# taz.de -- Als Kind im Konzentrationslager: „Ich überlebte Hitler und werde… | |
> Anna Stryschkowa erfährt nach Jahren ihren richtigen Namen – und dass sie | |
> Blutsverwandte hat. Dank des Künstlers Luigi Toscano kennt sie nun die | |
> Wahrheit. | |
Bild: Holocaust-Überlebende Anna Stryschkowa in ihrer Wohnung in Kyjiw mit dem… | |
Als der Zug am Bahnsteig des Hauptbahnhofs von Kyjiw hielt, befanden sich | |
an Bord etwas mehr als zweihundert Kinder, die meisten von ihnen stammen | |
aus Belarus. [1][Es war März 1945, und dies war ein Evakuierungszug], der | |
sowjetische Kinder transportierte, die nach der Befreiung aus den | |
nationalsozialistischen Konzentrationslagern in Polen gerettet worden | |
waren. | |
Viele der Kinder waren bis zur Erschöpfung ausgehungert, einige so | |
geschwächt, dass ernsthafte Befürchtungen bestanden, sie könnten die lange | |
Reise nicht überleben. Mehrere Dutzend der schwächsten Kinder wurden aus | |
dem Zug geholt und in Krankenhäusern der ukrainischen Hauptstadt | |
untergebracht. Unter ihnen war auch Anna Stryschkowa aus Auschwitz – ein | |
zartes Mädchen mit kurzen, hellen Haaren, das nicht älter als vier oder | |
fünf Jahre zu sein schien. | |
Viele einheimische Frauen hatten von der Ankunft der Züge mit diesen | |
besonderen Passagieren gehört und kamen zum Bahnsteig, um Essen, Kleidung | |
und Spielzeug zu bringen. Vielleicht war es genau zu diesem Zeitpunkt, als | |
Anna Stryschkowa zum ersten Mal Anisija Sasymko begegnete – der Frau, die | |
sie für den Rest ihres Lebens „Mama“ nennen würde.„Das ist Annotschka. … | |
war in Hitlers Lager. Die faschistischen Barbaren haben ihr sechs Mal Blut | |
abgenommen“, beginnt ein sowjetischer Propagandafilm aus dem Jahr 1945, | |
produziert von einem Moskauer Filmstudio. In den Aufnahmen sieht man das | |
kleine Mädchen, ihre zukünftige Mutter und einen Arzt, der ihre | |
eintätowierte Nummer zeigt – 69929. Dann folgt eine Szene, in der einer | |
Frau Blut abgenommen und in Annas Venen übertragen wird. Die Stimme des | |
Erzählers kommentiert: „Die Mutter gibt dem Kind ihr eigenes Blut, um es zu | |
stärken. Sie schläft ein, während das Blut ihrer Mutter in ihre Adern | |
fließt. Sie schläft und vergisst alles.“ In Annas Geburtsurkunde wurde | |
später ein geschätztes Geburtsjahr und ein fiktiver Geburtstag eingetragen | |
– der 1. Mai 1941. | |
Zehn Jahre später, als Anna ihren Schulabschluss feierte, tauchten erneut | |
sowjetische Kameras in ihrem Elternhaus auf. Strahlend, wunderschön in | |
einem schneeweißen Kleid, umarmte sie ihre Eltern und dankte ihnen für ihre | |
Liebe. Die Filmemacher inszenierten die Szene so, dass die Mutter dem nun | |
erwachsenen Mädchen vor der Kamera die Wahrheit mit Tränen in Augen | |
offenbaren sollte. | |
Man hört wieder eine Stimme des Erzählers: „Alles deutet auf Glück und | |
Erfolg hin. Und es scheint, als könne man von den Ufern des Dnipro aus weit | |
in alle Ecken des Landes blicken. Es ist groß, glücklich, liebevoll – dein | |
Land. Und es gibt keine größere Freude, Anna, als ihm dein ganzes Leben zu | |
widmen.“ Und genau so kam es: Anna Stryschkowa ging zur Universität, | |
studierte Mikrobiologie und wurde Doktorin der biologischen Wissenschaften. | |
Fast 40 Jahre arbeitete sie am Institut für Mikrobiologie und Virologie der | |
Akademie der Wissenschaften der Ukraine und wurde für ihre Forschung sogar | |
mit staatlichen Auszeichnungen geehrt. | |
[2][Viele Jahre später sollte Stryschkowa gestehen, dass sie die Wahrheit] | |
schon lange gespürt hatte, noch bevor ihre Mutter es offiziell zugab. | |
„Meine Eltern waren typische Ukrainer – dunkle Haare, braune Augen. Ich | |
aber hatte blaue Augen und weizenblondes Haar. Genau solche Kinder suchten | |
die Nazis“, erinnerte sie sich. „Trotz allem betrachte ich mich als einen | |
glücklichen Menschen. Der Krieg hätte mir alles nehmen sollen – und er hat | |
es auch. Er hätte mich vernichten sollen – aber er tat es nicht. | |
Stattdessen bekam ich Eltern, ein warmes Zuhause, eine Ausbildung. Ich habe | |
meine Dissertation verteidigt, eine wunderbare Tochter Olha geboren und | |
großgezogen. „Ich habe mein Leben nicht umsonst gelebt“, sagte Anna | |
Stryschkowa einst zu Luigi Toscano – zehn Jahre bevor sie ihre wahre | |
Geschichte erfuhr. Doch erst als der deutsch-italienische Fotograf in ihr | |
Leben trat, begann sich alles zu ändern. | |
## Toscano begann, NS-Überlebende zu porträtieren | |
Im Jahr 2014 begann Toscano, NS-Überlebende zu porträtieren. Dieses Projekt | |
machte ihn nicht nur bekannt, sondern brachte ihm auch das | |
Bundesverdienstkreuz ein. Im Laufe der Jahre sammelte er fast 500 | |
Geschichten, doch eine berührte ihn besonders: die von Anna Stryschkowa aus | |
Kyjiw. Luigi war von Annas Geschichte so bewegt, dass er anbot, ihr bei der | |
Suche nach ihrer Identität zu helfen und einen Dokumentarfilm über seine | |
Suche zu drehen, der später den Titel „Schwarzer Zucker, rotes Blut“ | |
erhielt. | |
Nach dem Tod ihrer Mutter versuchte Stryschkowa selbst, etwas über ihre | |
Herkunft herauszufinden, doch all ihre Bemühungen blieben erfolglos. Ihre | |
Adoptiveltern hatten ihre tätowierte Nummer bereits in ihrer Kindheit | |
entfernen lassen, und weder in den Archiven des Krankenhauses noch des | |
Kinderheims oder des Bildungsministeriums gab es Dokumente, die ihr hätten | |
helfen können. Anna Stryschkowas Adoptivvater war zum Zeitpunkt ihrer | |
Adoption Major des KGB, ihre Adoptivmutter arbeitete im Zentralkomitee der | |
Kommunistischen Partei der Ukraine. Ob das Fehlen jeglicher Hinweise auf | |
Stryschkowas frühere Geschichte damit zusammenhängt, wird wohl niemals mit | |
Sicherheit geklärt werden können. | |
Dennoch gab sie nicht auf und bat das Moskauer Filmstudio um die | |
Filmaufnahmen, auf denen ihre Nummer zu sehen war. Anschließend schrieb sie | |
eine Anfrage an das Archiv des Auschwitz-Museums. Die Antwort lautete nur, | |
dass es keine Akten über eine Person mit dieser Nummer gebe. An diesem | |
Punkt stellte Anna Stryschkowa ihre Suche ein. Doch Toscano ließ sich nicht | |
entmutigen: „Ich wusste, dass es nicht einfach werden würde. Aber ich | |
musste herausfinden, wo Annas Lebensgeschichte begann. Das Einzige, was wir | |
hatten, war Annas Nummer.“ | |
Toscano und sein Team ukrainischer Forscher verbrachten Hunderte Stunden | |
damit, nach Hinweisen auf Anna Stryschkowa in Dokumenten und Archiven zu | |
suchen. Die Nummer 69929 führte Toscano nach Jerusalem, ins Archiv der | |
Gedenkstätte Yad Vashem. Dort wurde tatsächlich eine Person mit dieser | |
Nummer identifiziert – es war jedoch nicht Anna Stryschkowa. Es handelte | |
sich um eine Frau aus Belarus, die mit 55 Jahren nach Auschwitz deportiert | |
worden war. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Forscherteam das Gefühl, in einer | |
Sackgasse zu stecken. Ihre einzige Spur – Annas Nummer – stellte sich als | |
falsch heraus. Eines war offensichtlich: Die in dem sowjetischen | |
Propagandafilm genannte Nummer war eine Fälschung. Doch war es ein Irrtum | |
oder bewusste Täuschung? | |
## Es war ein emotionaler Moment für alle | |
Toscanos Team setzte die Suche fort, obwohl andere ihnen davon abrieten. | |
Die erste Vermutung war, dass eine oder mehrere Ziffern der Nummer | |
fehlerhaft waren, da die Filmaufnahmen von schlechter Qualität waren und | |
nicht alle Zahlen klar zu erkennen waren. Dies führte Toscano zurück ins | |
Archiv des Auschwitz-Museums. Doch auf alle von den ukrainischen Forschern | |
vorbereiteten Fragen zu möglichen ähnlichen Nummernkombinationen, | |
Transportwegen, Namen von Kindern und Häftlingslisten erhielt Toscano aus | |
dem Archiv nur negative Antworten. | |
Die letzte Hoffnung des Teams waren die Kinder belarussischer Partisanen, | |
[3][die von den Nazis in ihre Lager verschleppt wurden] – eines davon war | |
das Lager in Potulice, in der Nähe der polnischen Stadt Bydgoszcz. Und | |
unter diesen Listen fand Toscano schließlich sie: Anna Iwanowa, mit der | |
Nummer 61929, geboren im Jahr 1939, sowie ihre Mutter, ihre Schwestern und | |
ihren Bruder. Bevor Luigi Toscano von seiner Entdeckung erzählte, wollte er | |
sicherstellen, dass es wirklich Anna Stryschkowas Geschichte war. Um die | |
Nummer zu verifizieren, dachte er sogar darüber nach, einen Hautchirurgen | |
zu konsultieren, der möglicherweise Farbspuren der entfernten Tätowierung | |
auf Stryschkowas Arm untersuchen könnte. Schließlich wandte er sich an die | |
Kriminalpolizei in Stuttgart, die mit Hilfe von Computersoftware und | |
Aufnahmen aus dem Propagandafilm tatsächlich bestätigen konnte, dass Anna | |
Stryschkowas echte Nummer 61929 war. | |
Nachdem er sich der Echtheit seiner Entdeckung sicher war, fasste Luigi | |
Toscano den Entschluss, Anna Stryschkowa die Wahrheit über ihre | |
Vergangenheit zu erzählen: „Vielleicht wollte Anna gar nicht mehr alles | |
erfahren, keine neuen Details in ihr Leben lassen und keine neuen Menschen. | |
Doch Anna Stryschkowas Tochter Olha wollte unbedingt alles herausfinden. Es | |
war ein sehr emotionaler Moment für uns alle“, erinnert sich Toscano. In | |
seinem Film wurde eine ergreifende Szene festgehalten: Anna Stryschkowa | |
erfährt nach fast 80 Jahren endlich, wer sie wirklich ist. | |
Ihr richtiger Name war tatsächlich ebenfalls Anna – er wurde beibehalten, | |
weil die anderen Kinder im Evakuierungszug sie so nannten und die | |
begleitende Krankenschwester es sich merkte. Ihr wahrer Nachname war | |
Iwanowa, und sie stammte aus dem belarussischen Dorf Pronino in der Region | |
Wizebsk. Als die Nazis das Dorf überfielen, brannten sie es dem Erdboden | |
gleich, erschossen die Männer als Partisanen und verschleppten die Frauen | |
und Kinder in Konzentrationslager. | |
Auf dem Transport nach Auschwitz war Anna Stryschkowa mit ihrer Mutter | |
Maria, ihren älteren Schwestern Halyna und Oleksandra sowie ihrem | |
Babybruder Wassili. Die Fahrt war extrem hart, das Neugeborene schrie viel | |
– und die Nazis warfen es aus dem Zug. Nach der Ankunft in Auschwitz | |
bekamen die Kinder tätowierte Häftlingsnummern mit aufeinanderfolgenden | |
Endziffern: Halyna erhielt die Nummer 61928, Oleksandra die 61927. Einige | |
Monate später wurden die Schwestern mit anderen Kindern ins Lager Potulice | |
nahe Bydgoszcz gebracht. | |
Durch dieses Lager gingen etwa 25.000 Häftlinge, von denen rund 1.300 | |
starben. 767 der Verstorbenen waren Kinder, 581 von ihnen jünger als fünf | |
Jahre. Die hohe Kindersterblichkeit war nicht nur auf den Hunger im Lager | |
zurückzuführen, sondern auch auf das, was die Nazis dort mit den Kindern | |
machten. Die meisten Kinder, die in dieses Lager gebracht wurden, stammten | |
aus Belarus. Die Nazis glaubten, dass blauäugige, blondhaarige Belarussen | |
der „arischen Rasse“ am nächsten kämen. In Potulice wurden an den Kindern | |
Experimente durchgeführt – doch sie wurden auch systematisch als | |
Blutspender für verwundete deutsche Luftwaffensoldaten missbraucht, deren | |
Lazarett sich in der Nähe des Lagers befand. | |
## Anna Stryschkowa erinnert sich noch an einiges | |
Anna Stryschkowa hat einige Erinnerungen an ihre Zeit in Potulice bewahrt. | |
„Ich erinnere mich an die Gesichter der Aufseherinnen, die uns zur | |
Blutabnahme brachten. Weinen und schreien war verboten, sonst wurde man | |
geschlagen“, erinnert sich Anna Stryschkowa. In den anderthalb Jahren im | |
Lager wurde ihr mindestens sechsmal Blut abgenommen. „Ich habe die weniger | |
gefragte dritte Blutgruppe. Aber diejenigen mit der ersten Blutgruppe | |
wurden viel häufiger zur Blutabnahme gezwungen – viele hielten die | |
Erschöpfung nicht aus.“ | |
Toscano konnte das Schicksal von Stryschkowas Schwestern rekonstruieren. | |
Die ältere Schwester Oleksandra wurde in den 1950er Jahren von der | |
sowjetischen Regierung als 15- oder 16-Jährige aus einem Waisenhaus in | |
Kyjiw nach Kasachstan geschickt, um dort die „Neulandkampagne“ zu | |
unterstützen – ein großangelegtes Landwirtschaftsprojekt von Nikita | |
Chruschtschow. Die Arbeitsbedingungen waren extrem hart, fast wie | |
Sklaverei, und viele starben direkt auf den Feldern. Auch Oleksandra | |
ereilte dieses Schicksal. | |
Die mittlere Schwester Halyna wurde ebenfalls aus dem Waisenhaus in Kyjiw | |
entlassen und wurde in die Region Lwiw geschickt, um als Näherin in einer | |
Fabrik in Drohobytsch zu arbeiten. In Drohobytsch gelang es Luigi Toscano, | |
zwei ihrer Töchter zu finden – doch Halyna selbst war bereits fünf Jahre | |
zuvor verstorben. Die Frauen erinnern sich, dass ihre Mutter ihr ganzes | |
Leben lang nach ihrer jüngeren Schwester gesucht hatte. Um die | |
Verwandtschaft zu bestätigen, bat Toscano Anna Stryschkowa, ihre Tochter | |
Olha und Halynas Töchter um einen DNA-Test. Das Ergebnis zeigte eine | |
99,9-prozentige Übereinstimmung – Toscano hatte Annas Nichten gefunden. | |
„Endlich haben wir Antworten, endlich haben wir Familie gefunden. So viele | |
Jahre waren wir einander so nah und wussten es nicht“, sagte eine der | |
Nichten nach dem ersten Videoanruf mit ihrer Tante. Sie betonten, wie sehr | |
Anna ihrer Mutter ähnelte. Anna Stryschkowa nahm ihre wahre Geschichte mit | |
Fassung an. Jetzt kennt sie die Namen ihrer leiblichen Eltern – Maria und | |
Trofim – und hat wieder Blutsverwandte. Sie weiß nun, dass sie aus Belarus | |
stammt – einem Land, das sie nach ihrer Deportation durch die Nazis nur ein | |
einziges Mal in ihrem Leben besucht hatte. | |
„Dieses Wissen hat meine Gefühle nicht verändert. Ich identifiziere mich | |
immer noch als Ukrainerin. Das ist mein Land, hier habe ich mein ganzes | |
Leben verbracht“, erklärt Anna. Gleichzeitig war sie angenehm überrascht, | |
dass sie tatsächlich zwei Jahre älter ist, als sie immer dachte. „Das | |
bedeutet, dass ich 83 Jahre alt bin. Dann ist es ja nicht mehr weit bis | |
90“, sagte Anna Stryschkowa lächelnd, als sie im Jahr 2023 zum ersten Mal | |
ihr wahres Geburtsjahr erfuhr. Das persönliche Treffen der neu gefundenen | |
Familie konnte lange nicht stattfinden, weil der Krieg in das Leben der | |
Ukrainer einbrach. Als der zweite Krieg in Anna Stryschkowas Leben begann, | |
weigerte sie sich, die Ukraine zu verlassen, und sagte: „Ich habe Hitler | |
überlebt, ich werde auch Putin überleben.“ Trotz allem bleibt sie bis heute | |
in Kyjiw, obwohl Luigi Toscano ihr mehrfach angeboten hat, für sie und Olha | |
eine Unterkunft in Deutschland zu organisieren. | |
## Stryschkowa weigert sich, die Ukraine zu verlassen | |
Mutter und Tochter leben zusammen im Zentrum von Kyjiw, in einer der oberen | |
Etagen eines Hochhauses. „Wenn die Luftabwehr Drohnen oder Raketen | |
abschießt, kann ich alles aus dem Fenster sehen“, erzählt Anna Stryschkowa | |
und fügt hinzu, dass es anfangs sehr beängstigend war, aber sie sich | |
inzwischen irgendwie daran gewöhnt haben. Auf die Frage, ob sie während | |
eines Luftalarms in den Schutzraum gehen, senkt sie den Blick und | |
antwortet: „Nein.“ | |
„Bis ich die Treppen hinuntergehe, vergehen mindestens 20 Minuten. Mit dem | |
Aufzug zu fahren ist zu gefährlich, weil der Strom ausfallen könnte. Und | |
nach dem Alarm wieder nach oben zu steigen – das würde mich die halbe Nacht | |
kosten“, so erklärt es die 85-Jährige. Die russische Invasion hat für viele | |
ältere Menschen in der Ukraine ein enormes Problem geschaffen – es ist für | |
sie körperlich kaum möglich, rechtzeitig einen Schutzraum zu erreichen. Die | |
Zahl der Holocaust-Überlebenden in der Ukraine ist ohnehin sehr gering – | |
alle sind über 80 Jahre alt. Für sie ist die russische Aggression nicht nur | |
körperlich, sondern auch seelisch besonders schwer zu ertragen. „Ich hoffe, | |
dass ich das Ende dieses Krieges noch erleben werde. Die Ukraine muss | |
dieses Böse besiegen“, sagt Anna Stryschkowa. | |
Ende 2024 gelang es Luigi Toscano schließlich, Anna Stryschkowa und ihre | |
Tochter zu überreden, die Ukraine zumindest für kurze Zeit zu verlassen – | |
der offizielle Anlass war die Premiere seines Dokumentarfilms über Anna | |
Stryschkowa in Deutschland. Nach einer fast 24-stündigen Reise brauchten | |
beide Frauen noch einige Tage, um sich an die friedliche Realität zu | |
gewöhnen. „Am meisten haben uns die Flugzeuge am Himmel überrascht. Wir | |
mussten uns immer wieder daran erinnern, dass sie keine Gefahr darstellen. | |
Auch die nächtliche Stille ohne Luftalarme war ungewohnt“, erinnert sich | |
Olha an die Erfahrung mit ihrer Mutter. | |
Zum zweiten Mal verließen Anna Stryschkowa und ihre Tochter die Ukraine | |
Ende Januar. Erstmals seit Beginn der russischen Vollinvasion nahm sie an | |
den Gedenkveranstaltungen im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz teil. | |
Während ihres Aufenthalts in Polen schlug Luigi Toscano ihr vor, einen | |
weiteren Ort zu besuchen – jenen, an dem sie einige der schlimmsten Tage | |
ihrer Kindheit verbracht hatte: das ehemalige Lager Potulice. Anna | |
Stryschkowa stimmte zu. Heute befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen | |
Lagers ein aktives Gefängnis, weshalb der Zugang zu den Bereichen, in denen | |
einst die Kinderbaracken standen, verboten ist. An die schrecklichen | |
Ereignisse der Jahre 1940–1945 erinnert nur noch ein Gedenkstein und eine | |
Karte des ehemaligen Lagers. | |
## Trotz Sprachbarriere besteht eine innige Freundschaft | |
Doch es gab einen Ort, den Toscano Anna Stryschkowa unbedingt zeigen wollte | |
– den Friedhof, etwa ein bis zwei Kilometer vom Lager entfernt. Dort hatte | |
er das Grab von ihrem Cousin gefunden. Mit Anna Stryschkowa untergehakt und | |
einem Gedenkstrauß in der anderen Hand führt Toscano sie und ihre Tochter | |
zu einem der Kreuze. Auf der Tafel steht: „Arkadi Iwanow, geboren 1938, | |
gestorben 1944.“ In demselben Grab liegen zwei weitere Jungen mit anderen | |
Nachnamen – fünf und elf Jahre alt. Olha entzündet eine Kerze und stellt | |
sie auf das Kreuz, unter dem einer ihrer Verwandten ruht – jemand, von dem | |
sie nie wusste, aber immer ahnte, dass es ihn gegeben haben könnte. | |
Währenddessen streicht Anna langsam über den grünen Busch, der das Kreuz | |
umgibt. Ihre Lippen bewegen sich lautlos, als würde sie ein Gebet sprechen, | |
und Tränen laufen über ihre Wangen.„Hier gibt es Hunderte von Gräbern. | |
Wahrscheinlich wurden mehrere Kinder zusammen beerdigt, um Platz zu | |
sparen“, vermutet Toscano. | |
Ob es die eisige Kälte oder die Anspannung ist – Anna Stryschkowas Körper | |
beginnt zu zittern. „Das ist ein unheimlicher Ort. Lass uns von hier | |
wegfahren“, sagt sie leise. Trotz der Sprachbarriere zwischen Anna | |
Stryschkowa und Luigi Toscano besteht ihre Freundschaft bereits seit über | |
zehn Jahren. „Ich wollte nie eine Grenze überschreiten, aber zwischen uns | |
gibt es eine solche Chemie, dass es sich wie eine Seelenverwandtschaft | |
anfühlt“, sagt Toscano. Als Olha die Übersetzung hört, bestätigt sie, dass | |
ihre Mutter Luigi immer als ihren kleinen Bruder bezeichnet. „Von Anna | |
adoptiert zu werden, ist für mich etwas ganz Besonderes“, antwortet | |
Toscano, und alle drei beginnen zu lachen. Für Toscano ist das Thema | |
familiärer Bindungen besonders sensibel, da er selbst in einem Kinderheim | |
aufgewachsen ist. | |
Doch egal, über welchen Teil von Anna Stryschkowas Schicksal man spricht – | |
die Spuren, die zwei totalitäre Systeme in ihrem Leben hinterließen, lassen | |
sich kaum von den heutigen Ereignissen trennen. Die russische Armee | |
verschleppt ukrainische Kinder aus den besetzten Gebieten nach Russland. | |
Bis heute sind über 20.000 solcher Fälle dokumentiert. Diese Kinder werden | |
entweder in Pflegefamilien gegeben oder in Heime und Lager gesteckt, wo sie | |
umerzogen und zur Annahme einer russischen Identität gezwungen werden. Nach | |
internationalem Recht ist das ein Kriegsverbrechen. Die Berichte von | |
Holocaust-Überlebenden zeigen, dass mit älteren Kindern in Lagern wie | |
Potulice dasselbe geschah: Sowjetische Kinder bekamen deutsche Namen, | |
mussten die deutsche Sprache lernen, faschistische Lieder singen und wurden | |
indoktriniert, dass die Armee des Führers siegen würde. | |
Auch Anna Stryschkowa sieht diese erschreckende Parallele zwischen | |
Vergangenheit und Gegenwart: „Später habe ich verstanden, dass es für | |
kleine Kinder in den nationalsozialistischen Lagern körperlich schwer war | |
zu überleben, aber für die älteren war es seelisch noch schlimmer, weil | |
ihre Psyche und Identität gebrochen wurden. Ich fürchte, dass sich alles | |
wiederholt und dass die Ukraine in Zukunft noch viele Geschichten von Annas | |
erleben wird, die nach ihren Spuren suchen.“ | |
19 Mar 2025 | |
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