellt sich dazu. Er trägt eine Kufi, eine kleine | |
runde Kopfbedeckung, sie wird von vielen muslimischen Männern insbesondere | |
beim Gebet getragen. In der Hand hat er eine schwarze Gebetskette. | |
„Vielleicht darf ich jetzt nie wieder in die Türkei einreisen“, sagt er | |
lachend. Seine Freunde lachen mit. „Aber das geht nicht, wie Erdoğan die | |
Leute vollsprühen lässt mit Pfefferspray. Das ist echt scheiße“, sagt er. | |
Was man von Deutschland aus tun könnte? „Protestieren!“, antworten sie | |
einstimmig. Sie wollen ihre Solidarität zeigen und hoffen, dass dadurch | |
etwas bewegt werden kann. | |
Die Proteste in Deutschland zeigen aber auch: Es gibt viele, die Erdoğan | |
weiter unterstützen. Unter ihnen ist die 21-jährige Hilal Kurtoğlu. Die | |
Studentin der Ingenieursinformatik erzählt, dass sie die Proteste nicht | |
ganz verstehe. Ihrer Meinung nach sollten die Protestierenden die | |
Ermittlungen gegen İmamoğlu abwarten. „Aber wenn sie schon demonstrieren, | |
dann sollten sie sich an Regeln halten. Polizisten mit Steinen oder Säure | |
zu bewerfen, geht gar nicht“, sagt Kurtoğlu. Die Vorwürfe gegen İmamoğlu | |
seien aus seiner eigenen Partei gekommen und „der Präsident hat mit der | |
ganzen Sache nichts zu tun“, ist sie überzeugt. | |
Tatsächlich gibt es keine belegten Berichte darüber, dass Demonstrierende | |
in der Türkei Polizisten mit Steinen oder Säure attackiert hätten. Diese | |
Behauptungen kursieren vor allem in regierungsnahen türkischen Medien und | |
werden genutzt, um die Protestbewegung als gewalttätig darzustellen. | |
Kurtoğlu sagt, sie beziehe ihre Informationen aus türkischen Medien, etwa | |
dem regierungsnahen Sender TRT. Solche Sender stehen unter erheblichem | |
Einfluss der Regierung und berichten selektiv, wodurch alternative | |
Perspektiven häufig unterdrückt werden. Die Reaktionen der türkischen | |
Polizei seien berechtigt, sagt die Studentin. „Wir haben auch in | |
Deutschland gesehen, dass unerlaubte Palästina-Demos aufgelöst wurden. Wer | |
sich gewehrt hat, wurde von der Polizei angepackt. Die Polizei muss überall | |
für Frieden und Ordnung sorgen“, ergänzt Kurtoğlu. | |
In Deutschland leben etwa 2,8 Millionen Menschen mit türkischem | |
Migrationshintergrund. Bei der Präsidentschaftswahl 2023 waren in | |
Deutschland etwa 1,5 Millionen Türken wahlberechtigt. Die AKP von Präsident | |
Erdoğan erhielt in Deutschland rund 49,5 Prozent der Stimmen, was einen | |
Rückgang von etwa sieben Prozentpunkten im Vergleich zu 2018 darstellt. | |
Auch bei der Präsidentschaftswahl verlor Erdoğan unter den hier lebenden | |
Wählern an Unterstützung, dennoch bleibt seine Popularität in der | |
türkischen Community in Deutschland hoch. | |
Offizielle Wahlergebnisse der Hohen Wahlkommission der Türkei (YSK) sowie | |
Analysen von Medien wie Anadolu Ajansı und der Deutschen Welle belegen | |
diesen Trend. Studien von Meinungsforschungsinstituten zeigen zudem, dass | |
sich das Wahlverhalten türkeistämmiger Wähler in Deutschland allmählich | |
verändert. Besonders relevant sind in diesem Zusammenhang die Kurden, eine | |
bedeutende Wählergruppe, die für die AKP potenziell Stimmen gewinnen | |
könnte. | |
„Es ist Fakt, dass viele Türken und Türkinnen in Europa – besonders in | |
Deutschland, Österreich und Frankreich – als Gastarbeiter gekommen sind. | |
Sie stammen oft aus konservativen und religiösen Familien“, erklärt der | |
Politikwissenschaftler Mardin. Die ersten türkischen Gastarbeiter kamen in | |
den 1960er Jahren nach Europa, vor allem nach Deutschland. Viele fühlten | |
sich lange wirtschaftlich, sozial und politisch ausgegrenzt. Die AKP unter | |
Erdoğan sprach gezielt konservative und religiöse Türkeistämmige an, | |
vermittelte ihnen Anerkennung und Zugehörigkeit und stärkte ihre Bindung | |
durch Religionsangebote und symbolische Wahlkampfauftritte. So bleibt | |
Erdoğan für viele, trotz Kritik an ihm, eine wichtige Figur. | |
Ali Parlak ist ebenfalls an der Şehitlik Moschee anzutreffen, er lebt nun | |
seit 40 Jahren in Deutschland und kommt aus Konya, einer Stadt im zentralen | |
Anatolien der Türkei, bekannt als eine der AKP-Hochburgen. Parlak antwortet | |
direkt auf die Frage, wie er denn die Situation der Türkei einschätzt: | |
„Unnötig, vollkommen unnötig, dass die da alle auf den Straßen unterwegs | |
sind“, sagt er. Erdogan mache einen guten Job und das schon seit 22 Jahren. | |
Der CHP aber würde es nur um Macht gehen, die hätten İmamoğlu selbst | |
angezeigt und alles sowieso inszeniert, um Erdogan zu stürzen, erzählt er. | |
Woher er diese Informationen habe? „Überall in den Nachrichten, im | |
Fernsehen zeigen die das“, sagt er, während er seine Hände hektisch bewegt | |
beim Reden. In Deutschland aber wähle er die SPD. | |
Ein nicht untypisches Wahlverhalten unter türkeistämmigen Wählern in | |
Deutschland. Laut einer Studie mit rund 2.700 Befragten des Deutschen | |
Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) aus dem Januar | |
hat die SPD das größte Wählerpotenzial unter Menschen mit | |
Migrationshintergrund, insbesondere bei jenen mit türkischer | |
Einwanderungsgeschichte. Das zeigt, dass politische Entscheidungen oft | |
pragmatisch getroffen werden. Viele türkeistämmige Wähler bevorzugen in | |
Deutschland sozialdemokratische Parteien wie die SPD, weil sie für | |
Arbeitnehmerrechte, soziale Sicherheit und eine migrationsfreundlichere | |
Politik stehen, von der sie direkt profitieren. In der Türkei hingegen | |
unterstützen sie die AKP, weil sie sich mit deren konservativen Werten, | |
ihrem Nationalismus oder ihrem Versprechen von Stabilität identifizieren | |
Eine weitere AKP-Wählerin, die lieber anonym bleiben möchte, da sie anders | |
denkt als ihre Freunde und Familie, sagt: „Ich wähle die AKP und werde auch | |
weiterhin Erdoğan wählen. Er hat so vieles gemacht, Straßen gebaut, die | |
Türkei wirtschaftlich aufgebaut.“ Alles andere was gesagt werde, das seien | |
nur Lügen. Und sie verstehe auch nicht, was diese Leute von Erdoğan wollen, | |
schließlich wurde er ja gewählt – und was könne er dafür, dass İmamoğlu | |
korrupt sei? Auch in der Türkei dürfe man wählen und so herumlaufen, wie | |
man wolle. Das Land sei „modern“, findet sie, und außerdem: „Es ist ja | |
nicht so als hätten sie dort nichts“, sagt sie. Und der Wertverlust der | |
Währung, die Verteuerung der Lebenshaltungskosten? Ihr komme das entgegen, | |
sagt die Frau, sie freue sich schon auf den nächsten Urlaub, es sei „echt | |
billig inzwischen alles“. | |
Der kurdische Wissenschaftler und Journalist Mardin sagt über die AKP: „Die | |
Partei existiert für mich als Fassade.“ Innerhalb der AKP, sagt er, „gibt | |
es keine Persönlichkeiten, die sich gegen Erdoğan stellen können. Jeder, | |
der sich gegen ihn stellt, weiß, dass er mit schwerwiegenden Konsequenzen | |
rechnen muss.“ Mardin verweist darauf, dass Kandidaten, die in der AKP für | |
Parlamentswahlen antreten, durch den türkischen Geheimdienst (MIT) | |
überprüft würden. „Ich möchte nicht sagen, dass es wie in einem Gulag ist, | |
aber ich habe von Leuten gehört, die von negativen Berichten betroffen | |
waren und aus der Partei entfernt wurden“, sagt er. | |
Mardin glaubt, dass die politische Lage unter Erdoğan tiefgreifende | |
Auswirkungen auf die politische Landschaft in der Türkei und in Europa | |
haben wird. Er erklärt, dass nationalistische Kräfte nicht nur Erdoğan | |
stützen, sondern auch die Opposition und die kurdische Bevölkerung | |
marginalisierten. Viele Kurden seien politisch an den Rand gedrängt worden, | |
was dazu führe, dass sich viele von der politischen Auseinandersetzung in | |
der Türkei distanzierten. | |
Die Stimmung in den türkischen und kurdischen Gemeinschaften ist gespalten. | |
[2][Einige Kurden lehnen den Kemalismus, den die CHP vertritt, ab]: Weil | |
sie unter dieser Ideologie gelitten haben, sagt Mardin, insbesondere durch | |
die kulturelle Unterdrückung und die Zwangsintegration in eine türkische | |
Nationalidentität. Während der kemalistischen Ära Anfang des 20. | |
Jahrhunderts wurden die kurdische Sprache und Traditionen unterdrückt, und | |
politische Forderungen nach Autonomie wurden gewaltsam niedergekämpft. | |
Infolgedessen empfinden viele Kurden den Kemalismus als eine Ideologie, die | |
ihre Rechte und ihre Kultur missachtete. Ein Beispiel dafür ist die | |
gewaltsame Unterdrückung des Dersim-Aufstands, auch bezeichnet als das | |
Dersim-Massaker 1937/1938, bei dem Tausende von kurdisch-alevitische | |
Zivilisten durch das türkische Militär getötet wurden, weil sie gegen die | |
Assimilationspolitik Widerstand leisteten. | |
Auch wenn viele in Deutschland lebende Kurden sich durchaus für kurdische | |
Parteien und Bewegungen einsetzen: Die Mehrheit bleibt politisch neutral, | |
oft aufgrund von Enttäuschungen über die politischen Entwicklungen oder aus | |
einem Gefühl der Entfremdung von beiden Seiten, sowohl vom Kemalismus der | |
CHP wie auch vom Nationalismus von Parteien wie der AKP. | |
Fest steht, dass es in Berlin weitere Demonstrationen geben wird. Auch in | |
Frankfurt am Main war für Mittwochabend eine Demo geplant. Laut der TIP | |
haben sich 30 türkische Vereine in Berlin nun zu einer gemeinsamen | |
Plattform der Demokratie zusammengeschlossen. Für die kommenden Wochenenden | |
sind bereits Demonstrationen geplant. „Wir hören auf, wenn wir kein | |
Präsidialsystem mehr haben und die Türkei nicht mehr von einem | |
Alleinherrscher regiert wird“, sagt CHP-Bund-Vorstand Akçetin. | |
Während sich die Menschen auf dem Berliner Breitscheidplatz langsam | |
zerstreuen, hallt noch einmal ein Ruf aus der Menge: „Tayyip istifa!“ Es | |
ist ein harter Kampf um die Zukunft der Türkei, der auch hier in | |
Deutschland spürbar ist. | |
Mitarbeit: Klarissa Krause | |
2 Apr 2025 | |
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