| # taz.de -- Aufwachsen im ländlichen Sachsen: Das Mädchen und der Metal | |
| > Zwischen Schwibbögen und harten Gitarrenriffs, AfD-Wähler*innen und | |
| > Bleistiftzeichnungen: Ein Besuch bei der 16-jährigen Leni Noske im | |
| > Erzgebirge. | |
| Bild: Hört am liebsten Death Metal: die 16-jährige Leni Noske | |
| Thum taz | Wenn Leni Noske abschalten will, geht sie in Richtung dunklen | |
| Wald. Sie lässt dann ihren Heimatort hinter sich und läuft über ein freies | |
| Feld. Ohne Handylicht, ohne Taschenlampe. Was wohl vielen Großstadtkids | |
| Angst macht, braucht Leni Noske zum Runterkommen. Auf die Nachfrage, ob die | |
| Leere und Dunkelheit hier draußen ihr nicht Unbehagen bereite, muss die | |
| 16-Jährige lachen: „Ich laufe hier ständig lang mit meinem Hund.“ Hier, d… | |
| ist Thum im Erzgebirge. | |
| An einem Donnerstag Ende Januar leuchten in Thum – wenn man nicht gerade | |
| auf den Feldern unterwegs ist – noch die Schwibbögen in den Fenstern, | |
| einige sind in großer Ausführung an die Außenfassaden der Häuser montiert. | |
| Über der Bushaltestelle im Ortszentrum prangt das ganze Jahr über ein | |
| Exemplar. | |
| Thum gehört zu einem alten Bergbaugebiet. Hier wird die traditionelle | |
| Weihnachtsdekoration erst ausgeknipst, wenn Anfang Februar Lichtmess ist. | |
| „Viele grüßen sich noch mit ‚Glück auf‘“, erzählt Leni, selbst allen | |
| Personen ein „Hallo“ zurufend, mit wachen Augen hinter einer unauffälligen | |
| Brille. | |
| Das sächsische Thum mit seinen 4.700 Einwohner*innen liegt nahe der | |
| tschechischen Grenze, der Bus ins 15 Kilometer entfernte Chemnitz fährt | |
| jede Stunde. Der Ort wirkt lebendig. Im Zentrum hat abends der Ratskeller | |
| geöffnet, im Schnitzer Stübl gibt es erzgebirgische Holzkunst, drei | |
| Bäckereien konkurrieren um die besten Brötchen, ein großer Supermarkt und | |
| ein Tante-Emma-Laden liegen fußläufig, und im modernen Gymnasium ist Platz | |
| für aktuell 400 Lernende. | |
| Nach der Schule in den Jugendclub | |
| Auch Leni geht hier zur Schule. Bis 14.15 Uhr hatte sie heute Unterricht, | |
| dann war sie im Jugendclub und zeigt jetzt der Reporterin ihre Stadt. Wie | |
| wächst ein Mädchen im ostdeutschen, ländlichen Raum auf? | |
| Dort im Volkshaus hat sie früher gebastelt, erzählt Leni. Ums Eck liegt der | |
| Tierpark, in dem ihre Mutter mal gearbeitet hat. Hier ist der Garten ihrer | |
| Familie mit der Meerschweinchenzucht, dort leuchten Puppenstuben in | |
| Wohnungsfenstern für die Nachbar*innen. | |
| Leni kennt Thum in- und auswendig und erzählt seit über vier Stunden aus | |
| ihrem Leben hier. Über ihre Banknachbarin und beste Freundin, die sie so | |
| akzeptiert, wie sie ist, und mit der sie Tampons unterm Tisch dealt „wie | |
| Drogen“. Über ihre Menstruationsschmerzen, die kaum auszuhalten sind. | |
| Und über ihre Lieblingsmusik: Metal. Oder besser gesagt: [1][Death Metal]. | |
| Bands, die sie hört, heißen Kanonenfieber oder Lorna Shore. | |
| ## Rammstein auf dem Weg zur Kita | |
| „Rammstein und AC/DC liefen bei meinem Vater immer im Auto auf dem Weg zur | |
| Kita, ich bin damit aufgewachsen“, erzählt das Mädchen im schwarzen Hoodie | |
| mit den vielen Aufnähern stolz. Im Juli 2023 stand die damals 14-jährige | |
| Leni in der dritten Reihe des Rammstein-Konzerts im Berliner | |
| Olympiastadion. | |
| Es war ihr zweites Konzert überhaupt, ihren Vater hatte sie vorher in der | |
| Menge verloren. Gestört habe sie das nicht. Das Publikum sei wie eine große | |
| Familie, erzählt Leni mit strahlenden Augen. Beim Konzert habe sie eine | |
| Autogrammkarte gefangen, ein Mann nahm sie ihr weg, ein anderer fragte | |
| nach: „Die hast du zuerst bekommen, oder?“ Ein paar Sekunden später habe | |
| sie ihre Karte zurückgehabt. | |
| Ein anderes Mal sei ihr auf einem Konzert so heiß gewesen, sie musste ihren | |
| Pulli aus- und das T-Shirt in ihrer Tasche anziehen. Also habe sie ein paar | |
| junge Frauen gefragt, ob sie einen Kreis um sie bilden könnten. So machten | |
| sie’s – Leni habe sich geschützt vor Blicken umziehen können. „Ich habe… | |
| positive Erfahrungen gemacht.“ Sie kennt [2][den Vorwurf, Till Lindemann, | |
| der Sänger der Band, habe mehrfach weibliche Fans missbraucht.] Eine aus | |
| ihrer Klasse habe deswegen aufgehört, Rammstein zu hören, weil sie die | |
| Vorwürfe für wahr hält. | |
| Sie will sich nicht festlegen | |
| Lenis Vater, so erzählt sie, halte die Anschuldigungen für den Auswuchs | |
| geltungssüchtiger Frauen. Er sei schon bei Rammstein-Konzerten gewesen, als | |
| die Band noch in Chemnitzer Turnhallen spielte. Leni selbst will sich dazu | |
| nicht festlegen: „Man nimmt sich zehn Artikel und in jedem steht etwas | |
| anderes drin.“ | |
| Für jede Meinung gebe es ein passendes Video, einen möglichen Link. Keine | |
| der Positionen trägt Leni mit besonderer Leidenschaft vor, wägt alle | |
| gleichermaßen ab und hält für sich grundsätzlich fest: „Ich trenne Musik | |
| vom Künstler und zu der Band gehört auch nicht nur der Sänger.“ | |
| Den härteren Musikgeschmack teilt Leni mit der Sozialarbeiterin Sina | |
| Schubert. Seit einem Jahr begegnen sich die beiden im Thumer Jugendclub | |
| regelmäßig, stehen sich nah. „Manchmal braucht Leni jemanden zum Reden, wir | |
| quatschen viel“, erzählt Schubert am Telefon. | |
| Die 34-Jährige ist hier in vier Orten für die Kinder-, Jugend- und | |
| Familienarbeit zuständig und hat den Jugendclub in Thum aufgebaut. Sie | |
| kommt selbst aus der Gegend, wollte nie hier weg, weil „wenn alle | |
| wegziehen, ändert sich nichts.“ Demokratische Bildung ist ihr ein Anliegen, | |
| in einem ihrer Projekte beschäftigen sich Jugendliche mit der | |
| nationalsozialistischen Vergangenheit direkt vor der Haustür. | |
| Seit einem Jahr hat der Thumer Jugendclub Erreichbar zweimal in der Woche | |
| geöffnet. Die Teenager wechseln dann von den Straßen- in die Hausschuhe und | |
| können im Club zusammen kochen, zocken oder quatschen. Auf Zetteln im | |
| Hauptraum hängen Ideen der Jugendlichen für 2025: eine Tischtennisplatte, | |
| eine Dartscheibe, eine Discokugel. | |
| Sina Schubert ist wichtig, dass sich die Jugendlichen hier wohlfühlen. | |
| „Dann kommt man auch miteinander ins Gespräch und kann nachfragen, wie sie | |
| die ein oder andere Formulierung eigentlich meinen“, erzählt Schubert. „Oft | |
| steckt nichts dahinter, sie übernehmen Sätze von den Eltern, aus ihrem | |
| Umfeld.“ | |
| ## Viele aus der Klasse finden die AfD gut | |
| Bei der Bundestagswahl Ende Februar gewann der AfD-Direktkandidat in Thum | |
| mit 43,7 Prozent, auf die AfD selbst entfielen 45,8 Prozent aller | |
| Zweitstimmen. Bei der U18-Wahl kurz zuvor stimmten 31,6 Prozent der | |
| Jugendlichen für die AfD – im Gegensatz [3][zum bundesdeutschen Ergebnis, | |
| in dem die Linke vorne lag]. | |
| Viele in ihrer Klasse würden die AfD für „die einzige Lösung“ halten, | |
| erzählt Leni. Sie selbst hat weder bei dieser noch bei der U18-Wahl davor | |
| mit abgestimmt, will sich auch bei diesem Thema nicht festlegen, aber denkt | |
| schon, dass die Migration ohne Papiere begrenzt werden müsse und rechte | |
| Parteien legitime Ansätze hätten. Wenn es Abend wird, sagt Leni, sei | |
| Chemnitz ein Grauen und am Hauptbahnhof fühle sie sich dann nicht wohl mit | |
| den Ausländern. | |
| Leni spricht ohne Pause, aber nicht auf die Plattwalzenart, die keine Luft | |
| für Entgegnungen oder Nachfragen lässt. Auf die Frage, ob Migration | |
| wirklich das drängendste Thema sei, schwenkt sie um. Klar, der Klimawandel | |
| sei auch ein großes, aber den würde ja keine der großen Parteien für | |
| Quatsch erklären. | |
| Auf den Hinweis, dass die AfD genau das tue und die Parteivorsitzende Alice | |
| Weidel am liebsten alle Windräder abreißen würde, überlegt Leni kurz. Das | |
| könne ja nur Getöse sein, so wie bei Trump, wohin sollte man denn allein | |
| mit dem ganzen Material von den abgebauten Windrädern? | |
| Leni verliert ihr Gegenüber beim Sprechen nie aus dem Blick, sie will | |
| keinen Streit. Die Sozialarbeiterin Sina Schubert beschreibt die | |
| Jugendliche so: „Sie gibt einem ein gutes Gefühl, gibt immer irgendwas | |
| zurück. Leni ist ein toller Mensch. Wenn ich weiß, dass sie vorbeikommt, | |
| freue ich mich.“ | |
| Lesen hat sie sich selbst beigebracht | |
| Mit sechs Jahren, so erzählt Leni es, brachte sie sich selbst das Lesen | |
| bei. Mit ihrer zehn Jahre älteren Halbschwester spielte sie immer Super | |
| Mario, aber wenn die Schwester nicht da war, musste sie ihre Eltern fragen, | |
| was da in den Sprechblasen stand. Im Spaß hätten die gesagt: Lern’s doch. | |
| Aus einer ähnlichen Motivation brachte sie sich später selbst Englisch bei. | |
| Lenis Mutter arbeitet in einer Zoohandlung, ihr Vater als freier Fotograf. | |
| Einmal die Woche geht sie mit ihm auch ins Fitnessstudio. Manchmal kommt | |
| ihr Freund aus Leipzig mit, den sie ansonsten am Wochenende besucht und | |
| wann immer es geht. | |
| Lenis Tage sind neben der Schule gut gefüllt. Leni zockt Videospiele und | |
| zeichnet zarte und präzise Bilder mit Bleistift. Ins Familienzentrum in | |
| Thum ging sie viele Jahre zum Basteln. Für Handwerkliches hat sie Talent. | |
| Mit zehn Jahren bekommt sie eine Nähmaschine und seither schneidert sie | |
| sich die Kostüme selbst für die Theatergruppe, bei der sie schon lange | |
| mitmacht. | |
| Nach dem Sommer kommt sie in die elfte Klasse. Für die Theatergruppe wird | |
| Leni dann keine Zeit mehr haben. Sie spielt auch noch E-Gitarre und füttert | |
| einen kleinen Youtube-Kanal mit harten Riffs. | |
| Schwarz statt Pink | |
| Der Song „Demons are a girl’s best friend“ von der Metal-Band Powerwolf, | |
| den sie bei Youtube teilt, passt zu ihr. Die Diamanten aus dem Originallied | |
| sind für die normalen Mädchen. Die, die Taylor Swift hören und bauchfreie | |
| Tops tragen. Leni zeigt ihren Körper nicht gerne, trägt lieber weite | |
| Klamotten, Schwarz statt Pink. | |
| Auf Instagram zog sie regelmäßig ihre selbst gebastelten Tiermasken auf. So | |
| gut gearbeitet sind die, dass sie auf Tiktok schon 6.000 Follower auf ihrem | |
| Kanal hatte. Aber sie hat den geschlossen, zu sehr habe sie das absorbiert. | |
| Und ein Mann habe sie dort belästigt. Leni achtet auf sich. Deshalb auch | |
| die Waldspaziergänge zum Runterkommen. | |
| Sozialarbeiterin Sina Schubert wird ab 1. April den Jugendclub in Thum | |
| verlassen, dann wird sie stellvertretende Leiterin eines Clubs im | |
| Nachbarort. Sie wolle sich auf einen Ort konzentrieren, keine | |
| Einzelkämpferin mehr sein, sagt Schubert. Leni hatte über ihre Schwester | |
| schon von dem Wechsel gehört, ist nicht mehr überrascht, als die | |
| Sozialarbeiterin jetzt davon erzählt. Das Reden, der Austausch, das wird | |
| Leni allerdings fehlen. | |
| Gedanklich zieht aber auch die 16-Jährige weiter. Nicht in die Ferne, | |
| sondern nach Annaberg, wo sie ihre Ausbildung zur Tierarzthelferin machen | |
| möchte. Vielleicht auch nach Leipzig, wo ihr Freund wohnt. Die weite Welt | |
| reizt Leni nicht sonderlich, große Orte wie Berlin sind ihr zu voll. Sie | |
| will in Sachsen bleiben. Auf dem Spaziergang zum Runterkommen zeigt sie am | |
| Ende noch ihre alte Grundschule, gleich fußläufig von ihrem Zuhause. „Man | |
| hatte es nicht schlecht“, sagt Leni. Aber hier in Thum, da kennt sie eben | |
| doch schon alles. | |
| 7 Mar 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Gottschalk | |
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