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# taz.de -- Schwarze Frauen in Nigeria und den USA: Der Nicht-Heirats-Plot
> In „Dream Count“ erzählt Chimamanda Ngozi Adichie von vier
> unterschiedlichen Frauenleben. Was repräsentieren diese Figuren?
Bild: Eine Hochzeit bietet in diesem Roman keinen Ausweg
Der „Marriage Plot“ ist ein in der englischsprachigen Literatur sehr gut
eingeführter Begriff. Die realistischen Romane etwa Jane Austens wären ohne
ihn undenkbar. Es ging darum, über die Verheiratungsrituale der Zeit, ihre
Klippen, oft genug auch ihre Tragik, das Frauenleben im 19. Jahrhundert zu
beschreiben. Das Drama ergab sich daraus, dass die Liebe und die
gesellschaftlichen Konventionen unterschiedlichen Regeln folgten.
Nachdem Chimamanda Ngozi Adichie vor einem Dutzend Jahren mit [1][ihrem
Welterfolg „Americanah“] die Tür zur Möglichkeit eines post-postkolonialen
Erzählens ein Stück weit aufgestoßen hat, hat sie sich für ihren aktuellen
Roman „Dream Count“ offenbar die Frage gestellt, wie weit sie erzählerisch
mit dem Gegenteil eines Marriage Plots kommt, einem Nicht-Heirats-Plot.
Das ist zunächst ziemlich weit. So kann Adichie ganz nebenbei ein
Panoptikum von Männerfiguren entwerfen, mit denen es nicht klappt. Sie sind
entweder zu selbstbezogen oder zu unentschlossen oder vergessen,
interessanterweise beim einzigen Mal, als es um eine „Mixed
raced“-Verbindung geht, beim Daten zu erwähnen, dass sie bereits
verheiratet sind.
## Karriereplanung, Selbstverwirklichung und Missverständnisse
Vor allem aber kann Adichie am Heiratsthema ihre vier sehr
unterschiedlichen weiblichen Hauptfiguren auffächern. Zwei von ihnen,
Chiamaka und Zikora, stecken in den für moderne Frauen ihrer Generation
üblichen Mühlen aus Karriereplanung, Selbstverwirklichung, elterlichen
Aufträgen und alltäglichen Missverständnissen fest, und zwar so lange, bis
die Menopause zuschlägt.
Sie müssen erkennen, dass Intelligenz, Selbstbewusstsein und gute
Ausbildung nicht automatisch zum Familienglück führen. Chiamaka lernt den
Schmerz kennen, „einen lieben Menschen lieben zu wollen, den man nicht
liebt“. Zikora wird von ihrem Partner sitzen gelassen, nachdem sie
schwanger wird. Und muss dann darüber nachgrübeln, ob ihm womöglich gar
nicht klar gewesen ist, was es bedeutet, als sie ihm sagte, sie setze jetzt
die Pille ab, okay?
Omelogor dagegen, die nach Nigeria zurückkehrt, durch Geldwäsche reich wird
und ein mondänes Oberschichtleben führt, will gar nicht heiraten. Bei
Kadiatou, der vierten Hauptfigur, liegt die Sachlage noch einmal anders.
Sie kommt aus der Armut, kann auch nicht mal eben zwischen den USA und
Westafrika hin und her jetten. In ihrer Heimat war sie traditionell
verheiratet worden, doch ihr Ehemann ist dann gestorben. Ihr Verlobter in
den USA landet wegen Drogenhandels im Gefängnis.
## Der Fall Dominique Strauss-Kahn
Und sie wird, was dem Roman ein Gutteil seiner existenziellen Schwere gibt,
vergewaltigt. Chimamanda Ngozi Adichie hat sich, wie sie im Nachwort
erläutert, vom Fall Dominique Strauss-Kahn inspirieren lassen, des
Direktors des Internationalen Währungsfonds, der 2011 durch die Weltpresse
ging – ein Vorläuferfall der Me-too-Bewegung. Vier Frauenleben, jedes
verläuft anders.
Kurze Dialoge und Szenenbeschreibungen, Vorgriffe, innere Monologe, in
denen das Innenleben der Figuren deutlich zu Tage tritt, gelegentliche
Wechsel der Erzählperspektive – der Roman ist in einem international Style
geschrieben, der weltweit als Realismus verstanden wird. Das ist dem Buch
in manchen Besprechungen auch schon vorgeworfen worden, doch dieser Vorwurf
trifft nicht den Kern.
Man macht sich den Roman interessanter, wenn man wahrnimmt, dass es
Schwarze Frauen sind, die teilweise durch die „Sex and the
city“-Kontroversen gehen müssen (und kein Mister Big weit und breit in
Sicht ist), die in der Serie weißen Upperclass-Frauen vorbehalten sind.
Dieses Moment von Aneignung liest man mit. Das ist kein literarisches
Kriterium? Doch, das ist es. Es gehört zu dem Kontext und dem
Literaturbegriff, den der Text setzt.
## Spezifische Geschichten einzelner Frauenfiguren
Dies ist ein Roman, der in den USA und in Europa und zum Beispiel [2][auch
in Nigeria gelesen werden will.] Und es ist schlicht interessant, dass er
dazu aus den üblichen Narrativen um Migration und den globalen Süden
ausbricht und spezifische Geschichten einzelner Frauenfiguren anbietet.
Das sind alles andere als Heldinnengeschichten. Ganz großartig ist etwa die
Episode, in der Zikora ihr Kind bekommt, in den USA, dann eben ohne
Beteiligung des Kindesvaters, dafür reist ihre Mutter aus Nigeria zur
Unterstützung an. Was zum Ergebnis hat, dass Zikora inmitten des
Geburtsstresses sich auch noch mit traditionellen nigerianischen
Vorstellungen von Mutterschaft und Kinderkriegen auseinandersetzen muss.
Die Solidarität unter Frauen, auf die die Handlung zielen wird, ist eben
nichts, was einfach vorausgesetzt werden kann; sie muss in diesem Roman
erkämpft werden, und zwar teilweise gegen überkommene familiäre Muster von
Weiblichkeit.
Und mittendrin gibt es eine lange erzählerische Strecke über das
Heranwachsen von Kadiatou in Guinea, bevor sie in den USA als Zimmermädchen
arbeitet. Eingebunden in dörfliche, lebensweltlich reaktionäre Strukturen,
träumt sie zusammen mit ihrer älteren Schwester Binta von anderen Welten,
in denen Mädchen in die Schule gehen: „Bintas Träume funkelten.“
## Rituelle Beschneidung, Kadiatou und Binta
Wie Adichie hier ohne Eifer und ohne Zorn ein Frauenleben erzählt, in dem
Emanzipation noch ein ferner Traum ist, hat Größe. Man spürt beim Lesen
ihren Willen, all ihre Bekanntheit und ihren Status als Literaturstar
(Treffen mit Angela Merkel, in Minuten ausverkaufte Romanpremiere in Berlin
etc.) für diese eine Frauenfigur einzusetzen – bis hin zur Beschreibung der
rituellen Beschneidung, der Kadiatou und Binta unterworfen werden, von
ihrer eigenen Mutter.
Es stimmt schon, die Männer kommen in diesem Roman nicht gut weg, eine
Hochzeit bietet eben keinen Ausweg, aber mindestens ebenso krass sind die
Generationskonflikte unter Frauen.
Das führt zu Verschiebungen. Im 20. Jahrhundert waren es die spezifischen
Geschichten von Emanzipationsdramen in US-Vororten und Identitätsdramen
jüdischer Intellektueller – John Updike und Philip Roth –, die erzähleris…
um die Welt gingen (als sich der Westen noch mit der Welt in eins setzen
konnte).
## Selbstfindungsdramen Schwarzer Frauen
Bei Adichie sind es die Selbstfindungsdramen und Solidarisierungsversuche
Schwarzer Frauen zwischen Nigeria und den USA. Was repräsentieren sie?
Vielleicht schlicht die Einsicht, dass es in diesem Erzählen nicht um
universale, abstrakte Geschichten geht, sondern um konkrete Personen mit
ihren jeweiligen spezifischen Hintergründen und identitären
Mischungsverhältnissen.
Es ist sehr schade, dass man diesen Roman – in der gegenwärtigen
politischen Situation scheint die Zeit für Öffnungen vorbei – nicht als
Beginn von etwas lesen kann, sondern womöglich sogar als Schlusspunkt einer
abgewürgten Entwicklung hin zu den konkreten Geschichten, die Menschen in
dieser komplexen Welt erleben, lesen muss.
27 Mar 2025
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## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
Literatur
Nigeria
Frauen
Ehe und Familie
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