# taz.de -- Gedenken an Opfer des Nationalsozialmus: „Wir tragen die Erinneru… | |
> In Leipzig liegen nun über 800 Stolpersteine, einer davon erinnert an | |
> Sprintza Podolanski. Zuletzt waren Steine beschädigt oder entwendet | |
> worden. | |
Bild: Neu verlegte Stolpersteine in Leipzig erinnern an Walter, Hans und Albert… | |
Leipzig taz | Ihre kurze Rede beginnt Irit Weisel mit einem Dankeschön. Es | |
ehre ihre Großmutter Sprintza Podolanski, dass so viele zu der Verlegung | |
des Stolpersteins gekommen seinen, der an sie erinnert. Der Gehweg in der | |
Berliner Straße in Leipzig ist zu schmal für die Gruppe von rund fünfzig | |
Personen. Die Stelle liegt im Schatten, es ist noch etwas kühl. Um Weisel | |
besser zu verstehen, drängt ein Teil auf die Fahrbahn – offenbar | |
unbeeindruckt vom fließenden Verkehr. | |
Weisel erzählt in knappen Sätzen von ihrer Großmutter, die als Jüdin von | |
den Nazis verfolgt wurde. Während Podolanskis Kinder nach Großbritannien | |
fliehen konnten, lebte sie in einem sogenannten „Judenhaus“ mit fünf | |
anderen Frauen auf engstem Raum. Am 3. Mai 1942 wurde sie ins von | |
Deutschland besetzte Polen deportiert und dort ermordet. | |
Weisel selbst lebt in Israel und ist für die Steinverlegung nach Leipzig | |
gekommen, ebenso wie ihre Schwester Naomi Balog. Der Stolperstein für | |
Sprintza Podolanski in an diesem Donnerstag einer von 14 neuen in Leipzig. | |
Damit gibt es in der Stadt seit diesem Tag nun mehr als 800 Stolpersteine. | |
Auch Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) ist zur feierlichen Verlegung in | |
die Berliner Straße gekommen und hält ebenfalls eine Rede. Er lobt das | |
Projekt und erzählt dann, dass im vergangenen Jahr Stolpersteine in Leipzig | |
beschädigt oder gestohlen wurden. „Das ist nicht nur ein Angriff auf | |
Steine, es ist auch ein Angriff auf die Opfer des Nationalsozialismus, auf | |
ihr Andenken, auf all unsere Werte“, sagt Jung. | |
## Diebstahl und Zerstörung | |
Wie viele Steine deutschlandweit beschädigt oder geklaut wurden, lässt sich | |
schlecht beziffern. Im vergangenen Jahr sorgte zum 7. Oktober ein Fall in | |
Zeitz für Aufmerksamkeit, [1][als in einer Nacht alle zehn Steine der | |
sachsen-anhaltischen Stadt geklaut wurden]. Die Landesregierung | |
Sachsen-Anhalt antwortete kurz danach auf eine Kleine Anfrage der Linken, | |
im Bundesland seien 2024 insgesamt 18 Steine geklaut worden. In den Jahren | |
zuvor hatte die Polizei lediglich einen Vorfall 2021 und einen 2022 | |
registriert. | |
Wie viele es in der Zeit in Sachsen waren, konnte das Landeskriminalamt auf | |
eine Anfrage der taz nicht beantworten. Das Bundeskriminalamt teilte mit, | |
es könne für 2024 noch keine Auskunft erteilen. Aber in den drei Jahren | |
zuvor habe die Polizei bundesweit je 20 bis 30 Sachbeschädigungen oder | |
Diebstähle registriert. Auch in Zeitz wurden im Januar sechs der gerade neu | |
verlegten Stolpersteine beschädigt. | |
In Leipzig wurden im vergangenen Dezember zwei Steine beschädigt. Mit einem | |
spitzen Gegenstand wurden Löcher in die Messingplatte gehauen. Zwei weitere | |
Steine wurden geklaut. Diese seien bereits ersetzt, sagt Achim Beier vom | |
Archiv Bürgerbewegung, der seit gut 20 Jahren Stolperstein-Verlegungen in | |
Leipzig organisiert. Doch die zwei beschädigten würden erstmal bleiben, wie | |
sie sind: So wolle man sichtbar machen, welche Ablehnung es in der | |
Gesellschaft gebe. | |
Der [2][Künstler Gunter Demnig startete das Projekt der Stolpersteine 1992 | |
mit einem Prototyp in Köln]. Mittlerweile erinnern in 32 europäischen | |
Länder insgesamt rund 112.000 Stolpersteine an die Opfer des | |
Nationalsozialismus. Das sei zwar nur ein Bruchteil der Toten und | |
Verfolgten, sagt der Künstler selbst dazu, aber immerhin symbolisch etwas. | |
Eigentlich verlegt er die Steine selbst, doch durch einen Unfall | |
verhindert, ist er an diesem Donnerstag nicht in Leipzig dabei. | |
## Wie eine Beerdigung | |
Trotzdem fügen sich in allen Himmelsrichtungen der Stadt neue Stolpersteine | |
ins Pflaster. Wie Irit Weisel ist auch Jonathan Simms wegen seiner | |
Großmutter in Leipzig: Ilse Simonson, geborene Schreiber, wohnte gemeinsam | |
mit ihren drei Brüdern in der Beethovenstraße in Leipzig. Als jüdische | |
Familie wurden sie von den Nazis verfolgt. Nun liegen auch dort vier | |
Stolpersteine, die an ihre Geschichten erinnern. | |
Den älteste der Brüder, Walter Schreiber, nahmen die Nazis 1938 in | |
„Schutzhaft“, erst für einen Monat im Konzentrationslager Buchenwald, dann | |
für mehrere Wochen im Gefängnis in Leipzig. 1940 starb er im Alter von 54 | |
Jahren. 1943 deportierten die Nazis dann Ilse Simonson und ihren Bruder | |
Albert Schreiber nach Theresienstadt und ermordeten beide ein Jahr später | |
[3][im Vernichtungsslager Auschwitz]. Dem jüngsten Bruder, Hans Schreiber, | |
gelang die Flucht in die Schweiz. Ebenso wie Ilse Simonsons Sohn Alfred, | |
der 1939 nach England kam und dort seinen Nachnamen änderte. | |
„Simms“, das habe englisch geklungen, erklärt sein Sohn Jonathan Simms an | |
diesem Donnerstag in Leipzig. Für die Steinverlegung ist er zum ersten Mal | |
in der sächsischen Großstadt. Es sei für ihn so etwas wie eine Beerdigung, | |
erzählt er auf englisch. Er wirkt dabei nicht traurig, eher gerührt. Mit | |
einem Lächeln zeigt er auf die vier glänzenden Steine und sagt: Was | |
ausgesehen habe, wie eine brutal unterdrückte Familie ohne Nachkommen, habe | |
sich zu einer stetig wachsenden Familie entwickelt. | |
## Blumen und Musik | |
Simms tritt einen Schritt zurück und zählt einen Namen nach dem anderen | |
auf: den seiner Frau, seiner Schwester, deren Ehemann, dreier Kinder und | |
zuletzt auch den des sechs Monate alten Enkels. Sie alle stehen in der | |
Beethovenstraße, um der Stolpersteinverlegung beizuwohnen. | |
Nachdem die Steine im Boden sind, legen Angehörige und Besucher:innen | |
Blumen ab. Auf einer Geige und einem Bandonion begleitet die Werkskappele | |
Naunhof an allen 14 Orten die Verlegungen mit Klezmer, Folk- und Weltmusik. | |
In der Berliner Straße sagt Irit Weisel, sie hoffe, dass Menschen die | |
Inschrift lesen und an die Personen denken, die hinter den Namen stehen. | |
Für sie sei die Verlegung ein Ende gewesen und gleichzeitig ein Anfang. Was | |
sie damit meint? „Wir gehen weiter, aber wir tragen die Erinnerungen mit | |
uns“, sagt sie, „um etwas Neues zu gestalten“. | |
7 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
David Muschenich | |
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