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# taz.de -- Leipziger Buchmesse startet: Zeit des Übergangs
> Warum lesen Menschen Bücher? Und auf welche Romane einigen sich
> Literaturkritiker? Ein paar Fragen vor der Eröffnung der Leipziger
> Buchmesse.
Bild: Ist das ein Statuskäufer?
Sie Statuskäufer, Sie! – Eigentlich wollte ich diesen Vorbuchmessentext mit
einer kleinen Betrachtung über dieses doch recht originelle Schimpfwort
beginnen. Hat man nicht gleich eine melancholische, leicht loriothafte
Filmszene im Kopf?
Zwei Menschen in einem Wohnzimmer. Der eine steht stolz vor seinem
imposanten Bücherregal. Thomas Mann in der Großen Frankfurter, Goethe in
der Hamburger Ausgabe, Nabokov in diesen schlichten braunen Hardcovern. Und
der andere pustet den Staub von den Bänden und erkundigt sich leicht
spöttisch, welche Bücher davon denn tatsächlich gelesen worden seien.
Allein, so ganz funktioniert dieser spielerische Ansatz derzeit nicht. Die
Realität ist zu massiv. Erst die Pandemie, dann der russische Angriffskrieg
gegen die Ukraine und nun diese ständig neu fassungslos machenden
Machtergreifungsnachrichten aus den USA – die Buchmessen der 2020er Jahre
fanden bislang unter, um das Mindeste zu sagen, herausfordernden Umständen
statt, und diese Leipziger Messe, die am 26. März eröffnet wird, wird es
auch tun. Wie damit umgehen?
Klar, wir alle, Verlagsmenschen, Autor*innen, Journalist*innen,
Leser*innen, werden uns bemühen, die Katastrophen als „Themen“ zu
behandeln. Tapfer wird parallel dazu die Kraft von Geschichten und
allgemein die Macht des Lesens beschworen werden. Aber in den stillen
Momenten wird man sich auch seltsam vorkommen. So, als dümpelte man in
einer zwar hell erleuchteten, aber auch schwankenden Nussschale an einem
Erdbeben entlang.
## Wut und Wertung
Dabei gibt es unbedingt auch literaturästhetische und
literatursoziologische Punkte zu besprechen. Auf das Wort vom
„Statuskäufer“ kann man zum Beispiel stoßen, wenn man sich das Interview
durchliest, das [1][Johannes Franzen] neulich dem Tagesspiegel zu seinem
Buch „Wut und Wertung“ gegeben hat. „Was verloren gegangen ist, sind nicht
die Hochliteraturleser, sondern die Statuskäufer. Menschen kaufen vermehrt
nur noch Bücher, die sie auch wirklich lesen“, sagt der
Literaturwissenschaftler da.
Stimmt das? Evidenzen in die Richtung gibt es. Tatsächlich sind womöglich
Uwe Tellkamps „Turm“ und David Foster Wallace’ „Unendlicher Spaß“ die
letzten Romane gewesen, die breit mit Blick auf den Status gekauft worden
sind (im Fall Tellkamp letztlich dann nicht so erfolgreich), und das
repräsentative Bücherregal wurde längst durch das fröhliche, in den
sozialen Medien gepostete Konzertselfie abgelöst.
Aber falls das wirklich stimmt: Hat man denn schon die richtigen
Konsequenzen daraus gezogen? Und ist das, was die Menschen „auch wirklich
lesen“ automatisch „young adult“ oder „cozy crime“ oder wie die Schub…
derzeit heißen? Nein, ist es eben nicht. Die Lage ist allerdings, wenn man
von der Gruppe-47-Hegemonie als Modell ausgeht, unübersichtlicher und auch
weniger berechenbar geworden.
## Die fünf prägendsten Bücher
In diesem Zusammenhang sollte man etwa auf die Umfrage zu sprechen kommen,
die das Internetfeuilleton Perlentaucher kürzlich aus Anlass seines
25-jährigen Bestehens unter Literaturkritiker*innen gemacht hat.
(Zur Offenlegung: Ich habe dran teilgenommen.) Gefragt wurde nach den „fünf
prägendsten Büchern der deutschsprachigen Literatur seit 2000“, und heraus
kamen am häufigsten Bücher von Terézia Mora, Lutz Seiler, [2][Wolfgang
Herrndorf] und Emine Sevgi Özdamar.
„Die Gesellschaft hat sich pluralisiert, die Literatur ebenso“, hat dazu in
einem Begleittext Anja Seeliger, die zusammen mit Thierry Chervel [3][den
Perlentaucher] betreibt, geschrieben. Was wahr ist, in eine Schublade sind
diese Autor*innen nicht zu bringen (höchstens auf die sehr allgemeine,
aus einer Außenseiterposition heraus zu schreiben, wobei dann die Art
dieser Außenseiterposition wieder stark differiert).
Aber etwas eint sie dann eben doch: Sie haben allesamt nicht nur viele
Literaturpreise bekommen, sondern ihre Bücher sind auch große, teilweise
überragende Verkaufserfolge gewesen und auch wirklich viel gelesen worden.
In diesen Fällen sind sich Literaturkritik und Literaturkäufer*innen
also durchaus einig, was man ruhig einmal festhalten kann. Es gibt
selbstverständlich auch Beispiele, in denen sich diese beiden
Rezeptionsgruppen weiterhin zutiefst uneinig sind und auch bleiben werden –
bei Juli Zeh zum Beispiel –, doch lassen wir das jetzt mal weg.
## Niemand bezahlt diese Texte
Es lohnt sich unbedingt, die von den 28 Kritiker*innen eingeschickten
Begründungen ihrer jeweiligen Auswahl im Ganzen zu lesen. Warum wird das
nicht häufiger gemacht? Über die Literatur der sechziger, siebziger,
achtziger und auch noch neunziger Jahre gibt es Sammelbände, in den nuller
Jahren hörte das auf. Warum eigentlich?
Aus einem, so ist zu vermuten, banalen Grund: weil niemand die nötigen
Texte dafür bezahlt. Die Produktion von Text wird in unserer Gesellschaft
sowieso leider schlecht honoriert, und wenn noch dazu der Text kein
aktuelles Produkt thematisiert, kann man ihn gleich unter Liebhaberei
abbuchen. Das Ergebnis kann man in der Literaturkritik sehen: kaum
Bilanzierungen über die jeweilige Saison hinaus.
Dabei wäre gerade derzeit wohl eine gute Zeit für eine Bilanz, und zwar
nicht nur, weil mal wieder ein Vierteljahrhundert vorbeigegangen ist,
sondern auch aus inhaltlichen Gründen. Die Diskussionen über [4][die
Autofiktion] haben ihre Hitze verloren, absehbar scheint, dass die
Autofiktion sich durchsetzt als ein Glutkern und Schreibansatz unter
anderen – und vielleicht geht es als Nächstes darum, sie nicht mehr
pauschal zu feiern oder zu verdammen, sondern ihre internen
Verschiedenheiten auszumessen.
## Themen und Schreibweisen
Auch sonst waren die vergangenen 25 Jahre vielleicht eine Zeit des
Übergangs. Die noch von der Gruppe 47 herstammende Hegemonie wurde
aufgebrochen, weibliche, migrantische, queere Sprecherpositionen wurden
eingebaut – aber im breiten Bewusstsein der Leserschaft eher über
thematische Bezüge als über Schreibweisen, sodass noch ein Misstrauen
gegenüber der literarischen Validität dieser Entwicklungen herrscht.
Aber vielleicht waren die Jahre auch eine Epoche der Öffnung, die jetzt
wieder zu Ende geht angesichts der Aufteilung der Welt in hegemoniale
Machtzonen. Und vielleicht wird man noch wehmütig auf sie zurückblicken.
Es ist jedenfalls keinesfalls eine Selbstbespiegelung des
Literaturbetriebs, sondern eine Selbstvergewisserung seiner Möglichkeiten,
die Entwicklungen festzuhalten; auch dazu sollte eine Buchmesse dienen. Man
muss die Errungenschaften festhalten, sonst verflüchtigen sie sich wieder.
25 Mar 2025
## LINKS
[1] /Doomscrolling-in-Krisenzeiten/!5842964
[2] /Biografie-ueber-Autor-Wolfgang-Herrndorf/!5949623
[3] /25-Jahre-Perlentaucher/!6068449
[4] /Debatte-um-autofiktionale-Romane/!5905454
## AUTOREN
Dirk Knipphals
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