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# taz.de -- Als Kind im Konzentrationslager: „Ich überlebte Hitler und werde…
> Anna Stryschkowa erfährt nach Jahren ihren richtigen Namen – und dass sie
> Blutsverwandte hat. Dank des Künstlers Luigi Toscano kennt sie nun die
> Wahrheit.
Bild: Holocaust-Überlebende Anna Stryschkowa in ihrer Wohnung in Kyjiw mit dem…
Als der Zug am Bahnsteig des Hauptbahnhofs von Kyjiw hielt, befanden sich
an Bord etwas mehr als zweihundert Kinder, die meisten von ihnen stammen
aus Belarus. [1][Es war März 1945, und dies war ein Evakuierungszug], der
sowjetische Kinder transportierte, die nach der Befreiung aus den
nationalsozialistischen Konzentrationslagern in Polen gerettet worden
waren.
Viele der Kinder waren bis zur Erschöpfung ausgehungert, einige so
geschwächt, dass ernsthafte Befürchtungen bestanden, sie könnten die lange
Reise nicht überleben. Mehrere Dutzend der schwächsten Kinder wurden aus
dem Zug geholt und in Krankenhäusern der ukrainischen Hauptstadt
untergebracht. Unter ihnen war auch Anna Stryschkowa aus Auschwitz – ein
zartes Mädchen mit kurzen, hellen Haaren, das nicht älter als vier oder
fünf Jahre zu sein schien.
Viele einheimische Frauen hatten von der Ankunft der Züge mit diesen
besonderen Passagieren gehört und kamen zum Bahnsteig, um Essen, Kleidung
und Spielzeug zu bringen. Vielleicht war es genau zu diesem Zeitpunkt, als
Anna Stryschkowa zum ersten Mal Anisija Sasymko begegnete – der Frau, die
sie für den Rest ihres Lebens „Mama“ nennen würde.„Das ist Annotschka. …
war in Hitlers Lager. Die faschistischen Barbaren haben ihr sechs Mal Blut
abgenommen“, beginnt ein sowjetischer Propagandafilm aus dem Jahr 1945,
produziert von einem Moskauer Filmstudio. In den Aufnahmen sieht man das
kleine Mädchen, ihre zukünftige Mutter und einen Arzt, der ihre
eintätowierte Nummer zeigt – 69929. Dann folgt eine Szene, in der einer
Frau Blut abgenommen und in Annas Venen übertragen wird. Die Stimme des
Erzählers kommentiert: „Die Mutter gibt dem Kind ihr eigenes Blut, um es zu
stärken. Sie schläft ein, während das Blut ihrer Mutter in ihre Adern
fließt. Sie schläft und vergisst alles.“ In Annas Geburtsurkunde wurde
später ein geschätztes Geburtsjahr und ein fiktiver Geburtstag eingetragen
– der 1. Mai 1941.
Zehn Jahre später, als Anna ihren Schulabschluss feierte, tauchten erneut
sowjetische Kameras in ihrem Elternhaus auf. Strahlend, wunderschön in
einem schneeweißen Kleid, umarmte sie ihre Eltern und dankte ihnen für ihre
Liebe. Die Filmemacher inszenierten die Szene so, dass die Mutter dem nun
erwachsenen Mädchen vor der Kamera die Wahrheit mit Tränen in Augen
offenbaren sollte.
Man hört wieder eine Stimme des Erzählers: „Alles deutet auf Glück und
Erfolg hin. Und es scheint, als könne man von den Ufern des Dnipro aus weit
in alle Ecken des Landes blicken. Es ist groß, glücklich, liebevoll – dein
Land. Und es gibt keine größere Freude, Anna, als ihm dein ganzes Leben zu
widmen.“ Und genau so kam es: Anna Stryschkowa ging zur Universität,
studierte Mikrobiologie und wurde Doktorin der biologischen Wissenschaften.
Fast 40 Jahre arbeitete sie am Institut für Mikrobiologie und Virologie der
Akademie der Wissenschaften der Ukraine und wurde für ihre Forschung sogar
mit staatlichen Auszeichnungen geehrt.
[2][Viele Jahre später sollte Stryschkowa gestehen, dass sie die Wahrheit]
schon lange gespürt hatte, noch bevor ihre Mutter es offiziell zugab.
„Meine Eltern waren typische Ukrainer – dunkle Haare, braune Augen. Ich
aber hatte blaue Augen und weizenblondes Haar. Genau solche Kinder suchten
die Nazis“, erinnerte sie sich. „Trotz allem betrachte ich mich als einen
glücklichen Menschen. Der Krieg hätte mir alles nehmen sollen – und er hat
es auch. Er hätte mich vernichten sollen – aber er tat es nicht.
Stattdessen bekam ich Eltern, ein warmes Zuhause, eine Ausbildung. Ich habe
meine Dissertation verteidigt, eine wunderbare Tochter Olha geboren und
großgezogen. „Ich habe mein Leben nicht umsonst gelebt“, sagte Anna
Stryschkowa einst zu Luigi Toscano – zehn Jahre bevor sie ihre wahre
Geschichte erfuhr. Doch erst als der deutsch-italienische Fotograf in ihr
Leben trat, begann sich alles zu ändern.
## Toscano begann, NS-Überlebende zu porträtieren
Im Jahr 2014 begann Toscano, NS-Überlebende zu porträtieren. Dieses Projekt
machte ihn nicht nur bekannt, sondern brachte ihm auch das
Bundesverdienstkreuz ein. Im Laufe der Jahre sammelte er fast 500
Geschichten, doch eine berührte ihn besonders: die von Anna Stryschkowa aus
Kyjiw. Luigi war von Annas Geschichte so bewegt, dass er anbot, ihr bei der
Suche nach ihrer Identität zu helfen und einen Dokumentarfilm über seine
Suche zu drehen, der später den Titel „Schwarzer Zucker, rotes Blut“
erhielt.
Nach dem Tod ihrer Mutter versuchte Stryschkowa selbst, etwas über ihre
Herkunft herauszufinden, doch all ihre Bemühungen blieben erfolglos. Ihre
Adoptiveltern hatten ihre tätowierte Nummer bereits in ihrer Kindheit
entfernen lassen, und weder in den Archiven des Krankenhauses noch des
Kinderheims oder des Bildungsministeriums gab es Dokumente, die ihr hätten
helfen können. Anna Stryschkowas Adoptivvater war zum Zeitpunkt ihrer
Adoption Major des KGB, ihre Adoptivmutter arbeitete im Zentralkomitee der
Kommunistischen Partei der Ukraine. Ob das Fehlen jeglicher Hinweise auf
Stryschkowas frühere Geschichte damit zusammenhängt, wird wohl niemals mit
Sicherheit geklärt werden können.
Dennoch gab sie nicht auf und bat das Moskauer Filmstudio um die
Filmaufnahmen, auf denen ihre Nummer zu sehen war. Anschließend schrieb sie
eine Anfrage an das Archiv des Auschwitz-Museums. Die Antwort lautete nur,
dass es keine Akten über eine Person mit dieser Nummer gebe. An diesem
Punkt stellte Anna Stryschkowa ihre Suche ein. Doch Toscano ließ sich nicht
entmutigen: „Ich wusste, dass es nicht einfach werden würde. Aber ich
musste herausfinden, wo Annas Lebensgeschichte begann. Das Einzige, was wir
hatten, war Annas Nummer.“
Toscano und sein Team ukrainischer Forscher verbrachten Hunderte Stunden
damit, nach Hinweisen auf Anna Stryschkowa in Dokumenten und Archiven zu
suchen. Die Nummer 69929 führte Toscano nach Jerusalem, ins Archiv der
Gedenkstätte Yad Vashem. Dort wurde tatsächlich eine Person mit dieser
Nummer identifiziert – es war jedoch nicht Anna Stryschkowa. Es handelte
sich um eine Frau aus Belarus, die mit 55 Jahren nach Auschwitz deportiert
worden war. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Forscherteam das Gefühl, in einer
Sackgasse zu stecken. Ihre einzige Spur – Annas Nummer – stellte sich als
falsch heraus. Eines war offensichtlich: Die in dem sowjetischen
Propagandafilm genannte Nummer war eine Fälschung. Doch war es ein Irrtum
oder bewusste Täuschung?
## Es war ein emotionaler Moment für alle
Toscanos Team setzte die Suche fort, obwohl andere ihnen davon abrieten.
Die erste Vermutung war, dass eine oder mehrere Ziffern der Nummer
fehlerhaft waren, da die Filmaufnahmen von schlechter Qualität waren und
nicht alle Zahlen klar zu erkennen waren. Dies führte Toscano zurück ins
Archiv des Auschwitz-Museums. Doch auf alle von den ukrainischen Forschern
vorbereiteten Fragen zu möglichen ähnlichen Nummernkombinationen,
Transportwegen, Namen von Kindern und Häftlingslisten erhielt Toscano aus
dem Archiv nur negative Antworten.
Die letzte Hoffnung des Teams waren die Kinder belarussischer Partisanen,
[3][die von den Nazis in ihre Lager verschleppt wurden] – eines davon war
das Lager in Potulice, in der Nähe der polnischen Stadt Bydgoszcz. Und
unter diesen Listen fand Toscano schließlich sie: Anna Iwanowa, mit der
Nummer 61929, geboren im Jahr 1939, sowie ihre Mutter, ihre Schwestern und
ihren Bruder. Bevor Luigi Toscano von seiner Entdeckung erzählte, wollte er
sicherstellen, dass es wirklich Anna Stryschkowas Geschichte war. Um die
Nummer zu verifizieren, dachte er sogar darüber nach, einen Hautchirurgen
zu konsultieren, der möglicherweise Farbspuren der entfernten Tätowierung
auf Stryschkowas Arm untersuchen könnte. Schließlich wandte er sich an die
Kriminalpolizei in Stuttgart, die mit Hilfe von Computersoftware und
Aufnahmen aus dem Propagandafilm tatsächlich bestätigen konnte, dass Anna
Stryschkowas echte Nummer 61929 war.
Nachdem er sich der Echtheit seiner Entdeckung sicher war, fasste Luigi
Toscano den Entschluss, Anna Stryschkowa die Wahrheit über ihre
Vergangenheit zu erzählen: „Vielleicht wollte Anna gar nicht mehr alles
erfahren, keine neuen Details in ihr Leben lassen und keine neuen Menschen.
Doch Anna Stryschkowas Tochter Olha wollte unbedingt alles herausfinden. Es
war ein sehr emotionaler Moment für uns alle“, erinnert sich Toscano. In
seinem Film wurde eine ergreifende Szene festgehalten: Anna Stryschkowa
erfährt nach fast 80 Jahren endlich, wer sie wirklich ist.
Ihr richtiger Name war tatsächlich ebenfalls Anna – er wurde beibehalten,
weil die anderen Kinder im Evakuierungszug sie so nannten und die
begleitende Krankenschwester es sich merkte. Ihr wahrer Nachname war
Iwanowa, und sie stammte aus dem belarussischen Dorf Pronino in der Region
Wizebsk. Als die Nazis das Dorf überfielen, brannten sie es dem Erdboden
gleich, erschossen die Männer als Partisanen und verschleppten die Frauen
und Kinder in Konzentrationslager.
Auf dem Transport nach Auschwitz war Anna Stryschkowa mit ihrer Mutter
Maria, ihren älteren Schwestern Halyna und Oleksandra sowie ihrem
Babybruder Wassili. Die Fahrt war extrem hart, das Neugeborene schrie viel
– und die Nazis warfen es aus dem Zug. Nach der Ankunft in Auschwitz
bekamen die Kinder tätowierte Häftlingsnummern mit aufeinanderfolgenden
Endziffern: Halyna erhielt die Nummer 61928, Oleksandra die 61927. Einige
Monate später wurden die Schwestern mit anderen Kindern ins Lager Potulice
nahe Bydgoszcz gebracht.
Durch dieses Lager gingen etwa 25.000 Häftlinge, von denen rund 1.300
starben. 767 der Verstorbenen waren Kinder, 581 von ihnen jünger als fünf
Jahre. Die hohe Kindersterblichkeit war nicht nur auf den Hunger im Lager
zurückzuführen, sondern auch auf das, was die Nazis dort mit den Kindern
machten. Die meisten Kinder, die in dieses Lager gebracht wurden, stammten
aus Belarus. Die Nazis glaubten, dass blauäugige, blondhaarige Belarussen
der „arischen Rasse“ am nächsten kämen. In Potulice wurden an den Kindern
Experimente durchgeführt – doch sie wurden auch systematisch als
Blutspender für verwundete deutsche Luftwaffensoldaten missbraucht, deren
Lazarett sich in der Nähe des Lagers befand.
## Anna Stryschkowa erinnert sich noch an einiges
Anna Stryschkowa hat einige Erinnerungen an ihre Zeit in Potulice bewahrt.
„Ich erinnere mich an die Gesichter der Aufseherinnen, die uns zur
Blutabnahme brachten. Weinen und schreien war verboten, sonst wurde man
geschlagen“, erinnert sich Anna Stryschkowa. In den anderthalb Jahren im
Lager wurde ihr mindestens sechsmal Blut abgenommen. „Ich habe die weniger
gefragte dritte Blutgruppe. Aber diejenigen mit der ersten Blutgruppe
wurden viel häufiger zur Blutabnahme gezwungen – viele hielten die
Erschöpfung nicht aus.“
Toscano konnte das Schicksal von Stryschkowas Schwestern rekonstruieren.
Die ältere Schwester Oleksandra wurde in den 1950er Jahren von der
sowjetischen Regierung als 15- oder 16-Jährige aus einem Waisenhaus in
Kyjiw nach Kasachstan geschickt, um dort die „Neulandkampagne“ zu
unterstützen – ein großangelegtes Landwirtschaftsprojekt von Nikita
Chruschtschow. Die Arbeitsbedingungen waren extrem hart, fast wie
Sklaverei, und viele starben direkt auf den Feldern. Auch Oleksandra
ereilte dieses Schicksal.
Die mittlere Schwester Halyna wurde ebenfalls aus dem Waisenhaus in Kyjiw
entlassen und wurde in die Region Lwiw geschickt, um als Näherin in einer
Fabrik in Drohobytsch zu arbeiten. In Drohobytsch gelang es Luigi Toscano,
zwei ihrer Töchter zu finden – doch Halyna selbst war bereits fünf Jahre
zuvor verstorben. Die Frauen erinnern sich, dass ihre Mutter ihr ganzes
Leben lang nach ihrer jüngeren Schwester gesucht hatte. Um die
Verwandtschaft zu bestätigen, bat Toscano Anna Stryschkowa, ihre Tochter
Olha und Halynas Töchter um einen DNA-Test. Das Ergebnis zeigte eine
99,9-prozentige Übereinstimmung – Toscano hatte Annas Nichten gefunden.
„Endlich haben wir Antworten, endlich haben wir Familie gefunden. So viele
Jahre waren wir einander so nah und wussten es nicht“, sagte eine der
Nichten nach dem ersten Videoanruf mit ihrer Tante. Sie betonten, wie sehr
Anna ihrer Mutter ähnelte. Anna Stryschkowa nahm ihre wahre Geschichte mit
Fassung an. Jetzt kennt sie die Namen ihrer leiblichen Eltern – Maria und
Trofim – und hat wieder Blutsverwandte. Sie weiß nun, dass sie aus Belarus
stammt – einem Land, das sie nach ihrer Deportation durch die Nazis nur ein
einziges Mal in ihrem Leben besucht hatte.
„Dieses Wissen hat meine Gefühle nicht verändert. Ich identifiziere mich
immer noch als Ukrainerin. Das ist mein Land, hier habe ich mein ganzes
Leben verbracht“, erklärt Anna. Gleichzeitig war sie angenehm überrascht,
dass sie tatsächlich zwei Jahre älter ist, als sie immer dachte. „Das
bedeutet, dass ich 83 Jahre alt bin. Dann ist es ja nicht mehr weit bis
90“, sagte Anna Stryschkowa lächelnd, als sie im Jahr 2023 zum ersten Mal
ihr wahres Geburtsjahr erfuhr. Das persönliche Treffen der neu gefundenen
Familie konnte lange nicht stattfinden, weil der Krieg in das Leben der
Ukrainer einbrach. Als der zweite Krieg in Anna Stryschkowas Leben begann,
weigerte sie sich, die Ukraine zu verlassen, und sagte: „Ich habe Hitler
überlebt, ich werde auch Putin überleben.“ Trotz allem bleibt sie bis heute
in Kyjiw, obwohl Luigi Toscano ihr mehrfach angeboten hat, für sie und Olha
eine Unterkunft in Deutschland zu organisieren.
## Stryschkowa weigert sich, die Ukraine zu verlassen
Mutter und Tochter leben zusammen im Zentrum von Kyjiw, in einer der oberen
Etagen eines Hochhauses. „Wenn die Luftabwehr Drohnen oder Raketen
abschießt, kann ich alles aus dem Fenster sehen“, erzählt Anna Stryschkowa
und fügt hinzu, dass es anfangs sehr beängstigend war, aber sie sich
inzwischen irgendwie daran gewöhnt haben. Auf die Frage, ob sie während
eines Luftalarms in den Schutzraum gehen, senkt sie den Blick und
antwortet: „Nein.“
„Bis ich die Treppen hinuntergehe, vergehen mindestens 20 Minuten. Mit dem
Aufzug zu fahren ist zu gefährlich, weil der Strom ausfallen könnte. Und
nach dem Alarm wieder nach oben zu steigen – das würde mich die halbe Nacht
kosten“, so erklärt es die 85-Jährige. Die russische Invasion hat für viele
ältere Menschen in der Ukraine ein enormes Problem geschaffen – es ist für
sie körperlich kaum möglich, rechtzeitig einen Schutzraum zu erreichen. Die
Zahl der Holocaust-Überlebenden in der Ukraine ist ohnehin sehr gering –
alle sind über 80 Jahre alt. Für sie ist die russische Aggression nicht nur
körperlich, sondern auch seelisch besonders schwer zu ertragen. „Ich hoffe,
dass ich das Ende dieses Krieges noch erleben werde. Die Ukraine muss
dieses Böse besiegen“, sagt Anna Stryschkowa.
Ende 2024 gelang es Luigi Toscano schließlich, Anna Stryschkowa und ihre
Tochter zu überreden, die Ukraine zumindest für kurze Zeit zu verlassen –
der offizielle Anlass war die Premiere seines Dokumentarfilms über Anna
Stryschkowa in Deutschland. Nach einer fast 24-stündigen Reise brauchten
beide Frauen noch einige Tage, um sich an die friedliche Realität zu
gewöhnen. „Am meisten haben uns die Flugzeuge am Himmel überrascht. Wir
mussten uns immer wieder daran erinnern, dass sie keine Gefahr darstellen.
Auch die nächtliche Stille ohne Luftalarme war ungewohnt“, erinnert sich
Olha an die Erfahrung mit ihrer Mutter.
Zum zweiten Mal verließen Anna Stryschkowa und ihre Tochter die Ukraine
Ende Januar. Erstmals seit Beginn der russischen Vollinvasion nahm sie an
den Gedenkveranstaltungen im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz teil.
Während ihres Aufenthalts in Polen schlug Luigi Toscano ihr vor, einen
weiteren Ort zu besuchen – jenen, an dem sie einige der schlimmsten Tage
ihrer Kindheit verbracht hatte: das ehemalige Lager Potulice. Anna
Stryschkowa stimmte zu. Heute befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen
Lagers ein aktives Gefängnis, weshalb der Zugang zu den Bereichen, in denen
einst die Kinderbaracken standen, verboten ist. An die schrecklichen
Ereignisse der Jahre 1940–1945 erinnert nur noch ein Gedenkstein und eine
Karte des ehemaligen Lagers.
## Trotz Sprachbarriere besteht eine innige Freundschaft
Doch es gab einen Ort, den Toscano Anna Stryschkowa unbedingt zeigen wollte
– den Friedhof, etwa ein bis zwei Kilometer vom Lager entfernt. Dort hatte
er das Grab von ihrem Cousin gefunden. Mit Anna Stryschkowa untergehakt und
einem Gedenkstrauß in der anderen Hand führt Toscano sie und ihre Tochter
zu einem der Kreuze. Auf der Tafel steht: „Arkadi Iwanow, geboren 1938,
gestorben 1944.“ In demselben Grab liegen zwei weitere Jungen mit anderen
Nachnamen – fünf und elf Jahre alt. Olha entzündet eine Kerze und stellt
sie auf das Kreuz, unter dem einer ihrer Verwandten ruht – jemand, von dem
sie nie wusste, aber immer ahnte, dass es ihn gegeben haben könnte.
Währenddessen streicht Anna langsam über den grünen Busch, der das Kreuz
umgibt. Ihre Lippen bewegen sich lautlos, als würde sie ein Gebet sprechen,
und Tränen laufen über ihre Wangen.„Hier gibt es Hunderte von Gräbern.
Wahrscheinlich wurden mehrere Kinder zusammen beerdigt, um Platz zu
sparen“, vermutet Toscano.
Ob es die eisige Kälte oder die Anspannung ist – Anna Stryschkowas Körper
beginnt zu zittern. „Das ist ein unheimlicher Ort. Lass uns von hier
wegfahren“, sagt sie leise. Trotz der Sprachbarriere zwischen Anna
Stryschkowa und Luigi Toscano besteht ihre Freundschaft bereits seit über
zehn Jahren. „Ich wollte nie eine Grenze überschreiten, aber zwischen uns
gibt es eine solche Chemie, dass es sich wie eine Seelenverwandtschaft
anfühlt“, sagt Toscano. Als Olha die Übersetzung hört, bestätigt sie, dass
ihre Mutter Luigi immer als ihren kleinen Bruder bezeichnet. „Von Anna
adoptiert zu werden, ist für mich etwas ganz Besonderes“, antwortet
Toscano, und alle drei beginnen zu lachen. Für Toscano ist das Thema
familiärer Bindungen besonders sensibel, da er selbst in einem Kinderheim
aufgewachsen ist.
Doch egal, über welchen Teil von Anna Stryschkowas Schicksal man spricht –
die Spuren, die zwei totalitäre Systeme in ihrem Leben hinterließen, lassen
sich kaum von den heutigen Ereignissen trennen. Die russische Armee
verschleppt ukrainische Kinder aus den besetzten Gebieten nach Russland.
Bis heute sind über 20.000 solcher Fälle dokumentiert. Diese Kinder werden
entweder in Pflegefamilien gegeben oder in Heime und Lager gesteckt, wo sie
umerzogen und zur Annahme einer russischen Identität gezwungen werden. Nach
internationalem Recht ist das ein Kriegsverbrechen. Die Berichte von
Holocaust-Überlebenden zeigen, dass mit älteren Kindern in Lagern wie
Potulice dasselbe geschah: Sowjetische Kinder bekamen deutsche Namen,
mussten die deutsche Sprache lernen, faschistische Lieder singen und wurden
indoktriniert, dass die Armee des Führers siegen würde.
Auch Anna Stryschkowa sieht diese erschreckende Parallele zwischen
Vergangenheit und Gegenwart: „Später habe ich verstanden, dass es für
kleine Kinder in den nationalsozialistischen Lagern körperlich schwer war
zu überleben, aber für die älteren war es seelisch noch schlimmer, weil
ihre Psyche und Identität gebrochen wurden. Ich fürchte, dass sich alles
wiederholt und dass die Ukraine in Zukunft noch viele Geschichten von Annas
erleben wird, die nach ihren Spuren suchen.“
19 Mar 2025
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Anastasia Magasowa
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