Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ein Besuch im Mädchentreff: Wie der Kampf weitergeht
> Instagram-Pranger, Catcalling, klassische Rollenbilder: Was beschäftigt
> junge Feministinnen in ihrem Alltag? Ohne Nelken geht es jedenfalls
> nicht.
Bild: „Respekt“ – Internationaler Tag der Frau in Berlin am 8. März 2020
Berlin taz | Manchmal, sagt Molly, da spüre sie einfach nur „sehr viel
Wut“. Sie sagt das eher leise und sehr nüchtern. Der Klassiker, konstatiert
Molly: „Wenn dir ein Typ auf der Straße irgendetwas hinterherruft, und dann
kann man sich entscheiden, schreie ich die Person jetzt an?“ Denn das sei
doch echt zum Verrücktwerden, dieser mangelnde Respekt gegenüber ihr als
Person, als Mensch, der da zum Ausdruck komme. Sie habe, sagt die zierliche
Abiturientin inzwischen aber eine andere Strategie: „Solidarität ist
besser.“
Ein Abend Anfang März im Mädchentreff Mädea in Berlin-Gesundbrunnen, einem
Ortsteil im Bezirk Mitte. Hier trifft sich regelmäßig die Frauenkommune,
ein loser Zirkel junger Frauen. Man trinkt Tee, liest feministische Texte,
heute zum Beispiel, warum im Kapitalismus auch der „Krieg gegen Frauen“
angelegt sei.
An diesem Montag geht es nicht nur theoretisch zu: Molly und etwa zehn
andere Frauen malen rote Nelken – das Symbol der Frauenbewegung Anfang des
20. Jahrhunderts – auf Pappschilder, während sie dem etwas schwer
verdaulichen Text lauschen, den eine der Frauen von ihrem Handy abliest.
Die Nelken wollen sie bei den Frauentagsaktionen tragen, die am Samstag
auch in Berlin stattfinden. Deshalb will Molly, statt die ausbeuterischen
Qualitäten des Patriarchats zu diskutieren, um kurz nach halb sieben vor
allem eines wissen: „Ich frag’ mich, ob wir nicht mal langsam anfangen
sollen zu cutten, ich glaube, wir haben genug gemalt.“
Das Zusammenkommen gebe Energie, findet Molly, für all die Kämpfe, die man
als junge Frau auszufechten habe im Alltag. Welche das seien?
[1][Catcalling]. Das Gefühl, in der Klasse viel mehr als die Jungs in
Diskussionen darum kämpfen zu müssen, gehört zu werden. Das Gefühl, dass es
für Jungs eher akzeptiert sei, laut zu sein.
Der übergriffige Fahrlehrer, der ihr die Hand aufs Bein gelegt habe,
ergänzt Lea, die neben Molly auf dem Boden sitzt und an den Umrissen einer
Nelke schneidet. Es sei wichtig, über diese Gewalterfahrungen zu reden,
sagt Lea – und zwar nicht nur auf Social Media: „Ich glaube, man kann sich
auf Instagram und so sehr alleine fühlen.“ Zum Beispiel eine Freundin,
erzählt sie, die jobbe im Café. Manchmal seien die Gäste ziemlich
übergriffig mit Kommentaren, „sie hat sich dann mit einer anderen Kollegin
zusammengetan und sich überlegt, wie sie damit umgehen.“ Verbale
Selbstverteidigung im Alltag.
## Im Kreis am Maltisch
Ein Nachmittag einige Tage zuvor im Mädchentreff. Vier noch etwas jüngere
Mädchen, alle von einer benachbarten Schule, sitzen im Kreis am Maltisch.
Konzentriert pinseln sie glänzende Acrylfarbe auf kleine rechteckige
Leinwände, das Programm heute ist freies Arbeiten. Ein Mädchen zeichnet die
Palästina-Flagge. Sie habe Verwandte im Libanon, sagt sie. Ob ihnen der
Frauentag etwas sagt? Nicken. Ja, klar. Gehen sie auch mit auf die
feministische Demo, hier im Stadtteil? Zögern. Mal sehen, wenn die Eltern
es erlauben.
Lina, die eigentlich anders heißt, zwölf Jahre alt, blonde Haare, sanfter
Blick, sagt, sie wisse, warum dort demonstriert werde: „Keine Gewalt an
Frauen.“ Was das für sie bedeute, Gewalt? Lina schaut von ihrer Malerei auf
und dann erzählt sie, sehr sachlich, über eine ihrer Freundinnen aus der
Schule. Die habe einen Freund gehabt. „Der hat sie einmal geschlagen. Und
ein anderes Mal gewürgt.“ Sozialarbeiterin Sophie schaut erschrocken und
will wissen, was Lina daraufhin gemacht habe? „Ich habe sie getröstet“,
sagt das Mädchen schlicht. Die Freundin habe sich dann getrennt. „Das war
richtig“, findet Lina.
Müssen die Mädchen heute dieselben Kämpfe ausfechten wie früher ihre
Mütter? Oder haben sich Gewalterfahrungen verändert?
Sozialpädagogin Eylem Bozkaya arbeitet schon seit 17 Jahren bei Mädea,
inzwischen betreut sie dort die zweite Generation Mädchen. Heute wie damals
gehe es „um Selbstbehauptung“, sagt sie. Die Themen im Einzelnen mögen sich
geändert haben, aber im Kern bleibe dieses: sich als Mädchen, als Frau zu
behaupten. Social Media, sagt Bozkaya, sei ein wahnsinniger Faktor in
diesem Kampf geworden: „Auf Instagram werden irgendwelche Fotos eines
Mädchens hochgeladen, die sie bloßstellen sollen“, sagt sie. So ein
Instagram-Pranger hat Wucht. Der Online-Mob, der auf ein Mädchen los geht,
das vielleicht doch einen Jungen geküsst hat, obwohl zu Hause die Devise
lautet, dass sie eigentlich noch keinen Freund haben darf, ist im Zweifel
sehr viel größer als zu früheren Zeiten.
Damals musste man sich vielleicht einer Handvoll Jungs auf dem Schulhof
erwehren – die Eltern bekamen mangels Social Media oft nichts mit. Jungs
würden das machen, dieses [2][Instagram-Mobbing], „aber Mädchen machen
mit“, erzählt Bozkaya. Mädchen seien durchaus nicht immer solidarisch
untereinander, sagt auch Jenny Fengler, die das Mädea-Team leitet.
Gesundbrunnen, der Berliner Ortsteil, in dem der Mädchentreff liegt, gilt
nicht gerade als leichtes Terrain. Viele Familien hier sind arm, knapp die
Hälfte der Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahre lebt in Haushalten, die
auf Jobcenter-Leistungen angewiesen sind. Rund 64 Prozent der
Einwohner*innen haben einen Migrationshintergrund.
## Unterschiedliche Rollenbilder
Es gebe äußerst unterschiedliche Rollenbilder in den Elternhäusern, sagt
Fengler: liberale Familien, in denen es kein Problem ist, wenn die Tochter
einen Freund nach Hause bringt. In anderen Familien sei das Rollenbild
traditioneller: „Du musst gut kochen, du musst eine gute Hausfrau sein. Das
ist schon auch sehr verbreitet“, berichtet Fengler. Dennoch, sagt die
Sozialpädagogin: „Manche der Mädchen hier sind sehr selbstbewusst.
Sie fragen: Warum geht mein Vater fremd und meine Mutter soll das nicht
dürfen und leidet?“ Es gebe Mädchen, die rundheraus sagten:
„[3][Slutshaming] ist scheiße.“ Für die einen ist bauchfrei in der Schule
okay, für die anderen ein Fall für Instagram. Dazwischen erlaubten sich die
Mädchen auch untereinander nicht viel. „Die Mädchen shamen sich sehr oft –
obwohl viele die gleichen Struggles haben“, sagt die Mädea-Leiterin.
Ihre Arbeit sei es dann, erklärt Fengler, „dieses strikte Entweder-oder zu
relativieren. Wir sagen auf keinen Fall: Ihr dürft so nicht leben. Das ist
Quatsch. Aber wir fragen: Bist du damit glücklich, wie du lebst? Möchtest
du andere Optionen haben?“ Es gehe darum, zu vermitteln: Die eine Art zu
leben ist nicht besser als die andere. Es geht um Toleranz, um Freiheit.
Und um die Fähigkeit, sich diese Freiheit selbst nehmen zu können. Nur, wie
macht man das, so ganz praktisch, wenn der Theorie-Workshop oder das
„Mädchenparlament“, das einmal im Monat bei Mädea veranstaltet wird, zu
Ende ist?
Sich abgrenzen können, „das ist wichtig“, sagt Tugba Scherfner. Die
Mathelehrerin hat fünf Jahre lang an einer Sekundarschule in Kreuzberg
gearbeitet, jetzt unterrichtet sie in einem Schulersatzprojekt Jugendliche,
die von der regulären Schule nicht mehr erreicht werden. Scherfner sagt,
sie werde von ihren Schülern vor dem Fastenmonat Ramadan manchmal
neugierig gefragt, „weshalb ich nicht auch faste“.
Bei der Gelegenheit geht sie mit den Jugendlichen dann gerne durch, was man
unter einer übergriffigen Frage verstehen könnte. Und sie sagt: „Ich
begründe mein Nein zum Fasten nicht.“ Abgrenzung, sagt Scherfner, darum
gehe es. Und das müssten Mädchen mitunter wirklich dringend lernen: Halt,
Stopp, das ist meine Entscheidung, ich erkläre mich dazu jetzt nicht.
Scherfner, die sich auch im Berliner Frauensprecherinnen-Rat der
Bildungsgewerkschaft GEW engagiert, sagt, sie versuche, da ein Vorbild zu
sein: „Abgrenzung ist eine ganz wichtige Voraussetzung für Emanzipation.
Wenn ich mich immer erkläre, dann rechtfertige ich mich.“
Tatsächlich sind die Rollenbilder bei Jugendlichen oft genauso klassisch
wie in der Generation zuvor, das legt auch die aktuelle
[4][Shell-Jugendstudie] aus dem vorigen Jahr nahe, eine umfangreiche
Datenerhebung unter den 12- bis 25-Jährigen, die alle fünf Jahre erscheint.
Rund die Hälfte der jungen Menschen, heißt es dort, wünsche sich „nach wie
vor eine eher traditionelle Aufteilung der Erwerbsarbeit mit dem Mann als
Hauptverdiener“. Immerhin: Einen Vater in Teilzeit können sich mehr
vorstellen als noch fünf Jahre zuvor.
Im Mädchentreff ist gleich Aufräumzeit. Mehr als 100 Jahre nach den ersten
Frauenprotesten malen junge Frauen immer noch Nelken auf Pappschilder. Sie
würde sich, sagt Lea, „aber gerne eine andere Welt vorstellen“.
7 Mar 2025
## LINKS
[1] /Catcalling-auf-Berlins-Strassen/!6034464
[2] /Verbotskultur-auf-Social-Media/!6052977
[3] /Plaedoyer-fuer-Sexneutralitaet/!5918759
[4] /Shell-Jugendstudie-2024/!6039878
## AUTOREN
Anna Klöpper
## TAGS
Das Leben einer Frau
Mädchen
Rollenbilder
Feminismus
Schwerpunkt Feministischer Kampftag
Frauenkampftag
Das Leben einer Frau
Das Leben einer Frau
Film
Schleswig-Holstein
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Demonstrationen am Frauentag: Kämpfen und feiern sind eins
Tausende gehen in Berlin am Internationalen Frauentag für Frauenrechte und
Chancengleichheit auf die Straße. Eine Demo wird aufgelöst.
Protest am Frauentag: Tausende gehen in Berlin und Hamburg auf die Straße
In der Hauptstadt fand der größte Protestzug unter dem Motto „feministisch,
solidarisch, gewerkschaftlich“ statt. Auch in Hannover und Bremen war die
Beteiligung an Demos für die Gleichstellung hoch.
Berufsbilder und Gender: Irgendwas mit freundlich
Lächeln, aufräumen, verbinden: Frauen sind einfach die Besten, wenn es
darum geht, das Aufregende und Gefährliche im Leben von Männern zu
beruhigen.
Aufwachsen im ländlichen Sachsen: Das Mädchen und der Metal
Zwischen Schwibbögen und harten Gitarrenriffs, AfD-Wähler*innen und
Bleistiftzeichnungen: Ein Besuch bei der 16-jährigen Leni Noske im
Erzgebirge.
Spielfilm „Gotteskinder“: Wenn eine selbst gestaltete Jugend Sünde ist
Frauke Lodders' Film erzählt von zwei Jugendlichen, die in einer
evangelikalen Familie aufwachsen. Er ist Milieustudie und Familiendrama
zugleich.
Studie zu geschlechtsbezogener Gewalt: Toxische Männlichkeit fängt in der Kit…
Eine Studie zeigt: Bis zu 80 Prozent der schleswig-holsteinischen Kitas und
Schulen haben noch kein Konzept zur Prävention geschlechtsbezogener Gewalt.
Feminismus in der Familie: War nicht alles gut, so wie es war?
Für unsere Autorin war Papa immer der Gute, Mama die Strenge – bis sie
Feministin wurde und sich der Blick auf die Rollen in ihrer Familie
änderte.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.