# taz.de -- Feminismus in der Familie: War nicht alles gut, so wie es war? | |
> Für unsere Autorin war Papa immer der Gute, Mama die Strenge – bis sie | |
> Feministin wurde und sich der Blick auf die Rollen in ihrer Familie | |
> änderte. | |
Bild: Mal nicht selbst kochen: die Autorin und ihre Mutter im Urlaub auf Gran C… | |
Ich liebe meine Spülmaschine. Jedes Mal, wenn ich ihren Startknopf drücke, | |
bin ich ihr dankbar, dass sie meine Teller und Tassen wäscht und mich damit | |
von wenigstens einer Alltagslast befreit. Umso näher war ich dem | |
Nervenzusammenbruch, als meine Bauknecht vor wenigen Wochen laut zu piepen | |
begann. Fehlermeldung, Neustart erfolglos. Allein die Vorstellung, bis zur | |
Reparatur mein Geschirr selbst waschen zu müssen, versetzte mich in Panik. | |
Dann dachte ich an meine Mutter. Als ich klein war, spülte sie nicht nur | |
ihr Geschirr mit der Hand, sondern auch das von mir, meinem Vater und | |
meinem Bruder. Jeden Tag, Jahr für Jahr. Bis sie irgendwann mit einer | |
Schiene am Handgelenk nach Hause kam. Sehnenscheidenentzündung, hieß es, | |
wegen Überlastung. Also mussten wir abwaschen, jeden Tag ein anderer. | |
Theoretisch. Als mein Vater einmal dran war, schlug er mir einen Deal vor: | |
zehn Euro, wenn ich seinen Spüldienst übernehme. „Ich habe keinen Bock“, | |
sagte er zu seiner damals vielleicht zehn Jahre alten Tochter. | |
Vor einer Weile hätte ich diese Anekdote noch als Beweis für den Witz und | |
die Schlitzohrigkeit meines Vaters verstanden. Heute hinterlässt sie ein | |
mulmiges Gefühl in meiner Magengegend – und eine vorsichtige Wut. War Papa | |
ein Macho, Mama chronisch überlastet, meine Familie ein Fallbeispiel | |
patriarchaler Rollenverteilung? Solche Fragen gehen mir immer wieder durch | |
den Kopf, seit ich vor ein paar Jahren angefangen habe, mich mit | |
[1][Feminismus] zu beschäftigen. | |
Den Anstoß dazu hatte eine toxische Beziehung gegeben, an deren Ende ich | |
ahnte: Dass ich unter diesem Mann so leide, liegt nicht daran, dass wir | |
verschiedene Vorstellungen von Beziehung haben, sondern vor allem daran, | |
dass er mich abwertete, weil ich eine Frau bin. Seitdem bin ich überzeugt: | |
Gleichberechtigung erreichen Frauen nicht, indem sie sich behaupten, | |
selbstbewusster werden oder fleißiger. Sondern indem die Gesellschaft als | |
Ganzes die strukturellen Ursachen der Benachteiligung erkennt und | |
aufbricht. | |
## Sprung in die Vergangenheit | |
Die Fragen, die sich mir infolgedessen auch zu meinen Eltern und deren | |
Partnerschaft stellten, schob ich immer wieder beiseite. Zu groß war die | |
Angst vor den Antworten, die ich finden würde, wenn ich mit meiner | |
feministischen Brille von heute auf die damalige Zeit schaute. Erst als ich | |
vor meiner streikenden Spülmaschine stand, gewann die Neugier. | |
Ich bin heute 30, meine Kindheit lag zwischen den 90er und 00er Jahren, | |
zwischen Wiedervereinigung und Griechenland-Rettung, Ära Kohl und Ära | |
Merkel. Es ist die Zeit, in der das zweite Gleichberechtigungsgesetz in | |
Kraft tritt, das die Vereinbarkeit von Familie und Beruf befördern soll, | |
1997 wird die Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Gleichzeitig werden | |
weibliche Celebrities wie Britney Spears von der Öffentlichkeit | |
fertiggemacht, Frauenzeitschriften erklären ihren Leserinnen, warum Männer | |
zum Fremdgehen neigen, und die Filmreihe „American Pie“ vermittelt einer | |
ganzen Teenagergeneration, was eine Milf ist. Das Akronym meint eine | |
Mutter, mit der man Sex haben würde – so als würden sich Muttersein und | |
Attraktivität erst einmal ausschließen. | |
Was würde passieren, wenn ich den Sprung zurück in diese Zeit nicht allein | |
unternehme, sondern gemeinsam mit meiner Mutter? Welchen Einfluss hätte das | |
auf mein Bild von ihr und auf unsere Beziehung? | |
Schauplatz meiner Kindheit ist ein 800-Seelen-Ort in Franken. Ein altes | |
Fachwerkhaus, ein großer Garten mit Apfelbäumen und Johannisbeersträuchern, | |
Seerosenteich, Terrasse, Scheune: Hier lebe ich ab 1993 mit meinem drei | |
Jahre älteren Bruder und meinen Eltern. Im Sommer steht unsere Haustür den | |
halben Tag lang offen, es riecht nach frisch gemähtem Gras oder Gülle. Der | |
Soundtrack: ein Mix aus Vogelgezwitscher, Mähdrescher und ortseigener | |
Blaskapelle. | |
Wer hier lebt, ist in der Regel einheimisch, katholisch, konservativ. Meine | |
Eltern sind nichts davon. Mein Vater kommt zwar aus Rom, kann mit dem | |
Vatikan aber nichts anfangen. Meine Mutter stammt aus einer Kleinstadt bei | |
Hannover und ist Protestantin. Er, Jahrgang 1954, bestreitet unseren | |
Lebensunterhalt mit Antiquitätenhandel, ist leidenschaftlicher Musiker und | |
heißt das Kiffen gut. Sie, Jahrgang 1960, arbeitet als Teilzeitkraft in | |
einem Hotelschwimmbad, steht auf Naturheilkunde und sonnt sich im Sommer | |
oben ohne im Garten. Unsere Erziehung fällt recht liberal aus. Statt auf | |
Druck und Bestrafung setzen unsere Eltern auf Gelassenheit und Liebe. Sie | |
sind keine Hippies, aber haben auch nichts mit dem CSU-Mindset der Nachbarn | |
zu tun. | |
„Im Vergleich zu anderen Eltern waren unsere schon progressiv“, sagt mein | |
Bruder Julian, als ich mit ihm an einem verregneten Sonntag im März 2024 | |
auf unsere Kindheitsjahre blicke. Er war sofort bereit zu dem Gespräch, wir | |
haben uns in Dresden verabredet, wo ich lebe. Julian sagt von sich selbst, | |
dass ihm Gleichberechtigung wichtig ist und er mit klassischen | |
Rollenbildern nichts anfangen kann. Trotzdem bin ich nun nervös. Muss das | |
sein? Unsere Kindheit in der Zeitung auseinandernehmen? War nicht alles | |
gut, so wie es war? Das, bin ich mir sicher, denkt auch Julian, während ich | |
ihn frage, wie er heute auf die Rollenverteilung unserer Eltern schaut. | |
„Diese Frage habe ich mir nie so grundsätzlich gestellt“, sagt er und | |
überlegt ein paar Sekunden. „In bestimmten Dingen“, findet er, „war Papa | |
halt ein klassischer Macho.“ Er habe nicht einmal gewusst, wie eine | |
Waschmaschine funktioniert. | |
Mein Bruder kann in seiner Erinnerung genauso wenig wie ich einen Vater mit | |
Putzlappen, Wäschekorb oder Staubsauger in der Hand ausfindig machen. | |
Rückblickend meint er, unser Vater hätte [2][mehr Care-Arbeit leisten | |
müssen], ergänzt aber, unsere Mutter hätte ihm wenigstens nicht | |
hinterherräumen müssen und unser Vater habe „widerspruchslos“ gekocht, we… | |
es sein musste. Während Julian diese Dinge positiv hervorhebt, denke ich: | |
bare minimum! Zu Recht kritisieren Feministinnen, wenn Männer für Dinge | |
gefeiert werden, die eben lediglich das Mindeste sind und bei Frauen für | |
selbstverständlich genommen werden. | |
## Sie schmiert Brote, sein Tag beginnt selten vor 10 | |
Bei uns kümmert sich meine Mutter damals nicht nur wie selbstverständlich | |
ums Kochen, die Wäsche und den Abwasch. Sondern auch darum, dass mein | |
Bruder und ich regelmäßig zum Zahnarzt gehen, einen Schneeanzug fürs | |
Skilager haben und ordentliche Schnellhefter fürs neue Schuljahr. Sie | |
schmiert unsere Pausenbrote, achtet auf unsere Ernährung und überlegt mit | |
uns gemeinsam, welche Fremdsprache wir im nächsten Schuljahr wählen | |
sollten. [3][Sie ist – das merke ich beim Schreiben dieser Zeilen – unsere | |
Managerin]. | |
Ein Job, der schon frühmorgens beginnt. Ob wir in der zweiten oder zehnten | |
Klasse sind: Meine Mutter wartet auf uns um 6.15 Uhr am Küchentisch, hat | |
Toast und Marmelade bereitgestellt und manchmal auch ein Glas selbst | |
gepressten Orangensaft. Mein Vater liegt währenddessen im Bett. Sein Tag | |
beginnt selten vor 10 Uhr. Das kann er sich erlauben, weil er selbstständig | |
ist – und seine Frau die Care-Arbeit übernimmt. Muss er doch einmal | |
einspringen, betrete ich nach dem Aufstehen immer mit dem gleichen Gedanken | |
die Küche: Kriegt er das hin? | |
Was nicht heißt, dass er sich keine Mühe gibt. An einem Morgen zum Beispiel | |
hat er mir eine Kiwi aufgeschnitten und gezuckert. „Warum der Zucker?“, | |
frage ich überrascht, während im Wohnzimmer der Fernseher läuft und seine | |
erste Zigarette im Aschenbecher qualmt. „Weil die doch sonst so sauer | |
schmeckt“, sagt mein Vater. Wohingegen meine Mutter, wenn ich als Kind Lust | |
auf was Süßes habe, Naturjoghurt mit Marmelade oder einen Apfel | |
vorschlägt. Mein Vater ist in solchen Momenten der Großzügige, sie die | |
Strenge. | |
Ähnlich sehen ihre Rollen aus, wenn es um unsere Haustiere geht. Als ich | |
neun Jahre alt bin, ziehen zwei Kätzchen bei uns ein. Weil sie noch nicht | |
geimpft sind, müssen sie die ersten Wochen im Haus bleiben. Stubenrein sind | |
sie noch nicht. Und so beginnt der Tag meiner Mutter in dieser Zeit damit, | |
dass sie noch vor dem Schmieren unserer Pausenbrote die Notdurft der Katzen | |
sucht und aufwischt. Wie lästig das ist, kriegt mein Vater nicht mit. Der | |
liegt ja noch im Bett. Auch wenn es in den Jahren danach darum geht, die | |
Katzen am Abend in den Garten zu schicken, weil sie im Haus nachts Bambule | |
machen, fühlt sich mein Vater nicht zuständig. „Die Katzen“, sagt er dann | |
gern, „sind euer Bier.“ | |
Damals bin ich weder irritiert noch sauer auf meinen Vater. Wäre er heute | |
noch am Leben, würde ich ihm Mackertum vorwerfen, ihn fragen, was das | |
sollte. Ob es ihm auch so geht, frage ich meinen Bruder. „Ich denke, Papa | |
war einfach ein bisschen faul“, sagt Julian, „und weniger sexistisch im | |
Sinne, dass er dachte, das alles sei Frauenarbeit.“ Ich dagegen denke: | |
Faulsein + die Frau machen lassen = sexistisch. Ob ihn das denn gar nicht | |
wütend macht? „Na ja“, sagt Julian, „es wäre schon cool gewesen, wenn P… | |
gewusst hätte, wie die Waschmaschine funktioniert.“ Ein Satz, der so absurd | |
klingt, dass wir beide laut lachen müssen. | |
Aber was war damals überhaupt Standard in Sachen Rollenverteilung? Die | |
Soziologin Jutta Allmendinger kommt in ihrem Buch „Es geht nur gemeinsam! | |
Wie wir endlich Geschlechtergerechtigkeit erreichen“ zu folgenden Zahlen: | |
Während Frauen 1992 im Schnitt fast fünf Stunden am Tag mit Hausarbeit und | |
rund zweieinhalb Stunden mit Kinderbetreuung beschäftigt waren, kamen die | |
Männer auf etwa zweieinhalb Stunden im Haushalt und gute 45 Minuten mit den | |
Kindern. Gleichzeitig lag die Erwerbstätigenquote Anfang der 90er unter den | |
Frauen fast 20 Prozent niedriger als bei den Männern. | |
Dass diese Rollenverteilung ein Ergebnis partnerschaftlicher Verhandlungen | |
war, scheint unwahrscheinlich, wenn man Emilia Roig fragt. „In den 90ern | |
war es selbstverständlich, dass die Mütter sich vorrangig um die Kinder | |
kümmern“, sagt die Politologin, die in ihrem neuen Buch [4][„Das Ende der | |
Ehe“] darlegt, wie das Patriarchat in heterosexuelle Partnerschaften | |
hineinwirkt. Emilia Roig gehört wie ich zur Generation Y, die zwischen 1980 | |
und 1995 geboren ist. Care-Arbeit und die Frage, wer diese leistet, seien | |
in diesen Jahren kein Gegenstand von Debatten gewesen, ein „Non-Thema“, wie | |
sie sagt. | |
## Sorgearbeit ist auch emotionale Zuwendung | |
Care-Arbeit bedeutet nicht nur Putzen und Pausenbrote schmieren, sondern | |
auch emotionale Zuwendung. Hier kann mein Vater in meiner Kindheit punkten. | |
Während meine Freundinnen ihre Väter nur am Abend und an den Wochenenden | |
sehen, habe ich immer Zugriff auf meinen, weil er seinen Antiquitätenhandel | |
von zu Hause aus betreibt. Wenn mir langweilig ist, gehe ich in sein | |
Arbeitszimmer und er zeichnet ein Eichhörnchen auf einem Motorrad oder | |
anderen Quatsch vor, den ich danach ausmalen kann. Wenn ich heule, weil ich | |
Streit mit einer Freundin habe, nimmt er mich in den Arm. | |
Und als ich noch zu jung bin, um die ersten Folgen „Germany’s Next | |
Topmodel“ am Abend zu Ende zu schauen, erträgt mein Vater die Sendung bis | |
zum Schluss und schreibt die Kandidatinnen, die kein Foto bekommen haben, | |
auf einen Zettel, der am nächsten Morgen auf dem Küchentisch liegt. Mein | |
Vater spielt den Clown an meinem Geburtstag und bringt mich einmal so sehr | |
zum Lachen, dass ich auf unseren Flurteppich pinkele. Er geht mit mir Eis | |
essen und auf den Flohmarkt und holt mich mit dem Auto nach der Schule von | |
der Bushaltestelle ab, die keine fünf Minuten von uns entfernt liegt. Er | |
fährt nicht nur mich nach Hause, sondern auch alle meine Freunde. | |
Auch mein Bruder hat solche Erinnerungen. „Das war bei vielen meiner | |
Freunde damals nicht so“, sagt er. Und trotzdem: Wo war unser Vater, als es | |
um den Haushalt ging, unsere Schulangelegenheiten? „Ich glaube, Papa | |
wusste, was er gut konnte“, sagt Julian. „Und was er nicht so gut konnte, | |
hat er gern abgegeben.“ Was er demnach auch gut konnte: Versicherungen | |
abschließen, grillen, Holz hacken, Regale bauen und unsere | |
Faschingskostüme designen. | |
Die Aufgabenverteilung meiner Eltern entspricht damals dem Skript vieler | |
Familien, in denen laut Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach die | |
Väter „mit Tätigkeiten zur Familienarbeit beitragen, die nicht unmittelbar | |
dringend sind“, während die Mütter in den Aufgaben festhingen, die „ein | |
hohes Maß an Dringlichkeit aufweisen“ – wie eben das Schmieren von | |
Pausenbroten oder Wegwischen von Katzenkot. Dass Schutzbach sich in ihrem | |
Buch [5][„Die Erschöpfung der Frauen“] auf heutige Paare bezieht, zeigt, | |
wie schwer es ist, mit diesen Rollen zu brechen. | |
Schwer, aber nicht unmöglich. Was, wenn sich Eltern eine gleichberechtigte | |
Rollenverteilung fest vornehmen? Besuch bei meinen Bekannten Lisa und | |
Peter. Er arbeitet 35 Stunden die Woche als Informatiker, sie macht aktuell | |
ihr Lehramtsreferendariat. Sie sind Mitte 30 und haben einen einjährigen | |
Sohn und eine sechsjährige Tochter. | |
Darauf, „alte Geschlechterrollen zu reproduzieren“, haben sie keine Lust, | |
sagt Lisa gleich zu Beginn unseres Gesprächs am Wohnzimmertisch, während | |
der Nachwuchs schon im Bett liegt. Haushalt und Kinderbetreuung seien bei | |
ihnen „relativ 50/50“ verteilt, Absprachen darüber, wer was übernimmt, | |
nicht mehr nötig. „Wer morgens den Kleinen fertig macht und in die Krippe | |
bringt“, sagt Lisa, „muss sich abends nicht noch das schreiende Bündel auf | |
dem Wickeltisch antun.“ | |
Also alles ausgeglichen? „Lisa macht alles das deutlich mehr, was man heute | |
unter mental load versteht“, antwortet Peter. „Welches Kind braucht | |
Klamotten in welcher Größe? Wann steht die nächste Vorsorgeuntersuchung an? | |
Solche Sachen.“ Er kaufe dann zwar die Klamotten und bringe das Kind zum | |
Arzt, sagt Peter, aber bis zu diesem Punkt liege die Organisation zu 90 | |
Prozent bei Lisa. Die Ursache dafür vermutet er in der Elternzeit, die in | |
beiden Fällen größtenteils seine Partnerin übernommen hat. Dadurch sei sie | |
mehr oder weniger in die Rolle der Organisatorin gerutscht, und der mental | |
load habe sich auf ihrer Seite „eingeschlichen“. | |
Mein Blick wandert zu Lisa. „Es nervt schon“, gibt sie zu. „Aber oft habe | |
ich auch keine Lust, zu sagen, was zu tun ist.“ Also tut sie es eben | |
selbst. Ein Zustand, mit dem beide unzufrieden sind. Rückblickend, erzählt | |
Peter, hätte er gern mehr Elternzeit genommen. Während der vier Monate mit | |
seiner Tochter zu Hause habe er nicht nur genossen, Zeit mit ihr allein zu | |
verbringen, sondern auch „Respekt vor Care-Arbeit“ bekommen. | |
Wie kann es sein, dass selbst solche Eltern nicht vor dem Rückfall in alte | |
Rollenbilder gefeit sind, die diesen unbedingt vermeiden wollen? Anruf beim | |
Journalisten Tillmann Prüfer, der in seinem Buch „Vatersein. Warum wir mehr | |
denn je neue Väter brauchen“ dafür plädiert, den neuen Feminismus als | |
Chance wahrzunehmen, um die männliche Rolle in der Familie neu zu erfinden. | |
„Paare sind von einer Gesellschaft umgeben, die sie in bestimmte Muster | |
hineindrängt“, sagt Prüfer. Deshalb reicht es seiner Meinung nach nicht, | |
wenn Eltern heute für sich beschließen: Wir machen es anders! Vielmehr | |
müsse sich der Rest der Gesellschaft mitbewegen. Passiert das nicht, „wird | |
es die neuen Väter nur in bestimmten Milieus geben“, sagt Prüfer. „Das si… | |
dann die, die im Prenzlauer Berg barfuß mit ihren Kindern auf dem | |
Spielplatz sitzen und in Vätercafés gehen.“ | |
Dass es vielleicht auch die Bilder in unseren Köpfen sind, die die neuen | |
Väter verhindern, legt eine 2023 in der Zeitschrift „Sex Roles“ | |
veröffentlichte Metaanalyse zum Thema mental load nahe. Als einen zentralen | |
Faktor für die Ungleichverteilung von Care-Arbeit nennen die Autoren darin | |
die Tatsache, dass diese Form von Arbeit nach wie vor als Frauenarbeit | |
eingestuft wird – und zwar von Studienteilnehmern beider Geschlechter. | |
Lastet der mental load dadurch dauerhaft auf den Schultern der Frauen, | |
führt das bei diesen zu vermindertem Wohlbefinden, emotionalem Stress und | |
Beziehungszufriedenheit, so die Forscher. Die Journalistin und Autorin | |
Teresa Bücker geht in dem Sammelband „unlearn patriarchy“ noch weiter: | |
Solange Care-Arbeit in Familien Sache der Mütter bleibt, verzichten diese | |
nicht nur auf Sehnsüchte, sondern auch auf [6][„existenzielle Ressourcen“ | |
wie Zeit], berufliche Entwicklung, Geld. | |
Doch was, wenn meiner Mutter solche Dinge gar nicht wichtig waren? Sehe ich | |
Probleme, wo gar keine sind? Ich setze mich in den Zug nach Franken. Als | |
ich meiner Mutter vor zwei Monaten am Telefon von der Idee für diesen | |
Artikel erzählt habe, schoss es direkt, wie eine Verteidigung, aus ihr | |
heraus: „Aber ich habe es doch gern gemacht!“ Ähnlich klingt sie, als wir | |
jetzt, im April 2024, zusammen in ihrer Küche sitzen. Ihre Haare sind | |
ergraut, und ihr Gesicht hat zarte Falten bekommen. | |
„Ich war damals sehr zufrieden in meiner Rolle“, sagt sie gleich am Anfang | |
unseres Gesprächs. „Aber man hat auch nichts gesagt, wenn man erschöpft | |
war.“ Dabei hätte sie „schon mehr Entlastung gebraucht“. | |
Die erste große Erschöpfung, erinnert sich meine Mutter, spürt sie, als ich | |
zwei Jahre alt bin. Die zweite, nachdem sie und mein Vater das Haus samt | |
Grundstück gekauft haben, wo wir vorher zur Miete gewohnt hatten. Neben | |
Haushalt, Kindern und Katzen muss sich meine Mutter jetzt auch um einen | |
riesigen Garten kümmern. Und weil der Kredit für den Hauskauf abbezahlt | |
werden will, muss sie mit ihren Stunden hochgehen. Eine Zeit lang arbeitet | |
sie in zwei Hotels gleichzeitig. | |
Meine Mutter nimmt mich in unserem Gespräch mit in ihren damaligen Alltag: | |
6 Uhr aufstehen, Kinder für die Schule vorbereiten, Katzen versorgen, | |
Haushalt machen, 12.30 Uhr in die Stadt fahren, Großeinkauf, 14 Uhr | |
Schichtbeginn, 22.30 Uhr zurück nach Hause, bei Schnee im Winter die | |
Zufahrt zum Haus freischaufeln, Einkauf wegräumen, Küche sauber machen, | |
vielleicht auch noch das Katzenklo. „Bis ich im Bett war, war es manchmal 1 | |
Uhr. Und dann konnte ich oft nicht einschlafen.“ Ob sie meinem Vater gesagt | |
hat, wie gestresst sie war? „Ein Mal.“ Aber da sei sie nicht zu ihm | |
durchgedrungen. „Mir hat auch die Stärke gefehlt, öfter Nein zu sagen.“ | |
Während ich meiner Mutter zuhöre, bildet sich ein Kloß in meinem Hals. | |
Tränen schießen mir in die Augen. Mein Puls rast. Nicht nur die Tatsache, | |
dass sie zeitweise so überlastet war, bricht mir das Herz, sondern vor | |
allem, dass es niemanden interessiert hat. „Es wurde damals nicht über | |
solche Themen geredet“, betont meine Mutter. „Es war selbstverständlich: | |
Die Frau macht dies, der Mann macht das.“ | |
So habe sie es gelernt in einem Elternhaus, in dem die Mutter ihre vier | |
Kinder mehr oder weniger allein großgezogen hat. Ob meine Mutter | |
Wertschätzung für ihre Care-Arbeit erfahren hat – [7][abgesehen vom | |
Muttertag]? „Nein“, sagt meine Mutter und schweigt für einen Moment. „Sie | |
wurde ja gar nicht gesehen.“ Ein Satz, der mich fertig macht. Was ich höre, | |
klingt für mich wie ein Skandal, eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. | |
Auch ich bin als Kind blind für die Care-Arbeit meiner Mutter. Was ich aber | |
sehe, ist ihre Anspannung, die ich mir damals nicht erklären kann. Zum | |
Beispiel als ich sie um einen Eintrag in mein Poesiealbum bitte. Mein Vater | |
hat sich kurz davor in dem Album verewigt, zwei Seiten lang in Schönschrift | |
mit Foto und Herzchenaufklebern. Dementsprechend gespannt bin ich auf den | |
Eintrag meiner Mutter, die das Büchlein genervt entgegennimmt und mir nach | |
fünf Minuten wieder in die Hand drückt. Das Ergebnis: Ein schlichtes „Hab | |
dich lieb!“ Ich erinnere mich nicht mehr, wie alt ich damals bin – aber an | |
meine Enttäuschung. | |
Heute sehe ich den Kontext. Als ich meiner Mutter das Poesiealbum gebe, | |
kocht sie gerade. Generell ist sie eigentlich immer beschäftigt. Den | |
Einkauf wegräumen, die Katzen füttern, den Küchentisch abwischen, das Brot | |
aus dem Gefrierfach holen. Wenn ich heute an meine Mutter denke, sehe ich | |
eine Frau, die immer in Bewegung ist, die, während sie die eine Aufgabe | |
erledigt, in Gedanken schon bei der nächsten ist. Wenn ich an meinen Vater | |
denke, ist das Bild still und er entspannt. | |
## Die dritte große Erschöpfung – der Burn-out | |
Wenn das alles nicht nur Frage des Charakters ist, sondern der Prägung: | |
Welches Bild würde ich heute abgeben, wenn ich Kinder hätte? „Ich bin auch | |
mit dem Archetyp der tollen Mutter großgeworden, die sich aufopfert“, | |
erzählt Autorin Emilia Roig während unseres Videogesprächs. „Heute denke | |
ich, es wäre gut gewesen, wenn meine Mutter auf ihre eigenen Bedürfnisse | |
besser geachtet und sie nicht als unterste Priorität behandelt hätte.“ | |
Folgt man den Worten der Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach, würde | |
das allerdings mit dem kollidieren, was der Großteil der Gesellschaft auch | |
heute noch von Müttern erwartet: permanente Fürsorge und Verfügbarkeit. | |
Dass meine Mutter mir erstmals nicht zur Verfügung steht, merke ich kurz | |
nach dem Tod meines Vaters. Ich bin damals 17 Jahre alt, und dieses | |
Ereignis offenbart die Zerbrechlichkeit unserer Kernfamilie, die kaum | |
Verwandte in der Nähe hat. Zwar schafft es meine Mutter – plötzlich Witwe | |
und Alleinerziehende –, unseren Alltag ein paar Monate am Laufen zu halten. | |
Doch dann setzt bei ihr die dritte große Erschöpfung ein – der Burn-out. | |
Konnte ich mich sonst immer zu 100 Prozent auf sie verlassen, geht es auf | |
einmal um ihre Bedürfnisse. Am Abend zusammen einen Film schauen? Geht | |
nicht, der Fernseher ist meiner Mutter zu laut. Am Wochenende einen | |
Abstecher in die Pizzeria, in der wir früher immer zu viert waren? Geht | |
nicht, meine Mutter will ihre Ruhe. Die Enttäuschung über Momente wie diese | |
lässt in meiner Gefühlswelt keinen Platz für Verständnis und setzt einen | |
großen Entfremdungsprozess in Gang. Fragt mich jemand fortan nach meinen | |
Eltern, habe ich nur meinen Vater vor Augen, den ich schon in meiner | |
Kindheit vergöttere – obwohl ich damals mehr Zeit mit meiner Mutter | |
verbringe und mich ihr eher anvertraue. | |
Emilia Roig nickt hinter ihrem Laptop, während ich ihr das erzähle. Auch | |
ihre Mutter habe in ihrer Zuneigung lange im Schatten ihres Vaters | |
gestanden. Den Grund dafür sieht die Autorin in einer misogynen | |
Gesellschaft, die Frauen herabsetze und Männer anhimmele: „Kinder verstehen | |
diese Hierarchie schon sehr früh, und deshalb wirkt sie auch in unseren | |
Beziehungen.“ | |
Laut Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach gründet die Matrophobie, | |
wie die Ablehnung der Mutter auch genannt wird, darin, dass entscheidende | |
Bereiche der Gesellschaft wie Wirtschaft oder Politik männerdominiert sind | |
und Frauen ab dem Zeitpunkt des Kinderkriegens im gesellschaftlich | |
abgewerteten Bereich der Familie verortet werden. Das mache den Töchtern | |
eine Identifikation mit ihren Müttern schwer. | |
Erst als ich in solche feministischen Theorien eintauche und erkenne, | |
welche Ungerechtigkeiten das Patriarchat für Frauen mit sich bringt, | |
bekommt meine Mutter den Platz in meinen Kindheitserinnerungen, den sie | |
verdient. Erst als ich mich mit Themen wie Care-Arbeit und mental load | |
beschäftige, erkenne ich, was sie – neben ihrer Erwerbsarbeit – alles für | |
uns getan hat. Ich sehe die saubere Wäsche, die Kinderarztbesuche, die | |
Elternsprechtage. | |
Je mehr Wertschätzung ich auf diesem Weg für meine Mutter spüre, desto | |
öfter meldet sich die vorsichtige Wut auf meinen Vater und damit auch die | |
Wut auf alle Väter, die – damals wie heute – ihren Teil der Care-Arbeit | |
nicht übernehmen. Was fange ich damit an, will ich am Telefon vom | |
Vaterexperten Tillmann Prüfer wissen. Eine konkrete Antwort hat er nicht. | |
Stattdessen versucht er es mit einem Perspektivwechsel: Stecke ein Vater – | |
anstatt in Haushalt und Kinderbetreuung – viel Zeit in seinen Job, dann sei | |
das aus dessen Selbstverständnis heraus ebenfalls Care-Arbeit. Weil er | |
denke: Ich schaffe eine Grundlage, investiere in unseren Lebensstandard. | |
„Das verstehen die Väter gar nicht als Egoismus, sondern als etwas, was sie | |
für ihre Familie tun“, betont der Autor. | |
Während des Gesprächs fällt mir dieser Perspektivwechsel schwer. Doch ein, | |
zwei Stunden später erinnere ich mich an den sorgenvollen Blick meines | |
Vaters, als unsere Waschmaschine kaputt ist und eine neue her muss, als die | |
Bank ihm keinen Kredit gibt für das Auto, das wir brauchen. Ich erinnere | |
mich, wie er sich in seinen letzten Jahren bis spätabends abmüht, seine | |
Antiquitäten auf Ebay zu verkaufen, weil das Geschäft im Laden nicht mehr | |
läuft. Wie er selbst dann noch den Tag durcharbeitet, als er bereits schwer | |
krank ist. Obwohl es niemand ausspricht und meine Mutter auch Geld | |
verdient, scheint damals klar: Unseren Lebensstandard halten muss mein | |
Vater, und zwar allein. „Wenn wir jetzt also wütend sind auf unsere Väter�… | |
sagt Tillmann Prüfer, „dann lohnt oft ein Blick auf das nie ausgesprochene | |
Leid auf deren Seite.“ | |
Mehr als 20 Jahre sind seit meiner Kindheit im fränkischen Dorfidyll | |
vergangen. Seitdem ist etwas in Gang gekommen, sind Diskussionen über | |
Care-Arbeit und neue Väter entstanden. Mit Folgen? Laut Soziologin Jutta | |
Allmendinger verbrachten Frauen 2016 im Vergleich zu 1992 am Tag zwar rund | |
zwei Stunden weniger mit Haushalt und Kinderbetreuung. Allerdings nicht, | |
weil die Männer plötzlich mehr machten, sondern weil die Frauen selbst mehr | |
Erwerbsarbeit leisteten und damit weniger Zeit hatten für Care-Arbeit. „Von | |
Veränderung keine Spur“, konstatiert Allmendinger ernüchtert. Und auch die | |
Zahlen des letzten [8][Gleichstellungsberichts der Bundesregierung], wonach | |
der Gender-Care-Gap 2022 immer noch bei 44,3 Prozent lag, zeigen: Der Weg | |
bis zur gelebten Gleichberechtigung ist noch weit. | |
Und was können wir bis dahin tun? Zum Beispiel die Leistung der Mütter | |
nachträglich anerkennen – als „Korrektiv“, wie Emilia Roig sagt. Denn es | |
sei zwar normal gewesen, dass diese sich „stillschweigend erschöpft und | |
aufgeopfert haben, aber nicht richtig“. | |
Doch wie sieht so eine nachträgliche Anerkennung aus? Vor dem Gespräch mit | |
meiner Mutter habe ich lange überlegt. Ein Brief, ein Geschenk? Als wir uns | |
am Küchentisch gegenübersitzen, bin ich mir auf einmal sicher. Ich will | |
Danke sagen, und zwar ein einfaches, aufrichtiges Danke. Kein | |
Muttertags-Danke, das ich früher auf Karten geschrieben oder bei Whatsapp | |
getippt und am nächsten Tag wieder vergessen habe. Sondern eines, in dem | |
die Trauer darüber steckt, dass die Leistung meiner und so vieler anderer | |
Mütter viel zu lange nicht gesehen wurde. | |
„Danke“, sage ich also zu ihr, während mir die Tränen übers Gesicht lauf… | |
Und während auf ein Danke normalerweise ein Bitte folgt, erscheint das, was | |
meine Mutter stattdessen antwortet, ganz logisch: „Danke.“ | |
2 Jun 2024 | |
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Tradwives inszenieren auf Instagram ein Frauenbild, das an die | |
Fünfzigerjahre erinnert. Das Hausfrauen-Dasein wirkt leicht – aber auch | |
realitätsfern. |