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# taz.de -- Buchclubs: Der Club der stillen Dichterfreunde
> In „Silent Book Clubs“ liest man gemeinsam und doch für sich allein, jede
> ihr eigenes Buch. Ist das seltsam oder gemütlich?
Bild: Das gemeinsame für sich Sein erinnert mich an wohlige Nachmittage im WG-…
Es ist der letzte Donnerstag des Monats, und ich sitze über einen Roman
gebeugt auf einem grünen Sofa. Um mich herum stehen volle Bücherregale,
links neben mir taucht eine junge Frau in eine Fantasy-Welt ein, zu meiner
Rechten liest eine Physiotherapeutin ihre Fachliteratur.
Acht weitere Personen sitzen mit uns in der Sitzecke der Bibliothek am
Luisenbad in Berlin-Gesundbrunnen auf Couches und Holzstühlen und sind
vertieft in ihre Bücher. Raschelnde Seiten, ein leises Atmen, ein kurzes
Schlürfen in der Teetasse, ansonsten ist es still. Denn hier trifft sich
einmal im Monat der [1][„Silent Book Club“].
Das Konzept dieses Clubs ist simpel: Fremde Menschen kommen zusammen, um
gemeinsam [2][in Stille zu lesen]. Anders als bei gewöhnlichen Buchclubs
bringen alle ihre eigenen Bücher mit.
Lesen und dabei nicht allein sein? Ich finde den Gedanken befremdlich, im
Beisein mir Unbekannter in ein Buch einzutauchen. Kann ich mich da
überhaupt fallen lassen? Oder kann genau dadurch eine besondere Form von
Gemeinschaft entstehen?
Vielleicht ist der stille Buchclub auch endlich meine Chance, wieder ein
neues Buch zu entdecken. Denn so gern ich behaupten würde, dass ich oft
stundenlang lese und mir kritische Kommentare in dicke Bücher schreibe –
tatsächlich ist mein letzter Roman Monate her, und lasse ich mich zu gern
von Reality-TV berieseln.
In der Bibliothek am Luisenbad sind die letzten Tagesbesucher gegangen. Das
Licht ist gedimmt. Auf ein kleines Tablett hat Organisatorin Patricia
Zielke warmen Apfelsaft, Gummibärchen und Bio-Limonaden gestellt, daneben
eine Tulpe in einer kleinen Vase. Lümmeln, lesen und warmer Apfelsaft? Ich
fühle mich an den Kindergarten erinnert.
## Wer liest was?
Der Abend beginnt mit einer Runde, in der alle kurz erzählen, was sie an
diesem Abend lesen wollen. „Ich habe ‚All about Africa. Was du über den
Kontinent wissen solltest‘ dabei“, erzählt ein junger Mann Mitte zwanzig,
er ist der einzige männliche Teilnehmer der Runde. Während er spricht,
blickt er etwas unsicher auf den Boden. Er wolle mehr über „Afrika“ lernen,
da habe er große Wissenslücken. Er erntet zustimmendes Nicken der Runde.
„Ich lese ‚22 Bahnen‘ [3][von Caroline Wahl], eine Geschichte über eine
Mathematikstudentin, die ihr Leben, das ihrer kleinen Schwester und ihrer
alkoholkranken Mutter wuppt“, sage ich in die Runde. Das Buch hatte ich
mangels Lektüre aus dem Regal meiner Mitbewohnerin gezogen, es erschien mir
intelligent und massentauglich genug, um es mitzubringen. Einige
kommentieren, dass sie es begeistert gelesen hätten oder es auf ihrer
Leseliste stehe.
Den stillen Leseclub gibt es seit Oktober. Meistens kommen um die 15
Menschen, der Großteil ist weiblich und um die 30. Ins Leben gerufen hat
den Lesetreff die Bibliothekarin Patricia Zielke. „Im Vergleich zum
klassischen Buchclub ist das etwas für viel beschäftigte Leute“, sagt sie.
Viele Teilnehmerinnen erzählen, dass ihnen im Alltag die Zeit zum Lesen
fehle. „In meiner Freizeit schaffe ich es selten, weil ich ein kleines Kind
zu Hause habe“, erzählt Teilnehmerin Thekla. Sie will den Abend nutzen, um
in die Autobiografie einer Theatermacherin einzutauchen.
Anders als bei Lesekreisen, die gemeinsam ein Buch lesen, gebe es keinen
Druck, bis zu einer bestimmten Seitenzahl zu kommen, da alle ihre eigenen
Bücher mitbringen. „Hier heißt es: Mobilgeräte ausschalten und auf den
Moment einlassen“, sagt Patricia Zielke. Besonders für introvertierte
Menschen sei der stille Buchclub eine gute Möglichkeit, neue Kontakte zu
knüpfen. „Man hat direkt den Anknüpfungspunkt Bücher und kann darüber ins
Gespräch kommen.“
## „Silent Book Clubs“ gibt es in über 50 Ländern
Entstanden ist die Idee des „Silent Book Club“ 2012 in San Francisco. Die
Freundinnen Guinevere de la Mare und Laura Gluhanich organisierten in ihrer
Nachbarschaft die erste Leserunde. Mittlerweile gibt es rund 1.500 Gruppen
in über 50 Ländern.
Die Treffen werden ehrenamtlich organisiert, sind immer kostenlos und
finden in Cafés und Büchereien statt. Beworben werden sie über soziale
Netzwerke und Aushänge. In Deutschland konzentrieren sich die 32
Ortsgruppen auf größere Städte, doch auch in der 7.000-Seelen-Gemeinde
Flintbek in Schleswig-Holstein trifft man sich regelmäßig zum stillen
Lesen.
In der Bibliothek in Berlin sollen nun auch alle in ihre Seiten eintauchen.
Patricia Zielke stellt einen Handywecker, der alle Lesenden nach einer
Stunde aus ihrer Bücherwelt holen soll. Ich fühle mich unter Druck gesetzt,
mich jetzt auf mein Buch einlassen zu müssen, und fange erst mal mit dem
Klappentext an.
Hoffentlich muss ich nicht plötzlich niesen und unterbreche die Stille.
Über meine Buchseiten beobachte ich die Runde. Die meisten wirken
fokussiert und scheinen schon tief in einer Geschichte zu stecken, ein paar
fangen meinen Blick ein. Ich gucke schnell woandershin, es soll schließlich
niemand merken, dass ich mich nicht auf die Situation einlassen kann. Ich
versuche, ein paar Zeilen zu lesen.
Erst als ich aufschrecke, weil der junge Mann hastig seine Jacke greift und
die Runde verlässt, merke ich, dass ich tief in mein Buch versunken war.
Musste er früher los, war ihm sein Buch zu langweilig oder konnte er sich
auf seinem Holzstuhl nicht entspannen?
Ich jedenfalls bin deutlich ruhiger geworden, denn das gemeinsame
Für-sich-Sein hat mich an wohlige Nachmittage im WG-Wohnzimmer erinnert.
Ich genieße, dass hier Menschen um mich sind und ich nicht mit ihnen reden
muss. Gemeinschaft kann so schön sein, wenn es keine Erwartung gibt, zu
interagieren! Zu Hause würde ich meinen Lesefluss häufig unterbrechen, um
einen Blick aufs Handy zu werfen. Aber weil niemand das macht, beherrsche
ich mich. Tut gut, dem Lesen so viel Raum zu geben.
Düm, dü, dü, dü, düm. Gerade an einer spannenden Stelle hat nun der
Handywecker geklingelt. Ich fühle mich ein bisschen, als würde ich nach
einem Nickerchen aufwachen, und brauche kurz, um zu realisieren, wo ich
gerade bin. Die anderen erzählen von ihren Büchern. Patricia Zielke liest
eine Stelle vor, die sie bewegt hat. Es ist ein kurzes „Teilen“, aber ein
Gespräch entsteht nicht.
Als sich dann alle verabschieden und auf den Heimweg machen, kommt mir das
Ende zu abrupt. Ich war fest davon ausgegangen, im Anschluss in einer
Kneipe zu versacken, angeregt über Literatur diskutierend. Aber hier
scheint es einfach um eine kurze Pause vom Alltag zu gehen, in den dann
alle nach einer Stunde zurückkehren. Es war gemütlich und harmonisch – aber
auch ganz schön brav.
31 Mar 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Marietta Meier
## TAGS
Literatur
Hobby
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Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
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zionismus
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