# taz.de -- Türkische Opposition: Warum geht Erdogan jetzt gegen die CHP vor? | |
> Präsident Erdoğan hat die CHP faktisch entmachtet. Die kemalistische | |
> Oppositionspartei erlebt derzeit, was kurdische Parteien schon lange | |
> kennen. | |
Bild: Erdoğan strebt eine neue Verfassung an, die ihm den Weg für eine weiter… | |
Berlin taz | Mit der Räumung der CHP-Zentrale und dem [1][Einsetzen eines | |
Zwangsverwalters durch die Regierung] ist die größte Oppositionspartei in | |
Istanbul faktisch entmachtet. Warum geht der türkische Präsident Recep | |
Tayyip Erdoğan so gegen sie vor? | |
Was die CHP seit dem Frühjahr dieses Jahres erlebt, kennen kurdische | |
Parteien schon lange. Seit 2016 wurden in den [2][kurdisch geprägten | |
Gebieten] Dutzende demokratisch gewählte Bürgermeister:innen durch | |
staatliche Treuhänder ersetzt. | |
Während [3][Präsident Erdoğan die CHP schwächt und spaltet], präsentiert er | |
sich selbst als Staatsmann des Friedens: Die Gespräche mit der | |
prokurdischen DEM-Partei und die begleitende Kommission zur Entwaffnung der | |
PKK – auf den ersten Blick ein historischer Schritt in Richtung Frieden – | |
ist für Erdoğan ein wichtiges machtpolitisches Instrument. | |
Die kurdische Seite stellt dabei klare Forderungen: verfassungsrechtliche | |
Anerkennung ihrer Identität, muttersprachlicher Unterricht, mehr | |
Selbstverwaltung und ein inklusives Staatsbürgerschaftsmodell. | |
Erdoğan wiederum strebt eine neue Verfassung an, die ihm den Weg für eine | |
weitere Kandidatur 2028 ebnen soll – dafür braucht er die Stimmen der DEM. | |
Frieden und Repression greifen damit ineinander. Was nach Öffnung aussieht, | |
[4][dient zugleich der Spaltung der Opposition]. Die CHP wird durch Zwang | |
geschwächt, die DEM durch Zugeständnisse eingebunden. Um seine Macht zu | |
sichern, ordnet der Präsident die politische Landschaft neu. | |
## Schon Selahattin Demirtaş wurde inhaftiert | |
Bereits nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 wurde der damalige | |
HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş inhaftiert. Auch er stellte eine | |
ernsthafte Bedrohung für Erdoğan dar, weil er breite gesellschaftliche | |
Unterstützung mobilisieren konnte. | |
Heute ist es der I[5][stanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu], der als | |
populärster Oppositionspolitiker gilt und im März verhaftet wurde. In | |
beiden Fällen zielte die Repression auf charismatische Figuren, die die | |
Machtverhältnisse zu verschieben drohten. Erdoğan schreitet gegen | |
Konkurrent:innen ein, sobald sie für ihn zur Gefahr werden – bisher | |
meist kurdische, nun auch kemalistische Kräfte. | |
Die Rolle der DEM ist dabei ambivalent: Zwar verhandelt sie mit AKP und MHP | |
[6][über Frieden], doch sie macht sich weder mit der Regierung noch mit der | |
oppositionellen CHP gemein. Die Unabhängigkeit verschafft ihr Einfluss, | |
birgt aber auch die Gefahr – wenngleich ungewollt – Erdoğans Macht zu | |
stützen. | |
Der Angriff auf die CHP ist kein isolierter Vorgang, sondern Teil einer | |
umfassenden Strategie: Schrittweise Zermürbung der Opposition, juristische | |
Instrumentalisierung für politische Zwecke – und das alles unter dem | |
Deckmantel demokratischer Normalität. | |
## Alles kein Zufall | |
Der 15. September wird dabei womöglich ein Scharniermoment: An diesem Tag | |
verhandelt das Gericht in Ankara über die Annullierung der | |
Parteitagsergebnisse vom November 2023 – also jener Kongress, [7][bei dem | |
Özgür Özel zum Parteichef] gewählt wurde. Sollte das Verfahren erfolgreich | |
sein, droht nicht bloß die Ablösung Özels, sondern auch eine Rückbesinnung | |
auf die alte Führung um Kemal Kılıçdaroğlu. Damit würde die CHP nicht nur | |
personell, sondern strukturell ausgehöhlt. | |
Diese [8][Entwicklungen sind kein Zufall], sondern orchestriert. Die | |
jüngsten Gerichtsurteile folgen dem altbekannten Muster: Entzug | |
demokratischer Legitimation unter dem Deckmantel juristischer Formalitäten. | |
„Gerichte entscheiden nun, die Demokratie buchstäblich vom Wahlkampf zur | |
Diktatur zu kippen“, warnt Howard Eissenstat, Politikwissenschaftler und | |
Non-Resident Scholar am Institute for Turkish Studies an der Universität | |
Stockholm, in einem Social-Media-Beitrag. | |
Özel selbst spricht von einem „juristischen Staatsstreich“. Er vergleicht | |
das türkische mit dem russischen Parteiensystem und beobachtet, dass | |
Erdoğan sein Regierungsmonopol immer harscher durchsetzt. | |
Viele Bürger:innen sorgen sich deshalb, dass keine demokratische Kraft | |
stark genug ist, Erdoğan aufzuhalten. Zugleich wächst der Widerstand – vor | |
allem junge Menschen gehen erneut zu Hunderttausenden auf die Straße. Mit | |
dem [9][Angriff auf die CHP] und dem bevorstehenden Gerichtstermin wird | |
klar: Der Plan des Präsidenten könnte aufgehen. Am 15. September könnte die | |
Türkei einen weiteren Schritt weg von der Demokratie und tiefer hinein in | |
eine Autokratie machen. | |
9 Sep 2025 | |
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## AUTOREN | |
Derya Türkmen | |
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